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M.W. Salomatow. Erinnerungen an den Vater Wassilij Alexandrowitsch Korostelew

Erinnerungen an den Vater, Wassilij Alexandrowitsch Korostelewo, geboren 1881 als Sohn eines Mittelbauern in dem Dorf Sosnowka, Kreis Irbej, Region Krasnojarsk

Mein Vater, Wassilij Alexandrowitsch Korostelew, der weder lesen noch schreiben konnte – war der Sohn des Bauern Alexander Aksjonowitsch Korostelew, in dessen Familie es drei Söhne und zwei Töchter gab: Michail, Natalja, Wassilij, Warwara und Fjodor.

Der Vater mußte schon früh mit der schweren, landwirtschaftlichen Arbeit anfangen, vielleicht sogar mehr und viel früher schuften als seine Brüder und Schwestern. Die Eltern des Vaters meinten, daß er damals zwar noch nicht sehr alt war, aber dafür groß und kräftig, und deshalb gaben sie ihm viel schwerere Aufträge zur Erledigung der bäuerlichen Arbeiten. Insbesondere beauftragte ihn der Vater (mein Großvater) im Alter von 12-13 Jahren allein mit zwei Pferden zum Heuholen zu fahren; als er 15 Jahre alt war, fuhr er bereits ganz allein mit drei Pferden. Man mußte soviel auf den Schlitten legen, wie ungefähr eine Fuhre Getreide wog, so etwa drei Zentner. Na und dazu brauchte man Kraft, Geschick und Köpfchen, daß man das Getreide allein vom Schober auf den Schlitten legen konnte. Mit Hilfe eines bastrik (das ist ein Birkenholz-Stamm von etwa dreieinhalb Metern Länge und einem Durchmesser von 10-15 cm) mußte man alles festbinden, ein Ende an einen Strick hängen, der vorn am Schlitten angebunden war, und dann das Seil am zweiten Ende des Stockes festhaken, und dazu mußte man das Seil so weit zusammenschnüren, daß das Heu ganz strammgezogen war, damit die Ladung während der Fahrt nicht herunterfiel.

Wie es damals Sitte war, verheirateten die Eltern meinen Vater sehr früh; sie fanden für ihn eine Frau und für sich eine Schwiegertochter in dem Dörfchen Kosyl, Kreis Irbej, das von Korostelewo 20 km entfernt lag; sie hieß Elisabeta. Schon früh wurden Kinder geboren - aus der gemeinsamen Ehe gingen insgesamt vier hervor: ein Junge - Sachar, und drei Schwestern - Uljana, Kapitalina und Paraskowja. Nach Erzählungen seines Bruders und der Schwestern lebte der Vater einträchtig mit seiner Frau zusammen; die Eltern waren sehr zufrieden, daß ihr Sohn ein ordentliches, anständiges, arbeitssames und freundliches Mädchen aus einer guten Familie geheiratet hatte. Die Schwiegereltern waren ebenfalls zufrieden mit ihrem Schwiegersohn und erwähnten dies nicht nur einmal lobend bei irgendwelchen Feiertagen vor allen Leuten.

Alles verlief normal bis zum Beginn des I. Weltkrieges. Sobald er ausgebrochen war, wurde der Vater sogleich in die Armee einberufen und nach einer kurzen Ausbildung in Kansk an die Front geschickt. Er kämpfte, erhielt für seine Tapferkeit und seinen Wagemut zwei "Georgsmedaillen"; auch seine Frontkameraden schrieben über seine Tapferkeit Briefe nach Hause, und obwohl Briefe nur sehr selten beim Empfänger ankamen, so erreichten sie doch dieses abgelegene, weit entfernte sibirische Dorf.

Irgendwann im Jahre 1915 bekamen die Eltern und seine Frau plötzlich keine Post mehr von ihm. Acht Monate später kam ein Schreiben mit der Mitteilung, daß der Soldat W.A. Korostelew im Nahkampf schwer verwundet und in Kriegsgefangenschaft geraten war. Das war in Polen geschehen, am linken Ufer des Bug. Nach diesem Ereignis blieb das weitere Schicksal des Vaters im Ungewissen.; die Eltern und seine Frau fragten sich, wo er sich aufhielt, was mit ihm geschehen war, aber es kamen keinerlei Nachrichten mehr von ihm. Erst als er nach Hause zurückkehrte, erst da erfuhr man aus seinen Erzählungen, was er dort in der Gefangenschaft bei den Deutschen durchgemacht hatte.

