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Jacques Rossi . Albinas

Diese Erzählung sowie die Zeichnung schickte uns aus Frankreich Jacques Rossi, der Autor des „GULAG-Handbuches“. Zehn Jahre lang war er Geheimagent der Komintern, 1937 wurde er verhaftet. 20 Jahre verbrachte er in Gefängnissen und Lagern. Im Jahre 1957 kam er in Freiheit und reiste zehn Jahre später nach Frankreich aus.

Jacques ROSSI

Albinas

Albinas war vierzehn Jahre alt, als wir uns in Sibirien begegneten, in dem riesigen Krasnojarsker Durchgangsgefängnis. Man hatte ihn „wegen Banditentums“ zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Es kam das Jahr 1949. Die Litauer versuchten damals schon, den sowjetischen Okkupanten Widerstand zu leisten.

Er erzählte, daß eine Einheit von Soldaten der Roten Armee auf ihren Bauernhof gekommen wäre. Sie hätten ein Fuhrwerk hinter sich hergezogen, in dem etwas Längliches, Unbewegliches lag – zugedeckt mit einer Decke. Eine Leiche vielleicht? Ein Offizier betrat das Haus in Begleitung von drei bewaffneten Soldaten.

- Wo ist der Alte? – wandte er sich an die Mutter.

Sie wurde kreidebleich, blickte um sich, und war nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Der Leutnant blieb ganz ruhig und fragte beharrlich weiter.

- Ich nicht wissen – Er wegfahren ... Weit ... – murmelte die Mutter in gebrochenem Russisch. Vier kleine Kinder, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, klammerten sich an den Rock der Mutter. Nijole, Albinas’ zwölfjährige Schwester stand neben dem Bruder.

- Trinken! – brüllte der Offizier völlig unvermittelt los. Die Mutter verstand nicht.

- Wodka! – Dieses Wort war jedem Litauer ein Begriff. Sie begab sich mit den Kindern ins Nebenzimmer und kehrte mit einer Flasche in den Händen zurück. Nachdem sie alles ausgetrunken hatten, wurden die Russen fröhlich. Der Leutnant gab irgendeinen Befehl. Zwei Soldaten rannten in den Hof, zogen den Inhalt des Fuhrwerkes ins Haus und pflanzten ihn auf den Tisch. Es schien wirklich eine Leiche zu sein. Der Offizier entfernte die Decke.

- Da kannst du dir zu deinem Ehemann gratulieren ...

Albinas sah die geschwollenen Knochen, Gehirnmasse, Blut – alles, was von seinem Vater übriggeblieben war. Die Mutter starrte, als ob sie gleich den Verstand verlieren würde, vor sich in die Luft, mit Augen, die nicht sahen.

Einer der Russen zog eine Mundharmonika aus der Tasche. Durch das Zimmer erschollen die stürmischen Klänge eines Kosakentanzes. Die Soldaten durchwühlten das ganze Haus und fanden noch mehr Wodka.

- Tanzt! – befahl der Leutnant. Die Mutter stand unbeweglich, mit geistesabwesendem Blick. Da zog er seine Pistole, schoß in die Decke, zielte danach auf die kleine Nijole:

- Ihr sollt anzen, ihr Hundebrut!

Albinas wußte selber nicht, wie lange sie tanzen mußten – die Mutter, er, Nijole. Und ganz plötzlich fanden sie sich alle drei in dem Karren wieder, direkt neben dem Vater.

Kurz darauf wurden sie verurteilt. Das nahm nicht mehr als ein paar Minuten in Anspruch – genau so lange, wie man brauchte, um einen Stempel auf ein Stück Papier zu drücken: Nijole bekam fünf Jahre Zwangsarbeit, Albinas – fünfzehn Jahre. Die Mutter wurde zu zwanzig Jahren verurteilt. Alle drei – „wegen Banditismus“.

Zeitschrift „Soglasie“, No. 24 vom 11.06.1990


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