Aufbewahren FÜR ALLE ZEIT
Vom Schicksal vorbestimmt – in der Angst, dass sie ihre
Autorität aufgrund des ständigem Optimismus verlieren,
ist die Regierung gezwungen zu schweigen, wobei sie
alle nur erdenklichen Anstrengungen zur Beseitigung der
Opposition unternimmt.
Da mich keiner der ins allgemeine Gefängnis Semipalatinsk gekommenen Lager-Zwischenhändler zu sich nahm, schickte mich die Lagerleitung auf die Insel der Tränen, in die unterste Kolonie für Invaliden. Von dort schickte man keine Auserwählten, körperlich Kräftigen ins Gefängnis, wie das aus anderen Lagern üblich war. Dorthin schickte man die sogenannten „Abkratzer“ (Häftlinge, die so geschwächt waren, daß sie über kurz oder lang starben; Anm. d. Übers.), all jene, die schon nirgends mehr zu gebrauchen waren. Es war die Umladestelle für den Dorffriedhof. Ich hatte während des zweimonatigen Gefangenentransportes vom Don über Moskau – Taschkent - Semipalatinsk viel Gewicht verloren. Und dann begannen sie mit ihrer zerstörerischen Tat: inneres Gefängnis, nächtliche Verhöre, Foltern. Obwohl ich noch vergleichsweise jung (38 Jahre) und gesund war, wurde ich in nur wenigen Monaten Haft zum „Abkratzer“.
Und da ist sie, die Insel der Tränen. Hier befinden sich nicht nur solche, die unter dem übermäßigen Eifer der Untersuchungsorgane schwer zu leiden haben, sondern auch Invaliden aus dem Vaterländischen Krieg und einfach gewöhnliche Invaliden. Ich kann mich noch daran erinnern, daß in der 6. Kolonie zwei blinde Harmonikaspieler wegen eines politischen Paragraphen ihre Haftstrafe verbüßten (sie hatten auf einem öffentlichen Platz zu den Klängen der Harmonika irgendein kurzes Liedchen gegen das geniale Väterchen (gemeint ist Stalin; Anm.d. Übers.) gesungen), und die Gefangenen standen in der winterlichen Kälte bei der Kantine in einer Schlange und warteten auf den „Start“, während sie sich mit ihren hungrigen Mägen an der Musik ergötzten.
Jeder befristete Häftling, der sich im Gefängnis befindet, kann es kaum erwarten, in irgendeine Kolonie verschickt zu werden. Dort konnte man wenigstens unter freiem Himmel atmen, war in größerer Gesellschaft, es gab Arbeit und man fand Ablenkung von seinen schweren Gedanken.
Aber ein Häftling kommt nicht sofort in die allgemeine Zone. Zuerst halten sie ihn für die Dauer von zwei Wochen in Quarantäne fest, damit er, um Gottes willen, aus dem inneren oder dem allgemeinen Gefängnis bloß nicht irgendwelche Krankheiten anschleppt.
Diese Quarantänestation muß man sich als gewöhnliche unbeheizte Scheune mit Flügeltüren vorstellen. Kleine, längliche Fenster, vergittert, und drinnen – Pritschen für etwa 50 Mann. Diese Scheune ist von einem Stacheldrahtzaun umgeben, aus dem gleichen Draht, mit dem auch die Pforte verschlossen ist.
Januar. Sibirischer Frost. Man hält uns, 50 Häftlinge, in der Quarantäne fest. Erst danach führt man uns in die einzelnen Baracken und dann zur Arbeit. Und jetzt geben sie uns nur das zu essen, was auch die Schmarotzer bekommen. Unter diesen fünfzig Gefangenen gab es viele, die im Krieg gewesen waren. Sie trugen noch ihre Uniformmäntel. Viele waren Kolchosbauern. Im großen und ganzen waren sie alle Menschen der Arbeit, und sie waren alle zum ersten Mal in dieses „Haus der Erholung“ geraten. In der Quarantänestation ist es sehr kalt. Tagsüber sind alle auf den Beinen, um sich warm zu halten, alle sind in Bewegung. Und nachts benutzen sie teilweise ihre Oberbekleidung als Unterlage auf den Pritschen, teilweise decken sie sich auch damit zu. 50 Mann sind zusammengepfercht wie Heringe in einem Faß, eng aneinandergeschmiegt, und irgendein einzelner hat praktisch die anderen mit seinem Körper zugedeckt. In einer solchen Lage war es bei weitem wärmer, als wenn man einzeln lag.