Ein Mensch, der es von Geburt an gewohnt war, auf dem Lande zu arbeiten, der unermüdlich und fleißig dort geschuftet hatte, wurde plötzlich auf die deutsche Ersatz-Ration gesetzt – Brot, Wassersuppe und höllische Schwerstarbeit im Schacht. Der Vater war zu der Zeit, als er in Kriegsgefangenschaft geriet, bewußtlos. Nach seiner Genesung arbeitete er im Schacht. Die Deutschen bewachten das Lager besonders scharf, wobei sie die neuesten Methoden anwandten. Die Menschen wurden systematisch geprügelt und beschimpft. Und einmal, als er den Hohn und Spott nicht mehr ertragen konnte, leistete der Vater den Wachmannschaften gegenüber körperlichen Widerstand. Wie sich das genau äußerte, weiß ich nicht, aber er berichtete, daß er nach diesem Vorfall dreimal mit hocherhobenen Händen aufgehängt wurde; anschließend ließ man ihn einige Tage in einer Art Beton-Sarg stehen, und von oben tropfte die ganze Zeit kaltes Wasser auf den Kopf. Und das ging so mehrere Tage und Nächte hindurch.

Einmal, als derartige Strafmaßnahmen vorbei waren, beschloß eine Gruppe völlig erschöpfter und entkräfteter Kriegsgefangener zu fliehen. Die Flucht schien erfolgreich, es gelang ihnen rechtzeitig auseinanderzugehen und sich in verschiedene Richtungen zu zerstreuen. Nachdem der Vater, wie es ihm schien, bereits eine große Entfernung vom Lager zurückgelegt hatte, nahm er all seinen Mut zusammen, ging zu einem Bauern, einem Landbesitzer, und erzählte ihm alles mit Hilfe von ein paar deutschen Worten, und jener ließ den Vater dann bei sich arbeiten. Es war gerade Erntezeit, und so konnte der Bauer kostenlose Arbeitskräfte dringend gebrauchen.

Hier arbeitete der Vater unter vollem Einsatz seiner Kräfte, genau so, wie er es auch zuhause getan hatte, denn zum Glück gab ihm der Hausherr gut zu essen. Lohn bekam der Vater für seine Arbeit nicht, aber seine abgetragene Kleidung wurde rechtzeitig ausgewechselt und auch das Schuhwerk gegen ein anderes ausgetauscht, das aber auch schon gebraucht war. Das ging etwa vier Monate so; dem Vater kam es vor, als ob die Lagerleitung längst die russischen Kriegsgefangenen vergessen hatte und es angeblich schon keine Gründe mehr für besondere Vorsichtsmaßregeln gab. Aber plötzlich geschah etwas Unerwartetes: zum Hausherrn kam ein deutscher Offizier in Begleitung mehrerer Soldaten und unterhielt sich eine Weile mit ihm. Der Vater konnte inzwischen schon ganz gut deutschen Gesprächen folgen. Der Offizier sprach mit dem Hausherrn ganz ruhig, und es dauerte auch nicht sehr lange. Anschließend ging der Hausherr auf den Vater zu und sah ihm in die Augen, sagte jedoch nichts, sondern ging in das Gebäude und holte neue Kleidung: eine Hose, ein Jackett, eine deutsche Joppe aus grober Wolle, eine Schirmmütze und neue Stiefel. Während der Vater sich ankleidete, hielt sich der Offizier im Speisezimmer auf und trank dort hausgemachtes Bier, und die Soldaten schlummerten draußen im Schatten, ausgestreckt im warmen Herbstgras. Das Pferd des Offiziers stand unter dem Vordach, ein wenig abseits von den Pferden der Soldaten; es sah etwas wohlgenährte aus als die anderen und konnte offenbar auch schneller laufen. Der Hausherr rief den Vater noch einmal zu sich und bedeutete ihm durch Gestikulieren, das Pferd des Offiziers zu besteigen. Die kleine Pforte stand bereits offen, und die Zügel lagen auf dem Sattel. Blitzschnell schwang sich der Vater auf das Pferd, und in dem Augenblick, als der Vater losreiten wollte, griff der Hausherr nach ihm, klatschte in die Hände und sprach in einwandfreiem Russisch: „Auf Wiedersehen, Wasja. Ich wünschte ich wäre in Rußland“.

