Guten Tag, Sie lieber Mensch –
Wladimir Georgiewitsch!
Es ist nun so, daß ich Ihnen mitteilen kann, wie sich mein Leben nach Norilsk gestaltete. Aber zuerst muß ich Ihnen sagen, daß meine Haftstrafe in Norilsk noch nicht beendet war.
Aus Norilsk brachte man mich 1945 fort, na ja, natürlich mit meinen Kameraden, aufgrund meines Gesundheitszustandes. Von Norilsk bis nach Dudinka – 120 km, dort waren Gleise für eine Schmalspurbahn gelegt. Angetrieben wurde der Zug von einer Lokomotive der OW-Serie, das sogenannte Schäfchen oder der Kuckuck (Name des Modells; Anm.d. Übers.), genau weiß ich das nicht mehr. Und außerdem muß ich Ihnen noch sagen, daß ich die letzten drei Jahre dort arbeitete, in der Fabrikküche – als Koch im Schichtdienst. Es waren dort 15000 Häftlinge und 40 Köche bei der Schichtarbeit. Ach, es war nicht leicht dort zu arbeiten. Aber stellen Sie sich doch mal 15000 Männer vor, die unter den Bedingungen des polaren Nordens leben, das ist nicht einfach, und dann als Gefangene, denen sämtliche Menschenrechte entzogen sind und die die ganze Zeit an unzureichender Ernährung leiden. Aber was sollte man machen, es war ja Krieg – und im Krieg bekamen die Menschen eben nicht genug zu essen, ganz zu schweigen vom belagerten Leningrad. Die Nerven waren bereits dermaßen zerrüttet, daß die Ärzte mir empfahlen wegzufahren (aufs große Land). Das war ihr Ausdruck dafür, denn soweit ich sie verstanden hatte, waren sie alle keine Russen – die Karls, Janoschs und Jans. Die Janotschis saßen alle wegen des Vergiftungsfalles des A. M. Gorkij. Na ja, natürlich erzählte ich ihnen das nicht, denn jeder der Häftlinge hatte doch schließlich den Wunschtraum von hier (aufs große Land) wegzufahren, um so mehr, als der Krieg seinem Ende zuging. Und was das Jahr 1943 betraf, so gab es bei uns in Norilsk alle Lebensmittel, und auch Schnürschuhe mit diesen dicken Gummisohlen, alles amerikanische, und Butter – tatsächlich war es lard (engl. Bez. für Schweineschmalz; Anm. d. Übers.), das sich in der Qualität nicht unterschied: Du läßt es schmelzen – und es ist wie Wasser: kein Geruch, kein Geschmack. Aber was die getrockneten Möhren, den Kohl, Lauch und Knoblauch (Pulver) betrifft, so diente uns das als hervorragendes Mittel gegen Skorbut. Na ja, und ungeachtet dessen, daß ich zwar keinen Hunger litt, aber meine Nerven ziemlich blank lagen, wurde auch ich (nach dem „großen Land“) aktiert.
In Dudinka kletterte ich nur noch in die obere Pritschenetage, um mich richtig auszuschlafen; ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als der Arbeitsanweiser angelaufen kam: „Schumilow, Schumilow!“ – „Schumilow – das bin ich!“ – „Los“ Die Wlassow-Anhänger müssen gefüttert werden (in meiner Akte stand, daß ich Koch war)“. Na und da habe ich vier Tage und Nächte die Wlassow-Anhänger verpflegt. Und soviel wie ich begriff, waren das in der Hauptsache vollkommen ungebildete und unentwickelte Leute, die weder lesen noch schreiben konnten – aus der West-Ukraine. Und alle riefen mir zu: „Ne lej aliju“. Das bedeutete Pflanzenöl. Aber ich sollte ihnen doch alles geben, was als Norm festgelegt war: 15 Gramm Fett und 10 Gramm Zucker.