Ich war gewöhnlich in der Pritschenmitte untergebracht, denn vor dem Schlafengehen erzählte ich den anderen immer etwas. Jetzt wundere ich mich selbst darüber, wo ich damals die ganzen Abenteuer meiner Helden hernahm. Aber das waren Improvisationen, und sie endeten immer mit den Worten „Fortsetzung morgen“.
Unsere Kolonie war gemischt: es wurden Möbel hergestellt, Eimer, man nähte Wäsche, spann, strickte, webte, befaßte sich mit Gemüseanbau, denn irgendwo, um die 50 km entfernt, gab es eine Nebenwirtschaft mit Getreidekulturen. Ich wollte aufgrund meiner Berufserfahrung als Agronom arbeiten. Am Tage bemühte ich mich darum, durch den Stacheldrahtzaun hindurch zu erfahren, ob es im Lager Agronomen gab, wer das war und wieviele. Zu meinem Schrecken höre ich, daß es drei auf dem kleinen Saatfeld gibt, die alle in einem freien Arbeitsverhältnis stehen. Ich komme zu dem Schluß, daß ich hier bei einer Arbeit, die meiner Ausbildung entspricht, nicht unterkommen kann, und schreibe dazu ein Gesuch an den Leiter der Arbeitskolonie. Bei der Abendzählung übergab ich all das dem diensthabenden Aufseher.
Trotz des schrecklichen Frostes halten sie die 50 Quarantäne-Insassen weiter fest, noch kein einziger ist draufgegangen. Und dabei haben doch beim letzten Mal die Alteingesessenen erzählt, dass die Hälfte von ihnen schon zum Friedhof abtransportiert wurde. Sie haben nicht durchgehalten. Sie sind sich wohl nicht bewußt, daß sie, anstatt dem Herrn Nutzen zu bringen, sich überstürzt aus dem Staub gemacht haben.
Einigen von uns hat zudem jemand Pakete überbracht: die Verwandten haben erfahren, wo sie sich befinden. Und von ihnen haben die anderen auch etwas abbekommen, und besonders der nächtliche Erzähler. Wer sollte ihm denn auch etwas schicken? Seine Familie ist von hier mehrere tausend Kilometer entfernt, und hier hat er keine nahen Angehörigen.
Nachdem wir am Abend unsere Wassersuppe gelöffelt hatten, legten wir uns, wie auch früher schon, Seite an Seite hin, und ich fuhr mit meiner Erzählung fort. Alle hielten den Atem an – hörten zu. Jemand fing an zu rauchen, und schnell machte der selbstgedrehte Glimmstengel seine Runde: zwei Züge und – weitergeben an den Nächsten.
Aber da klirrte von außen das Schloß und die Tür wurde geöffnet: ein Mann trat in die Dunkelheit.
- Sokolenko! Zum Leiter!
Wie ungern wollte ich aus der Wärme heraus! Und wo ist mein Mantel? Nicht einmal eine Suchexpedition würde ihn jetzt finden. Ich zog von den Körpern irgendeinen Mantel herunter und begab mich zu „Selbigem“.
Im Kontor war es – einschmeichelnd warm. Im Arbeitszimmer, das von dutzenden elektrischen Glühbirnen erleuchtet war, saß hinter einem Eichentisch ein kahlköpfiger Oberleutnant mit Nachnamen Spitschglas, wie ich später erfuhr, der ein liebenswürdiges, freundliches Gesicht hatte.
Vor ihm lag, wie ich bemerkte, meine Arrestanten-Akte. Er vergewisserte sich erst, daß wirklich ich es war, und kam dann zur Sache.
- Haben Sie sich unser Gewächshaus angesehen? – fragte er.
Ich erwiderte „nein“; wie sollte ich es auch angesehen haben, wenn ich bereits ungefähr 10 Tage in Quarantäne eingeschlossen war.
- Sehen Sie es sich morgen an (es befindet sich in der Zone), innerhalb von drei Tagen verfassen Sie an mich einen schriftlichen Bericht, was sie darin unter winterlichen Bedingungen züchten können.
Ich gab ihm zu verstehen, daß es in der Arbeitskolonie, ohne mich gerechnet, schon drei Agronomen gab, ob es nicht besser wäre, wenn ich mich rechtzeitig mit ihnen beraten würde. Aber dem Leiter war anscheinend die örtliche Agronomie mit irgendetwas versalzen worden. Ich begriff. Es kam zu einer Einigung.