Nach ein paar Tagen, vielleicht auch Wochen, fand sich der Vater in Italien wieder, wo er in einer der Städte Arbeit als Schauermann im Hafen fand. Später wurde er mit irgendjemandes Hilfe auf einem Schiff eingestellt, das hauptsächlich nach China und Korea fuhr – und sogar nach Wladiwostok.

Es war im Herbst des Jahres 1920. Ein Mann kam zum Vater, nannte ihn beim Vaters- und Familiennamen und sagte ihm, daß dies sein letzter Arbeitstag wäre, und daß er sich morgen, gut gekleidet bei einer anderen Anlegestellte einfinden sollte. Am nächsten Tag begab sich der Vater zur besagten Zeit an den Schiffsanleger, wo ihn ein ihm vollkommen unbekannter Mann abholte und ihm einen persönlichen Ausweis aushändigte, der jedoch nicht auf seinen Nachnamen ausgestellt war: darin stand, daß der Vater sich auf einem anderen Dampfer einschiffen sollte. Man ließ den Vater ungehindert auf das Schiff, das schnell vom Ufer ablegte. Aus Unterhaltungen und dem Stand der Sonne wurde dem Vater klar, daß sie Richtung Norden fuhren. Zehn Tage später, vielleicht auch mehr, kam das Schiff im Hafen von Gdingen an. Hier erfuhr er dann, daß sie nach Polen gekommen waren.

Unter großen Mühen mußte er bis nach Warschau fahren, und hier im Zug traf er alle, die in Italien an ihn herangetreten waren, sprach mit ihnen – sie alle fuhren bereits in die Heimat zurück. An die Erzählung des Vaters darüber, wie sie die Grenze überquerten, kann ich nicht mehr erinnern, aber ich weiß, daß der Vater sagte, sie wären früh am Morgen in Rußland angekommen, das heißt also, daß sie die Grenze nachts überschritten haben mußten. Es dauerte unendlich lange und kostete große Mühe, bis er endlich bis nach Sibirien gekommen war, bis nach Kansk-Jenissejsk. Von dort gelangte er auf Pferden, die in dieselbe Richtung liefen, in die Ortschaft Chomutowo: sie fuhren auf dem Fluß Kan, durch zahlreiche Dörfer – es war Winter, und man mußte in den Dörfern übernachten. Wenn sie fuhren, dann halfen die Männer dem Vater vor dem Frost Schutz zu suchen: er war ja nur mit einer Matrosenjacke und einer Tellermütze bekleidet, und an den Füßen trug er – Schnürschuhe.

Am späten Abend traf der Vater zuhause ein. Man hatte ihn nicht erwartet, obwohl sein Vater und seine Mutter nicht geglaubt hatten, daß er an der Front gestorben sein könnte. Seine Frau war nicht daheim. Auf die Frage nach ihrem Verbleib antwortete sein Vater, daß sie mit ihren Eltern nach Kozyl gegangen sei. Aber später erfuhr der Vater dann die Wahrheit aus dem Munde seines Vaters, der seinem Sohn nicht schon am Tag seiner Ankunft die Laune hatte verderben wollen.

