Leidvolle Lehren aus der Geschichte
Meine Mama, die mit Mädchennamen Olga Iwanowna Greb hieß, erzählte mir oft von ihrer schweren Kinder- und Jugendzeit. Und wie sollte man auch nicht erzählen und sich nicht erinnern, wenn jene Jahre eine Zeit der Not, des Hungers und der harten Schicksalserprobungen waren. Und auch heute noch tauchen in Mamas Erinnerungen Bilder aus eben jenen Jahren auf, wenn ich sie bitte, ein wenig von ihrer Vergangenheit zu berichten.
Mama wuchs in der Ortschaft Wiesenmiller im Bezrik Seelmann, Gebiet Saratow, auf. An einem frühen Septembermorgen des Jahres 1941 wurde ihre Familie in Richtung Sibirien verschleppt. Mama weiß noch, wie Vater und Mutter in der Nacht zuvor ein Schwein schlachteten, Wurst herstellten und Brot buken. Das war das einzige Essen für viele Tage – bis sie schließlich Sibirien erreicht hatten. Sachen mitzunehmen war verboten – alles, darunter auch das Haus und das gesamte Vieh, mußten sie zurücklassen. Ihre Hauswirtschaft war groß – sie hatten damals Kühe und Schweine, Ziegen und Hühner gehalten.
Mit Fuhrwerken brachte man sie zur Bahnstation, setzten sie in einen Zug und ließen sie erst in Daursk wieder aussteigen. Dort erwartete man die Ankunft der Umsiedler bereits, die nun auf verschiedene Kolchosen verteilt werden sollten. Die Familie Greb kam in das Dorf Wilinki.
Die Russen dort hatten die Erwartungshaltung, dass sie nun etwas Merkwürdiges zu sehen bekämen; sie glaubten, dass die Deutschen andere Menschen wären. Und dabei erwiesen sie sich als ebensolche wie sie; sie unterschieden sich lediglich dadurch, dass sie eine andere Sprache sprachen. Allmählich gewöhnten sie sich aneinander und kamen den Ortsbewohnern näher. Zum Teilen gab es nichts. Alle hatten das gleiche Schicksal – es herrschte Krieg, jeder hatte Kummer und Sorgen, alle mußten in der Kolchose arbeiten und mit ihrem Hungerdasein fertig werden. Im Dorf gab man ihnen Lebensmittel, aber sie reichten bei weitem nicht. Nach der Kartoffelernte ließ man die Einwohner auf die Felder gehen, die dann den ganzen Acker noch einmal umgruben und die inzwischen gefrorenen restlichen Kartoffeln aufsammelten.
Die Grebs waren eine große Familie – sie hatte sieben Kinder. Untergebracht wurden sie in einem leerstehenden Haus am Dorfrand. Dort wohnten sie bis Januar 1942. Dann fuhr der Vater los, um einen neuen Wohnort für sie zu suchen. Er kam in den Balachtinsker Bezirk. Dort fand er einen Nebenverdienst als Hausmeister an der Schule. Man teilte ihm ein Zimmer zu, und er holte die ganze Familie zu sich. Es gab weder Pferde noch Fuhrwerke. Die vier kleinsten Kinder setzten sie in eine große Kiste, die sie auf einen Schlitten stellten, die anderen gingen zufuß. Der Vater arbeitete nicht lange als Schulhausmeister. Schon bald wurden er und sein Bruder in die Arbeitsarmee einberufen. Und einige Zeit später wurden auch die Älteren Schwestern von demselben Schicksal ereilt. Man brachte sie nach Swerdlowsk. Sie arbeiteten in der Holzfällerei. Man verpflegte sie schlecht. Die Menschen dort bekamen Hungerödeme.
Die Familie wurde aus dem Zimmer ausquartiert, das die Schule dem Vater zugeteilt hatte, und siedelte sie in eine Baracke um. Dort stand ein russischer Ofen, aber es gab praktisch nichts, womit man ihn hätte anheizen können. Die Kleinen schliefen auf dem Ofen, die anderen auf Brettern.
Einige Zeit danach wurde der Vater unserer Mama aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes aus der Arbeitsarmee demobilisiert. Er war äußerst geschwächt und sah sehr aufgedunsen aus. Und sobald sie ihn wieder halbwegs auf die Beine gebracht hatten, holten sie ihn erneut in die Trudarrmee – ins Dorf Sorokino. Wieder blieb die Familie ohne Ernährer zurück.
Meine Oma war ununterbrochen am Arbeiten – sie pumpte Wasser für die Pferde. Wenn das Wasser einfror, mußte sie den Eisbrocken mit einer Arbeitskollegin herausmeißeln und dann weiterpumpen. Es war dermaßen kalt, dass sie einmal mit erfrorenen Zehen nach Hause zurückkehrte. Meine Mama erinnert sich, wie sie vor Schmerzen weinte, und alle anderen genauso, weil sie so großes Mitleid mit ihr hatten. Danach konnte meine Großmama lange Zeit nicht mehr arbeiten.
Als sie genesen war, fing sie an, mit Pferden Heu und Brennholz zu transportieren. Und später teilten sie ihre eine junge Kuh zu. Mama war zu der Zeit 12 Jahre alt geworden und sollte fortgeschickt werden, um als Ankupplerin zu arbeiten, aber die Großmama erlaubte es nicht. Sie waren auch so schon unglücklich genug, litten Hunger, und da wollten sie einen auch noch in frühen Kindheitstagen zur Arbeit zwingen. Sie sammelten gefrorene Kartoffeln und stellten daraus Fladen her, sie pflückten wilde Erdbeeren im Wald und aßen sie mit der Milch, welche die Kuh ihnen gab. Das war der einzige Nachtisch in der damaligen Zeit,
Im Herbst wurde das Leben noch schwieriger und nun mußte Mama als Ankupplerin arbeiten gehen. Es war eine schwere Tätigkeit für das Mädchen, sie mußte schwere Lasten hochheben, in Matsch und Kälte arbeiten, um den Lebensunterhalt für die gesamte Familie zu verdienen.
1947 fuhr die Großmama zu ihrem Ehemann. Anschließend kehrten sie zurück und holten auch alle Kinder zu sich. Dort ging Mama 1949 als Melkerin arbeiten. Sie hatte 15 Kühe, die alle mit der Hand gemolken werden mußten – zweimal am Tag, und im Sommer sogar dreimal. Dort arbeitete sie drei Jahre. Danach heiratete sie, die Kolchose zerfiel und die Familie fuhr nach Magansk. Im Jahre 2002 reiste sie nach Deutschland aus.
Das ist die Geschichte meiner Mama. Die Erlebnisse jener Jahre machen sich bemerkbar. Ihre Beine schmerzen. Sie muß sich operieren lassen. Sie wünscht uns, ihren Kindern und Enkeln, dass wir niemals Not und Gram erleiden mögen. Ich bin froh, dass sie wenigstens jetzt in Ruhe leben kann und ihr Auskommen hat.
Auf den Fotos:
Olga (Greb) Schneider
Die Tochter von Olga Schneider (Wasilewa)
Das Material wurde von der sosnowoborsker Organisation für die Opfer politischer Repressionen zusammengestellt.