Auf das Klingeln des Leiters hin erschien ein Soldat. Es wurde befohlen, schnellstens einen gewissen Rosenfeld kommen zu lassen. In das Zimmer stürzte kurz darauf ein unmäßig vollgefressener Dickwanst im Soldatenmantel mit den Rangabzeichen eines Feldwebels. Er hatte ein glattrasiertes Gesicht und war etwa 45 Jahre alt. Wie ich später erfuhr, war er der Leiter des Aufsichtsdienstes. Mit den Augen auf mich weisend sagte der Leiter zu Rosenfeld:
- Dieser Mann hier wird bei uns als Agronom arbeiten. Baden Sie ihn gleich, kleiden Sie ihn von Kopf bis Fuß neu ein und bringen Sie ihn dann in der Wohnbaracke für die Stachanow-Arbeiter unter.
Der Feldwebel führte mich in einen anderen Raum, sein Arbeitszimmer. Dorthin wurden sogleich der Verwalter der Kleiderkammer und der Friseur bestellt. Die ganze Operation, die ich da über mich ergehen lassen mußte, dauerte nicht mehr als eine halbe Stunde. Mit jenem Feldwebel ging ich kurz darauf zur Stachanow-Baracke hinüber.
Die Baracken in der Kolonie wurden nachts abgeschlossen, weil die Zone nicht von einem Stacheldraht-, sondern von einem gewöhnlichen Zaun umgeben war. Und obwohl sich an den Ecken dieses riesigen Quadrates Wachtürme befanden, die Zone von elektrischen Projektoren erleuchtet war und außerhalb des Zaunes deutsche Schäferhunde herumliefen, hatte man Angst vor Fluchtversuchen.
Als das Schloß geöffnet wurde, traten wir in einen langen Flur und begaben uns zu den in der Ferne sichtbaren Türen, aus denen eine angenehme Melodie zu hören war.
In dem Zimmer standen gut zurechtgemachte, eiserne Bettstellen, es war hell und sehr warm. Die Häftlinge dieses Zimmers waren in kleine Gruppen aufgeteilt, je nachdem. womit sie sich beschäftigten: in einer Ecke spielten welche auf zwei Gitarren, zwei Balalaikas und einer Mandoline kleine Musikstückchen, in der anderen wurde Schach gespielt und sechs Leute haben für sie die Daumen gedrückt, einige lagen bereits auf ihren Betten und lasen, und in der Nähe der Tür erzählte irgendein Onkel mit schwarzem Schnurrbart, wie er den ganzen Krieg über mit Salz gefeilscht hatte.
Hier, neben dieser Gruppe mit dem bärtigen Erzähler, wies mir auch der Barackenälteste ein leeres Bett zu. Ich setzte mich darauf nieder und hörte zu:
„Ja, Brüderchen, - sagte der Schwarzbart, der etwa 40-45 Jahre alt war, mit leichtem ukrainischen Akzent auf Russisch, so wie die Deutschen unsere Stationen von den Flugzeugen aus bombardiert haben, so ist schon ganz amAnfang auch von meinem Haus und meiner Familie nichts übriggeblieben. Eine einzige tiefe Grube. Ich blieb als Vollwaise zurück. Was tun? Ich machte mich also zufuß auf den Weg zur Nachbarstation und von dort auf einer Lokomotive weiter und weiter, bis ich bis ganz nach Manytsche gelangt war. Weiter führte auch die Zweiglinie der Eisenbahnstrecke nicht mehr. Und nun? Ringsumher lag haufenweise Salz. Ich nahm ein paar Säcke und – hinauf damit auf die Lokomotive und ab nach Zentral-Rußland: zwei Säcke Salz – einen Sack Groschen. Toll war das. Und so fuhr ich den ganzen Krieg über herum, - prahlte er.
Dieser erzählende Marodeur gefiel mir ganz und gar nicht. Ich brachte mein Bettzeug in Ordnung, setzte mich auf die Schlafstelle und begann an meine Kameraden zu denken, die ich in der Quarantäne zurückgelassen hatte. Wie doch trotz allem das gemeinsame Unglück die Menschen einander näherbringt. Jetzt ist mir ganz warm ums Herz. Und wie steht es mit ihnen? Und wer wird sich jetzt ihrer annehmen, in jenem kalten Viehstall?