Es war so, daß sich die Weiß-Tschechen, als sie nach Osten zurückwichen, einige Tage in Korostelewo aufgehalten hatten. Dieses Dorf lag auf der anderen Seite des Kan. Der Vater erzählte seinem Sohn, daß seine Schwiegertochter lange Zeit auf ihn gewartet, dann aber beschlossen hatte, mit den Weiß-Tschechen mitzugehen, nachdem sie den Eltern des Vaters gesagt hatte, daß sie nach Wladiwostok wollte, um ihren Mann Wasja ausfindig zu machen, daß es gelegentlich Fälle gab, in denen welche über Wladiwostok aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückkamen. Aber das war eine absichtliche Täuschung gewesen. Sie war auf immer und ewig mit den Weiß-Tschechen davongefahren und hatte vier Kinder zurückgelassen – in aller Heimlichkeit vor ihren Eltern, die von alldem überhaupt nichts wußten. Als sie die Kinder im stillen verließ, da rannten die beiden älteren, ein Junge und ein Mädchen, hinter ihr her (es war mitten in der Nacht), aber einer der Weiß-Tschechen begann mit der Reitpeitsche auf sie einzuschlagen, so daß die Kinder schreckliche Angst bekamen. Später, Anfang der 1930er Jahre, starben beide an Epilepsie.

Nach einiger Zeit schickte die Ehefrau dem Vater aus Wladiwostok eine Fotografie und schrieb, daß sie nach Hause zurückkäme, falls sie nicht mit einem Militärzug nach Amerika führe. Und so blieben die vier Kinder Waisen. Es war für den Vater sehr schwer, das alles zu ertragen, er ergab sich sogar der Trunksucht, aber unter dem Einfluß seiner Eltern gewann er wieder eine gewisse Selbständigkeit, fand seine Willenskraft wieder, kam zur Vernunft und heiratete nach einem Jahr zum zweiten Mal: meine Mutter, deren Mann im Krieg umgekommen und die mit drei Kindern zurückgeblieben war. So, wie sich die beiden einfachen Leute gleich gut verstanden, so lebten sie auch bis zu jener verhängnisvollen Trennung friedlich und in Freundschaft.

Vater sagte, daß die am meisten positive Rolle in seinem Schicksal der deutsche Bauer gespielt hatte. Er war, so schien es, der leibliche Bruder des Kompagnie-Kommandeurs, in dem der Vater diente. Der Vater hatte dem Bauern erzählt, wie er in einem der Gefechte den Kommandeur des Truppenteils vor dem wahren Tode gerettet hatte, indem er seinen Familien,- Vor- und Vatersnamen ausrief. Trotz der Verwundung, die er erlitten hatte, blieb der Kommandeur am Leben, und der Vater trug ihn vom Schlachtfeld – wofür er das erste „Georgskreuz“ erhielt.

Später geriet der Kommandeur ebenfalls in Gefangenschaft, aber der Vater sah ihn nicht und nahm an, daß dieser schon früher als der Vater hier angekommen war. All das keimte hier, in Sibirien, in der Heimat, wieder in der Erinnerung auf, als der Vater einen Mann wiedertreffen mußte, mit dem er auf dem gleichen Schiff aus Italien abgefahren war, und mit dem er später, in Rußland, in demselben Zug gesessen hatte.

Als mit der Gründung der Kolchosen begonnen wurde, da traten die Eltern in die Kolchose ein. Der Vater arbeitete im Winter als Pferdepfleger. Im Sommer hütete er die Kühe der Kolchosbauern; ich fing zu der Zeit bereits an ihm zu helfen und hielt mich bei ihm als Hirtenjunge auf. Die Kolchose nannte sich „1. Mai“ und lag in dem Dorf Sosnowka. So lebten wir bis zum Anfang des Jahres 1938.

Am 10. Februar 1938 wurde der Vater verhaftetet. Zuerst sperrten sie ihn im Gebäude des Dorfsowjets ein. Sie erlaubten uns nicht, den Vater zu sehen; in der Nacht verschleppten sie ihn heimlich nach Irbej, und niemand sagte uns, weshalb und warum er verhaftet worden war. Sie drohten uns nur, daß es, wenn wir zu neugierig wären, nicht mehr lange dauern würde, bis sie auch uns, nach unserem Vater, „dem Volksfeind“, einsperren würden. Und sie sagten: es ist besser, wenn sie jetzt schweigen. Darum bemühte sich besonders eifrig der Vorsitzende des Dorf-Sowjets Bojko. Danach beleidigte er meine Mutter und ihresgleichen nicht nur einmal mit verschiedenen Schimpfwörtern, sondern wandte sogar gegenüber den Ehefrauen von Verhafteten körperliche Gewalt an. Die Methoden, die sie dabei gegenüber Ehefrauen und Kindern der Verurteilten anwandten, waren so grausam, daß sie sich kaum von denen der Faschisten unterschieden.

