Der Stadtrand von Engels in den letzten Augusttagen des Jahres 1941. Irgendwo in weiter Ferne herrscht Krieg, aus dem Lautsprecher kommen besorgniserregende Mitteilungen, es gibt Fliegeralarm zu Übungszwecken, die Bevölkerung lernt, wie man Gasmasken benutzt. Die Menschen stehen in langen Schlangen nach Brot an, es gibt Probleme mit den Lebensmitteln. Der Alltag zu Kriegszeiten, in denen auch unsere Familie lebt, gestaltet sich schwierig.
Am 1. September hätte ich in die Schule gehen sollen, in die zweite Klasse. Aber dann kam die Zeitung mit dem Ukas über die Aussiedlung der Deutschen aus den Wolga-Rayons herauskam, und für uns, wie auch für alle anderen Russland-Deutschen, begann eine völlig neue Zeitrechnung. Ein Mann in halber Militäruniform kam zu uns, registrierte unsere Familie und teilte uns den Zeitpunkt mit, wann wir auf den Zug verladen würden und welche Nummer unser Waggon hätte.
Später der Bahnhof, wo die Menschen in „Kälber“-Waggons (Viehwaggons; Anm. d. Übers.) verladen wurden, und dann die zwei Wochen dauernde Fahrt nach Sibirien, durch die Hitze der mittelasiatischen Landstriche. Ins Taigadorf wurden wir dann schon mit Fuhrwerken gebracht. Bald darauf wurden die Eltern in die Trudarmee geholt, zur Holzfällerei; der Vater kam in die Lager des WjatLag, die Mutter in die damalige burjatische Mongolei. Na, und ich schlug mich in Kinderheimen in Sibirien und des Urals durch.
Das Kriegsende traf mich in der Serowsker Kindersammelstelle. „Jetzt wird endlich alles anders sein, ich werde die Eltern wiedersehen“ – freute ich mich. Aber nichts wurde „anders“ – mir standen noch weitere Kinderheimjahre bevor, anschließend Kasachstan und die Jahre unter dem Regime der Sonderkommandantur. Und meine Mutter sah ich erst weitere acht Jahre danach wieder – 1953 brachte man sie „zur Wiedervereinigung mit dem Sohn“ unter Wachbegleitung von Ulan-Ude nach Karaganda.
Als ich nach Kasachstan geriet (1948), war ich gerade sechzehn Jahre alt geworden und wurde von der Sonderkommandantur registriert und unter deren Aufsicht gestellt. Sie sagten mir, dass ich nun auf ewig hier bleiben müsste und dass ich diese ganze „Ewigkeit“ lang unter der Bedrohung leben würde, mit „zwanzig Jahren Zuchthaus“ bestraft zu werden. Jeden Monat sollte ich mich einmal „melden“, aber nachdem sie mich, den Schüler, zum sogenannten „Zehnhäuser-Aufpasser“ ernannt hatten, musste ich wöchentlich dorthin.
Für mich, einen Jugendlichen, bedeutete das eine tiefe Erschütterung – schließlich war der Krieg bereits drei Jahre zuvor zu Ende gegangen, selbst feindliche Kriegsgefangene, die Menschen umgebracht hatten, wurden, wie die Zeitungen schrieben, bereits nach Hause entlassen, während sie mich, genau wie alle anderen Russland-Deutschen, friedliche Bürger ihres Landes, auch weiterhin für irgendetwas verfolgen, sie ihrer Rechte berauben und Menschen zweiter Klasse aus ihnen machen.
Diese seelische Erschütterung hat mich mein Leben lang nicht mehr verlassen. Und die nachfolgenden Jahrzehnte lebte ich in dem Bemühen zu beweisen, dass ich keineswegs ein Mensch zweiter Klasse war.