Das Schlimmste in der Gefangenschaft ist die Einsamkeit. Nicht die Einzelzelle, sondern eben dieses Alleinsein, wenn ihr mit niemandem ein Wort wechseln könnt, obwohl es um euch herum auch Menschen gibt. Vor den Leuten, sagt man, ist auch der Tod schön. Scheinbar nicht bei allen Menschen, aber bei denen, die dich verstehen, die Mitleid mit dir haben. Mit meinen Gedanken war ich in der Qurantänestation, vorn und hinten an warme Körper angeschmiegt, in der Dunkelheit von irgendwelchen Kleidungsstücken zugedeckt.
Ich kam dadurch zu mir, daß ein Alterchen von kleinem Wuchs an mich herantrat. Er war rasiert, trug einen ergrauten Schnurrbart, hatte einen Krückstock in der Hand und fragte:
- Na, sind Sie mein Nachbar?
Er verstaute das Stöckchen an seinem Kopfende und sah mich dann aufmerksam an:
- Dann haben wir wohl den gleichen Paragraphen, was?
- Ich bin nach §58 verurteilt, - antwortete ich. – Sie auch? – fragte mein Nachbar, gab mir die Hand und nannte seinen Namen:
- Ilja Emeljanowitsch Semenow, Sohn meiner eigenen Eltern.
Dann fragte er mich aus, wer und was ich sei. Ich erzählte ihm, daß ich als Hochschullehrer an der Hochschule gearbeitet hätte, daß meine Familie jetzt am Don lebte. Ich erzählte von meinem Gerichtsprozeß, der Haftstrafe, jener bedrückenden Last, die ich in den vergangenen Monaten hatte ertragen müssen, angefangen mit dem Gefangentransport, dann der Gefangenschaft im inneren und im allgemeinen Gefängnis. Ich berichtete ihm auch von meiner letzten Begegnung mit dem Leiter der Kolonie und daß ich nun Aussicht auf das Lager-Gewächshaus hatte.
Als erfahrener Arrestant erklärte er mir, daß das Schlimmste schon hinter mir lag, daß es nun notwendig war, sich mit Gesundheit vollzutanken, und daß hier sachkundige Leute sowohl notwendig, als auch geschätzt waren. Er sagte, daß er sogar trotz seines Alters noch freiwillig als Brigadeführer in der Tischlerwerkstatt arbeitete. – Ohne Arbeit kann ich nicht leben, - endete er.
Als wir schlafen wollten, wünschten wir einander eine gute Nacht. Beim Einschlafen fühlte ich, daß sich jetzt rechts von mir der nahestehendste Mensch diesseits des Stacheldrahtes befand.
Am Morgen, nach dem Frühstück, ging ich zuallererst zur Quarantänestation, erklärte meinen Kameraden, was mit mir los war und tauschte den Soldatenmantel gegen meinen Übergangsmantel. Danach besichtigte ich die Gewächs- und Treibhaus-Anlagen. Das Gewächshaus befand sich in einem vernachlässigten Zustand: viel zerbrochenes Glas, die Öfen zerstört, drinnen war der Boden gefroren und es lag Schnee.
Am dritten Tag hielt ich dem Leiter einen ganzen Vortrag: über die Kosten für die Reparatur des Treibhauses sowie die unbedingt erforderliche Menge Holz.
Ich hatte Angst, mich an die Aufzucht von Gurken zu machen, daher beschloß ich, Grünzeug, Schnittlauch, zu ziehen.
Mein Vortrag wurde vom Leiter bestätigt, und so ging ich an die Durchführung des Planes. Fast alle Leute, die sich mit mir in Quarantäne befunden hatten, holt ich zu mir ins Treibhaus. Einige von ihnen, die bei besserer Gesundheit waren, fällten im Wald Bäume und zersägten sie, andere transportierten sie zum Gewächshaus, spalteten Holz und hnatierten mit Erde in den Gestellen und Regalen herum. Zum ersten Februar standen alle Stellagen dicht an dicht und waren mit kleinen Schnittlauch-Stecklingen bepflanzt. In dem Gewächshaus wurde es wieder warm, und der Lauch wuchs schnell heran.