Dort gab es nicht nur diesen Iwan Bojko, den Vorsitzenden des Dorf-Sowjets, sondern auch andere – Iwan Tscherwjakow, welcher „der hinkende Iwan“ genannt wurde, und Andrej Kobotko, der Förster, der versuchte – und ein paarmal gelang ihm das auch – für das Hacken von Brennholz Geld zu nehmen. Eben diese drei hatten den Vater denunziert, der ganz und gar unschuldig war. Er konnte überhaupt nichts Schlechtes über jemanden sagen, weder über Erwachsene, noch über Kinder.

Vor dem Krieg gab es zahlreiche Gerüchte bezüglich des weiteren Schicksals meines Vaters. Die einen meinten als Augenzeugen, daß, als man die Häftlingskolonne von Irbej nach Kansk getrieben hatte, dem Vater beim Heruntersteigen von einem Berg ganz in der Nähe von Kansk, so schlecht geworden sei, daß er nicht weiter hätte fortbewegen können. Sie hätten ihn ergriffen und erschossen. Davon erzählten uns Leute, die der Kolonne mit den Verhafteten hinterher gefahren waren, weil man um sie nicht hatte herumfahren können.

Es gab auch anderslautende Gerüchte: daß sie den Vater zu einem Spitzbuben in die Zelle gesetzt, bei der Durchsuchung bei ihm ein Rasiermesser gefunden und ihn aus diesem Grunde erschossen hätten.

1958 erhielt ich, natürlich aufgrund meiner Bitte, eine offizielle Bescheinigung darüber, daß mein Vater, Wassilij Alexandrowitsch Korostelew, freigesprochen worden war. Es handelte sich um eine Rehabilitationsbescheinigung. Darin hieß es: „Die Anklageschrift gegen Wassilij Alexandrowitsch Korostelew wurde am 5. Juli 1958 durch das Präsidium des Krasnojarsker Regionsgerichts überprüft. Der Beschluß der Trojka der Verwaltung des Volkskomitees für Innere Angelegenheiten der Region Krasnojarsk vom 21. Februar 1938 wurde für ungültig erklärt und die Akte des Wassilij Alexandrowitsch Korostelew, Arbeiter einer Kolchose im Kreis Irbej, Gebiet Krasnojarsk geschlossen. W.A. Korostelew ist damit rehabilitiert. Der Vorsitzende des Krasnojarsker Regionsgerichts – A. Rudnew“. Die Bescheinigung war vom Krasnojarsker Regionsgericht am 15. Juli 1958 (No. 44-U-413s) versandt worden.

Ich hatte zwar die Rehabilitationsbescheinigung erhalten, aber nicht die volle Antwort auf die Fragen, die mich beunruhigten – warum, weswegen mein Vater verhaftet worden war. Damals nahm ich all meinen Mut zusammen und schrieb einen Brief an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR Woroschilow mit der Bitte, eine Erklärung abzugeben. Eine Antwort bekam ich nicht, obwohl ich sehr lange Zeit wartete; es gab ein Papier, nachdem die Sache überprüft wurde und man mir die Ergebnisse mitteilen wollte.

Jetzt, in der Zeit von Glasnost und Perestrojka, als der Parteitag der Voksdeputierten seine Arbeit aufnahm, wandte ich mich erneut an die Regionsstaatsanwaltschaft und erhielt nach einiger Zeit die Antwort, daß sich das KGB der Region Krasnojarsk mit meinen Fragen befaßt. Sehr schnell bekam ich von dort auch die Antwort, daß ich zu einem mir angenehmen, beliebigen Zeitpunkt dorthin kommen sollte.