Ich weiß nicht, was dort weiter vor sich ging. Am 13. September 1945, nachdem ich einen Lebensmittelvorrat für 13 Tage und Nächte erhalten hatte, wurden ungefähr 1700 Mann, einschließlich Wachmannschaften, ganz genau kann ich mich jetzt nicht mehr daran erinnern, im Hafen von Dudinka auf einen Lastkahn verladen und auf dem Väterchen Jenissey nach Krasnojarsk gebracht. Für 13 Tage und Nächte hatte man uns Verpflegung mitgegeben, aber bis nach Krasnojarsk waren wir ganze 37 Tage und Nächte unterwegs. Ohne die „Klim Woroschilow“. Damals gab es so einen Raddampfer – einen Tag und eine Nacht fuhr man auf dem Wasser, danach legte man für 2-3 Tage und Nächte an. Die Lebensmittel gingen zur Neige. An den Anlegestellen, wo wir festmachten, sammelten wir alle gefrorenen Kartoffeln, die nach dem Verladen an den Anlegestellen zurückgelassen worden waren. Und so ging es bis Pridiwna, bis uns der Passagierdampfer „Turgenjew“ entgegen kam. Wir mußten alle auf ihn umsteigen, und der Leiter der Wachmannschaften (so ein Dummkopf; und ich war ein Dummkopf, daß ich auf ihn hörte) gab den Befehl: „ Koch! Gib ihnen soviel, bis sie platzen!“ Laß die Graupen Graupen und das Mehl Mehl sein! Und Fleisch gab es da – gesalzenes Hirschfleisch. Und das führte (da die Menschen ausgehungert und völlig entkräftet waren) zu Darmverschlingungen. Und das Ende vom Lied war, daß wir unterwegs 96 Tote zu beklagen hatten. Als Koch wußte ich das, denn ich führte täglich Buch über das gesundheitliche Befinden, wieviele bei mir ausgeschieden waren und wieviele auf meiner Verpflegungsliste standen.
Also, an der Station Jenissey (unser Durchgangslager) kamen wir im Oktober an. Herbst, Winter. In diesem Durchgangslager verbrachte ich etwa einen Monat.
Ein „Auftraggeber“ kam aus der Fabrik, die sich heute Buntmetallwerk nennt, damals hieß sie Metallhüttenwerk, wo man völlig unbehandeltes Rohmaterial hinbrachte, denn die sogenannte BOF, die Aufbereitungsanlage in Norilsk, war noch im Bau befindlich. Und ich hatte noch nicht einmal die Quarantänezeit beendet, da riefen sie mich schon heraus, sahen sich meine Akte an und fragten: „Koch?“ – „Koch!“ – „Dann ab in die Küche – sie zu, daß die Leute was zu essen bekommen“. Der Küchenleiter war Fedja Kosarenko – ein Berufskoch, obwohl ich schon einmal Koch und auch Konditor gewesen war, allerdings nur zur Aushilfe, aber Fedja war erfahrener als ich und auch 10 Jahre älter. Na ja, und so machte ich mich an das Kochen meiner Suppen; ich kochte, verpflegte die Leute, brachte das Mittagessen in die Fabrik, solange, bis mir nur noch 7 Monate bis zum Ende der Haftstrafe blieben.
Einmal führte ich mit meinen Jungs eine Unterhaltung und sie rieten mir, die Küche zu verlassen und lieber in eine Brigade in der Fabrik einzutreten. Und das tat ich auch.
Das war für mich eine großartige Sache. Ich fing also an in die Fabrik zugehen, und zudem noch in zwei Schichten: Tagesschicht und Nachtschicht, und da arbeiteten Häftlinge mit Freien zusammen, und auch Frauen und Mädchen. Sie nahmen mich in eine Brigade auf. Jascha Gorkuschenko war zunächst der Brigadeführer und später, nach dessen Freilassung, Iwan Gerasimowitsch Ilin (bereits verstorben). Er stellte mich als Mechaniker an den Pumpen eingestellt - ich verstehe nix. Alles dummes Zeug, aber dafür ist ja Wolodja Wiprizkij da oder Waladymyr Semenytsch, wie ihn sein usbekischer Babaj nannte. Wolodja war drei Jahre jünger als ich und schleppte ebenfalls eine Lagerhaftstrafe von 10 Jahren mit sich herum, weil sein Vater irgendwo Chef gewesen und als ein vermeintlicher „Volksfeind“ aufgetreten war, aber er hatte seinen Vater schützen wollen. Und so erzählte er mir: „Rothaariger, das ist nicht deine Angelegenheit; deine Sache ist es, Politik zu machen, und wir und der Babaj werden alles tun, was notwendig sein wird“.