Die Ober-Agronomin der Kolonie; Kruglowa, war nicht besonders begeistert: als es mich in der Kolonie nicht gegeben hatte, da war die Gewächs- und Treibhausstation außer Betrieb, und jetzt ... Das ist ihr Minus. Aber sie steht im freien Arbeitsverhältnis, und sie erhält Lohn. Der Leiter war entzückt. Bei einem seiner regulären Besuche im Gewächshaus, als der Schnittlauch bereits die Augen erfreute, verkündete er plötzlich:
„Seht doch mal, aus dem Gewächshaus bekommt niemand auch nur ein Stengelchen Schnittlauch. Jagt alle hier raus! Über die Ernte werde allein ich ganz nach eigenem Ermessen verfügen.
Ich bat ihn lediglich, daß er dieses, sein ausschließliches Recht auf das Gewächshaus seine Untergebenen wissen lassen möge. Das versprach er auch, und es verschonte mich vor jeglichen ungebetenen Gästen.
Die erste grüne Produktion wurde für den Sekretär des Stadtrates vorbereitet, von dem die Festlegung bestimmter Entscheidungen des Stadtrates zum Nutzen der Kolonie abhing. Später wurde das Grüngemüse eher an die Leiter der Partei-Dienstelle geliefert.
Jeden Abend erzählte ich meinem lieben Nachbarn, Ilja Jemeljanowitsch, von meinen Aktivitäten, und er freute sich über meine Erfolge. Ganz besonders freute es ihn, als er erfuhr, daß die Kolonie ein Gesuch beim Innenministerium der Republik bezüglich meiner Freistellung von der ständigen Begleitung durch Wachpersonal eingereicht hatte.
Aber ich überarbeitete mich. Mein Kopf arbeitete ausgezeichnet, aber körperlich war ich sehr geschwächt: all meine Zähne wackelten, aus dem Zahnfleisch sickerte Blut, mein Körper war übersät mit kleinen roten Flecken – alles Anzeichen von Skorbut. Ich fing an zu keuchen, das Herz klopfte heftig ... Ich begriff, daß ich sterben würde.
Irgendwie schaute zufällig der Oberkoch der Kolonie zu mir ins Gewächshaus hinein.
- Verstehst du, - beklagte er sich, ohne Grüngemüse kann ich auch kein Fleisch essen. Es ist schon ein Elend.
- Und für mich ist es schlimm ohne Fleisch, - antwortete ich ihm.
Schließlich kam zwischen uns eine Übereinkunft zustande: ich leistete meinen Beitrag und er seinen. Zum Frühjahr war mein Skorbut vorüber und ich begann wie ein ganz kräftiger und gesunder Bursche auszusehen.
Wenn ein notorischer Verbrecher eine Straftat begeht, dann weiß er, was ihn erwartet, wenn irgendetwas schiefgeht, und sobald er dann zu seiner Haftstrafe verurteilt worden ist, verbüßt er sie ohne zu murren (sofern nicht die Möglichkeit zur Flucht besteht). Ein Mensch, der keine Verbrechen begangen hat, fühlt sich von seiner Strafe niedergedrückt und wartet ewig, daß man die Angelegenheit an höherer Stelle schon klären wird und er schließlich wieder in die Freiheit hinausgehen kann. Als nun diese Art von „Straftätern“ hinter Gittern zur großen Mehrheit geworden war, da keimte die allgemeine Hoffnung auf eine Amnestie auf, nicht in Form einer Begnadigung wegen des begangenen Verbrechens, sondern einer Korrektur der angeblich begangenen Gesetzesverstöße.
70 Prozent der Häftlinge verbüßten ihre Strafe wegen des Diebstahls sogenannten sozialistischen Eigentums, Straftaten, die es früher nie gegeben hatte und die niemandem je bekannt gewesen waren. Das, was der Mensch mit seiner Hände Arbeit geschaffen hatte, zählte seit eh und je zu seinem Eigentum. Wurde es geraubt, so galt das als Diebstahl. Und hier nun plötzlich etwas Neuartiges: Tag und Nacht brachten die Kolchosbauern ihre Arbeitskraft ein, aber das Produkt dieser Mühe und Arbeit stellte nicht ihr Eigentum dar, sondern das Eigentum anderer, nämlich derer, die sich diese Produkte faktisch zunutze machten. Dabei geriet der eigentliche Erzeuger dieses Produktes in eine solche Lage, daß er, wenn er den Geist des Gesetzes ganz genau befolgt hätte, er eigentlich physisch hätte verschwinden müssen, denn jahrelang erhielten die Kolchosbauern für ihre Arbeit offiziell nichts. Auf dieser Welt hielt sie nur die Nebenwirtschaft und das, was er, häufig in seiner Tasche, von dem gemeinsamen Gut, was er hervorgebracht hatte, forttragen konnte.