Der KGB-Mitarbeiter L.N. Konstantinow verhielt sich mir gegenüber freundlich und teilte mir folgendes über meinen Vater mit: Am 21. Februar 1936 wurde er von einer Trojka zur Höchststrafe verurteilt – zum Tod durch Erschießen, dafür, daß er ein Groß-Kulak war und am Tag der Massenversammlung des 7. November 1937 zum Sturz der Staatsmacht aufgerufen hatte. Am 2. März 1938 wurde das Urteil vollstreckt. In diesem Moment fing es in mir an zu brodeln, aber ich setzte alles daran, mich in der Gewalt zu halten, denn ich wußte ja, daß den Mann, der da vor mir saß, keinerlei Schuld traf, weder mir noch meinen Verwandten, noch meinem Vater gegenüber. Leonid Nikiforowitsch Konstantinow war damals, ebenso wie viele Mitarbeiter in der Regionsverwaltung, noch gar nicht auf der Welt. Und ich riß mich auch zusammen, weil sich mein Leben auf diesen Augenblick vorbereitet hatte, weil ich wußte, daß mein Vater als rastlos Arbeitender, als russischer Mensch (ich würde diese Bezeichnung am liebsten in Großbuchstaben schreiben), niemals dazu fähig gewesen wäre, sein Vaterland zu verraten, nachdem er die bis dahin noch nie dagewesenen, beispiellosen Schrecken der deutschen Kriegsgefangenschaft durchgemacht hatte.

Eines beunruhigt mich jetzt: ich und viele andere möchten die vollständige Wahrheit, nicht die halbe. Ich muß mich mit der Akte meines Vaters vertraut machen, alles von Anfang bis Ende durchlesen, um zu wissen, wie die letzten Tage seines Lebens verliefen, wer das Urteil unterzeichnete und wer es vollstreckte, wo sich die Stelle befindet, an der er begraben wurde, wenn man ihn überhaupt irgendwo bestattet hat. Die sterblichen Überreste liegen auf dem Gelände des Kansker Gefängnisses; ich bin überzeugt davon, daß sie ihn auch dort erschossen haben. Und diese Stelle ist mit Gebäuden bebaut. Ich fordere für alle Angehörigen, denen es ebenso ergangen ist, deren Verwandten ein ebensolches Schicksal wie mein Vater erfahren mußten, daß diese Gebäude abgerissen werden und an ihrer Stelle ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der stalinistischen Repressionen errichtet wird. Es so zu belassen, wie es jetzt ist, wird das größte Verbrechen sein. Man muß Ausgrabungen durchführen und die Toten mit allen Ehren, die dem russischen Volk gebühren, umbetten.

Ich bin der Sohn vonWassilij Alexandrowitsch Korostelew, aber mein Name lautet Michail Wassiljewitsch Salomatow. Der Familienname stammt von meiner Mutter, und das nur deshalb, weil sie und der Vater nicht zusammen registriert worden waren, genauer gesagt – sie waren nicht verheiratet gewesen, und so wurde ich auf den Namen der Mutter eingetragen, was mir später nicht das Recht gab, die Suche nach meinem Vater und die Klärung seines Schicksals, durchzuführen.

Ich wende mich nun an Sie, liebe Freunde aus unserer Krasnojarsker Gesellschaft „Memorial“, mit der Bitte, alles zu tun, damit wir, die Verwandten, endlich alles über die letzten Lebenstage unserer Angehörigen erfahren. Die Hauptsache ist, daß wir Einsicht in die Akten unser repressierten Familienmitglieder nehmen können, daß mit unserer Hilfe und der Unterstützung der Öffentlichkeit die Stellen ausfindig gemacht werden, an denen sich die sterblichen Überreste unserer Verwandten befinden. Hochachtungsvoll – M.W. Salomatow.

Ich bitte Sie, liebe Kameraden, meine Fehler zu entschuldigen, die sich hier beim Darlegen der Angelegenheit eingeschlichen haben, beim Tippen des ganzen Textes, denn ich habe zum ersten Mal in meinem Leben an einer Schreibmaschine gesessen und deswegen manchmal nicht gewußt, wie man die Worte richtig schreibt, wie man die Satzzeichen setzt, und vor allem – wie man die Tasten auf der Schreibmaschine richtig drückt, um die notwendigen Buchstaben für ein Wort herauszubekommen.

18. Dezember 1990


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