Was gibt es über mich zu sagen? Nachdem ich an sechs verschiedenen Schulen zum Unterricht gegangen war (die erste Klasse im Wolgagebiet, dann in Sibirien, dem Ural, in Kasachstan), hatte ich die mittlere Schulbildung erreicht. Aber sie schien umsonst zu sein, denn an den Instituten wurden wir nicht aufgenommen, und so musste ich mich für den Besuch des Technikums entscheiden. Den Versuch ans Technikum zu gelangen, unternahm ich bereits nach der siebten Klasse. Ich absolvierte mit Erfolg die Aufnahmeprüfung, aber bei dem anschließenden persönlichen Gespräch jagten sie mich fort: „Wir werden hier keine Deutschen aufnehmen“.
Ich schickte meine Papiere ans Technikum im Koktschetawsker Gebiet, aber man sandte sie mir zurück. Nur in Karaganda, wo es in den Schachtanlagen an Spezialisten mangelte, war es mir möglich, mich beim Bergbau-Technikum einzuschreiben, und nachdem ich dort meinen Abschluss gemacht hatte, besaß ich nun schon eine mittlere technische Ausbildung. Später, als ich bereits eine eigene Familie besaß, beendete ich die Abendkurse am Bergbau-Instituts. Ich verteidigte in Moskau meine Doktorarbeit und unterrichtete am Polytechnischen Institut als Dozent.
Viele Jahre war ich berufstätig – anfangs in Schachtanlagen, dann am Institut für Projektierung, wo ich meinen Weg vom jungen Techniker bis zum Vize-Präsidenten einer der größten Projektierungsfirmen in der Sowjetunion ging. Wir befassten uns mit der Kohleindustrie Kasachstans und Mittelasiens sowie den von uns geschaffenen Unternehmen, unter denen es einige weltweit ganz einzigartige gab, die auch heute noch erfolgreich in Betrieb sind.
Ich war kein Parteimitglied und „Deutscher“, aber die Behörden waren „gezwungen“ mich als Spezialisten anzuerkennen – ich bin im Besitz staatlicher Auszeichnungen, der Medaille „Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR“, des Abzeichens für „Ruhmreiche Schachtarbeiter“ (aller drei Klassen), „Ehrbarer Mitarbeiter der Kohleindustrie“ und Laureat der Staatsprämie der UdSSR.
All das erzähle ich, um zu zeigen, dass nicht alle Deutschen, deren Kindheit in die Zeit der Repressionen fiel, an den Erschwernissen jener Jahre zerbrochen sind. Ich erinnere mich daran, wie die deutschen Schachtarbeiter während meines Studentenpraktikums nicht glauben konnten, dass ich Deutscher war und – Student. Und einmal rief mich ein unbekannter Mann an und meinte: „Gibt es noch einen weiteren Deutschen aus unseren Reihen, der es geschafft hat sich durchzusetzen?“
Seit jenem Tag, als der „Ukas vom 28. August“ auftauchte, sind mittlerweile siebzig lange Jahre vergangen. Im Gedächtnis steigen die spärlichen Berichte des Vaters über die ersten Jahre in der Trudarmee auf, als in ihrem Lager viele Menschen umkamen und man die Toten (bis zum Frühjahr) draußen aufstapelte, die Erinnerungen der Mutter über die Tragödie der mobilisierten Frauen, die gezwungen waren, irgendwo ihre Kinder abzugeben, sofern sie „älter als drei Jahre“ waren. Und auch ich selbst erinnerte mich an die jahrzehntelangen Repressionen, welche „grundlos Beschuldigte“ (wie sie später von den Behörden selber genannt wurden) durchmachen mussten, und an die Russland-Deutschen, die für irgendetwas eine derartige Bestrafung erfuhren.
Die Zeit verrinnt, viele Zeugen der damaligen Zeit sind heute schon nicht mehr am Leben. Es ist unsere Pflicht, dieser Tragödie der Russland-Deutschen zu gedenken und die Erinnerung an sie an die zukünftigen Generationen weiterzugeben.
August 2011