Ins Gefängnis kam er in zwei Fällen: wenn man ihn mit dem von ihm „entwendeten“ Produkt erwischte, oder wenn er seine Unzufriedenheit über das Diebesgut äußerte, welches er gestohlen hatte. Im ersten Fall fiel er unter die Rubrik eines Kriminellen wegen des Diebstahls von sozialistischem Eigentum, im zweiten galt er als Politischer. Aber so oder so war er der Meinung, daß irgendein ärgerlicher Irrtum passiert war – und er wartete auf seine Begnadigung. Es kam der quälende Krieg. Der Mehrheit der Gefangenen kam es so vor, daß die ganze über sie hereingebrochene Gesetzlosigkeit eine Folge des Krieges war: wo gehobelt wird – da fallen auch Späne. Und wenn dann der Krieg zuende geht, dann wird schon alles in Ordnung kommen: es wird eine Amnestie geben, und wir werden alle nach Hause kommen. Dieser naive Glaube hatte die gesamte Gesellschaft ergriffen. Die Hoffnung der Gefangenen auf baldige Freilassung wurde von außen geschürt, aus der Freiheit, und häufig durch sehr autoritäre Personen.
Viele glaubten an diesen alles vergebenden Akt von oben, nur Ilja Jelemljanowitsch glaubte es nicht, obwohl er bereits einmal als Teilnehmer am Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals durch eine Teil-Amnestie freigelassen und ein zweites Mal aufgrund seines Alters aus der Liste ausgetragen worden war.
Anläßlich der Gespräche über die Amnestie meinte er:
- Sie reden dummes Zeug, wie kleine Kinder. Na, lassen wir ihnen das kindliche Vergnügen, wenn sie nachher nur nicht weinen. Schließlich begreifen die Leute nicht, - fuhr er fort, daß wir hinter dem Stacheldraht Millionen von mobilen Arbeitskräften darstellen.
Ob das nun gut oder schlecht ist, aber alle arbeiten. Auch unsere Invalidka (gemeint ist die Invaliden-Kolonie; Anm. d. Übers.) – sogar die produziert etwas. Und da ist die Regierung zu dem Schluß gekommen etwas zu bauen, und nun gehen auch schon die Gefangenentransporte dorthin. Es ist nicht dasselbe, wie mit denen, die im freien Arbeitsverhältnis stehen, die erst nach ihrem Einverständnis gefragt werden, ob sie überhaupt dorthin gehen wollen und die dann dort auch eine Wohnung bekommen.
Er dachte einen Augenblick nach und fügte dann hinzu:
- Vielleicht wird das auch so sein. Diebe schätzt Stalin sehr. Aber auf einen Politiker sollen die Räuber gar nicht warten.
Ilja Jemeljanowitsch macht ein Gesicht, als ob er es vorausgesehen hätte: nach Kriegsende gingen die Diebe in die Freiheit und die Deserteure, entgegen aller Logik, ebenfalls. Immer noch war der Krieg mit Japan im Gange, und offensichtlich war das Aufstocken der Armee erforderlich. Aber die Amerikaner warfen Atombomben auf Japan, und jenes Land erbat den Frieden. Die Deserteure kämpften nicht, sondern zogen den Nutzen aus dem Sieg.
Ilja Jemeljanowitsch berichtete, daß er, als aktiver Teilnehmer am Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals auf Ansuchen der Verwaltung im Rahmen einer Teilamnestie aus der Haft entlassen wurde. Ich bat ihn zu erzählen, wie es später dazu gekommen war, daß man ihn aufgrund seines Alters aus der Liste gestrichen hatte.
- Nun, das war kurz vor diesem Krieg, - sagte er. Auf dieser Insel wurden viele von uns, den Alten, einberufen. Der Staat mußte unsretwegen Verluste hinnehmen: die Ärzte-Kommission, die offizielle Bearbeitung, und bald werden wir alle gehörig was auf den Deckel kriegen. Es wird gesagt, zum Sterben begebt euch in die Häuser. Es wurden alle aus der Liste abgeschrieben, ungeachtet der Tatsache, nach welchem Paragraphen sie verurteilt worden waren.