Und so richteten wir unser Leben ein und arbeiteten.
Unser Schichtleiterin war Wera Prokowjewna Loboda, die später meine Frau wurde.
Am 19.06.1948 wurde ich freigelassen; man lief mich sogar schon 16 Tage früher laufen.
Und genau hier begann mein Leidensweg. Wera war kein Parteimitglied, sie war bloß eine Technikerin, die das Technikum für Buntmetalle abgeschlossen hatte, und ihre ältere Schwester Jelena Loboda, wie ich sie nannte, war und ist eine stalinistische Enkelin. Sobald ich dort hinkam, begannen sogleich Gespräche über Parteiautorität. Mir waren doch für einen Zeitraum von 5 Jahren die Rechte entzogen worden, und das bedeutete, daß ich meinen festen Wohnsitz in einem Umkreis von höchstens 101 km von Krasnojarsk entfernt nehmen durfte. Ich wußte davon überhaupt nichts, aber wie man in alten Zeiten sagte, gibt es keine Welt ohne gute Menschen. Der Leiter unserer URO (Abteilung für die Verteilung und Registrierung von Häftlingen; Anm. d.Übers.), Danil Danilowitsch Popow (er ist schon tot), sagte zu mir: „Rothaariger, mach dir keine Sorgen, ich helfe dir!“ Und er half mir: er machte mich mit dem Leiter des Paß-Stelle im Krasnojarsker Stadtteil Leninsk, Jewgenij Grigoriewitsch Selenskij, bekannt. Nun, er sagte zu mir: „Anmelden werde ich dich hier, aber wo und wie du eine Arbeit finden willst, das kann ich ja nicht wissen“. Und ich meinerseits bat ihn: „Jewgenij Grigoriewitsch, eine Bitte habe ich noch“. Und indem ich ihm die Freilassungsbescheinigung reichte, sagte ich, daß ich nicht diesen Vornamen (Josif) tragen wollte. „Und warum? Weswegen?“ Nun ich setzte alles daran ihm zu erklären, daß das damals so eine Zeit war, daß ich meinem Namensvetter eins hatte verpassen, ihn hatte töten wollen, aber da, sehen Sie, habe ich nur 10 Jahre gearbeitet und dann noch 5 Jahre Entzug aller Rechte. Und deswegen will ich nicht so heißen“. Jewgenij Grigoriewitsch zögerte ein wenig, dachte einige Minuten nach und fragte dann: „Und wie würdest du dann heißen wollen?“ Das wäre mir ganz egal, sagte ich, bloß diesen einen Vornamen den wollte ich nicht haben. „Na gut. Dann nennen wir dich Lenka“. Na das war mir egal; bloß nicht so heißen, wie mein Namensvetter. Und auf diese Weise wurde aus mir Leonid Alexejewitsch Schumilow. Na, ich denke, daß mir der liebe Gott diese Sünde verzeihen wird, um so mehr, als mich mein eigener Großvater Iwan Kuprijanowitsch Uljanow getauft hat. Und er war ja auch ein frommer Alter; es machte ihm gar keine große Mühe, für meine Sünden zu beten, und schließlich hat Gott die Menschen doch lieb. Und so hoffe ich, daß mir ein Platz im Paradies garantiert sein wird.
Obwohl in der Heiligen Schrift geschrieben steht: "Aus Asche bist du genommen, zu Asche sollst du wieder werden". Nach meinem Verständnis ist die menschliche Seele - das Gewissen, die Ehre und die Würde des Menschen und nicht das, was die Popen und Kirchendiener uns über die Seele sagen, welche sie sich in Gestalt eines kleinen Kindes mit Flügeln vorstellen - die Seele ist davongeflogen und wedelt mit dem Schwanz. Na ja, es scheint, als ob ich dort hinaufgeklettert wäre, wo es für mich nichts zu tun gibt. Mögen sich damit die heiligen Väter zurechtfinden, und mir armem Sünder wird es wohl hoffentlich wenigstens bis zu meinem Tode gelingen, mit all meinen Sünden ins Reine zu kommen. Ach, und es sind so viele Sünden. [...].