Vor dem Krieg lebten wir in Engels, der Hauptstadt der Republik der Wolga-Deutschen. Die Eltern hatten beide eine Arbeit, bei der es häufig vorkam, dass ich als sechsjähriges Jungchen allein zu Hause zurückblieb. Aber ich kannte keine Langeweile – ich las und betrachtete ausgiebig Kinderbüchlein, nahm mechanisches Spielzeug auseinander und fügte es anschließend wieder zusammen oder spielte mit unserem Schoßhündchen Tscharlik. Und jeden Morgen, immer zur gleichen Zeit, ertönte aus dem an der Wand angebrachten Lautsprecher Musik, es erklangen fröhliche Stimmen – die Kindersendung begann. Ich lauschte und versuchte zu verstehen, wovon sie dort sprachen, worüber sie lachten, ich hielt sogar das Ohr ganz dicht an die schwarze Scheibe. Aber alles war umsonst – sie sprachen dort eine Sprache, die ich nicht verstand.
Jetzt weiß ich, dass es sich dabei um richtige (literarische) deutsche Sprache handelte, während wir uns im uralten wolgadeutschen Dialekt unterhielten. Aber fast alle Deutschen der Republik benutzten diesen Dialekt, vor allem in ländlichen Gegenden. Verstanden sie denn genau so wenig wie ich, was der schwarze Teller ihnen sagte? Er rief sie herbei in eine „helle Zukunft“, und sie erfuhren das offenbar überhaupt nicht?
***
Irgendwann in den 1950er, 1960er Jahren drangen Gerüchte durch, dass einer von unseren Deutschen nach Deutschland ausgereist war. Viele glaubten nicht daran, sondern waren der Meinung, dass das nur leeres Gerede war. Als mein Vater mir davon erzählte, meinte er, dass er nicht nach Deutschland fahren wolle. Beim Bäumefällen in der Trudarmee musste er unweit von deutschen Kriegsgefangenen arbeiten, die sich vor Lachen nur so bogen, als sie ihre Gespräche in wolgadeutschem Dialekt hörten.
„Ich möchte nicht dort leben, wo sie über mich lachen müssen“, - sagte er.
So stolz war er auch im Leben.