Und da geschah es, daß ich gerade zu dieser Zeit für den Leiter der Kolonie einen zweirädrigen Wagen anfertigte. Der ruft mich zu sich und sagt:
- Ich bitte dich, daß du mir den Karren fertigmachst, dann sollst du auch nicht mit leeren Händen nach Hause gehen. Ich überlegte, überlegte hin und her und erklärte mich dann einverstanden. Und während ich dieses Fuhrwerk fertigstellte, brach der Krieg aus. Die, die den Paragraphen 58 hatten, sollten zurückbehalten werden. Sie behielten auch mich zurück. Und hier sitze ich nun, wie du siehst - und warte.
Er verstummte, dachte nach, blickte mich dann an und schloß mit den Worten:
- Aber wo muß man nicht auf sein Ende warten? Es ist doch gehupft wie gesprungen. Hier weiß du wenigstens, daß sie dich nicht ins Gefängnis stecken!
Die Meister der Möbel-Werkstatt, welche von Ilja Jemeljanowitsch geleitet wurde, sagten, daß er goldene Hände hätte. Vor allen Dingen war er ein hervorragender Schlosser, Schmied, Sattler und Schuhmacher. Alles, was er herstellte, machte er mit Liebe und großem Fachwissen, und er legte seine ganze Seele in das, was er schuf.
Irgendwie hatte die Kolonie vor dem Krieg an irgendeiner Industrie-Ausstellung von irgendwelchen Erzeugnissen teilgenommen. Ilja Jemeljanowitsch hatte mit seinen eigenen Händen für diese Ausstellung einen Kosaken-Sattel angefertigt. Seine Arbeit wurde mit der höchsten Punktzahl bewertet, und der Sattel ging als bestes Exponat nach Moskau.
Für die Bewertung der Qualität des Stahls brauchte er nur hinzuschauen, welche Art von Funken flogen, wenn sie mit dem Schmirgel bearbeitet worden waren, um festzulegen, ob sie für diese oder jene Warenart geeignet waren.
Ilja Jemeljanowitsch hätte ein Gelehrter sein können. Er verstand es, in die Tiefen dessen vorzudringen, mit dem er in Berührung kam, und wenn er auf irgendwelche Unklarheiten oder Rätsel stieß, dann bemühte er sich, eine Lösoung zu finden – und häufig fand er sie auch.
Dieser Mensch stand mit beiden Beinen auf der Erde, liebte sie und war im großen und ganzen sehr wißbegierig. Er konnte fließend Kasachisch, Chinesisch und Mongolisch und verfügte über ein kolossales Erinnerungsvermögen, obwohl er niemals zur Schule gegangen war. Das Lesen, Schreiben und die vier Grundrechenarten hatte ihm irgendein geflohener Soldat beigebracht.
Irgendwie bat ich ihn darum, seine Biographie zu erzählen.
- Welche Biographie denn? – fragte mich Ilja Jemeljanowitsch. – Als ob ich Wolodja wäre
(Ilja Jemeljanowitsch nannte Lenin immer bei seinem Vornamen und erklärte: er ist mein Jahrgang)!
Sein Großvater, Held des Vaterländischen Krieges von 1812, war mit unseren Truppen in West-Europa gewesen, und als er sich daran sattgesehen hatte, wie die Leute dort lebten, und nachdem er in die Heimat zurückgekehrt war, hatte er nicht den Wunsch gehegt, sich noch einmal unter das Joch seines Gutsherrn zu begeben, sondern war zu den freien Grund- und Bodenflächen Sibiriens abgereist, gelangte ins Altai-Gebiet und siedelte sich auf dem Niemandsland am Fluß Katun an. Dort fand er ebensolche entflohenen Russen vor, welche sich in diesem Land der Reichtümer und märchenhaften Wunder, dem russischen Eldorado niedergelassen hatten. Am Fluß Sema baute er eine Wassermühle, fing an Bienen zu züchten, gewerbsmäßig zu jagen, Gold zu suchen und zu schmieden.
Ilja Jemeljanowitschs Vater, Jemeljan Semjonow, der kaum etwas unterschreiben konnte, verfügte über ein ungeheures Gedächtnis. Er befaßte sich mit Viehhandel, lebte kaum zuhause. Ewig war er mit seinen zahlreichen Vieh- und Schafherden auf den Handels- wegen Sibiriens, Kasachstans, Chinas und der Mongolei unterwegs. Er besaß keinerlei buchhalterischen Aufzeichnungen oder Unterlagen. Seine gesamten Handelsbeziehungen hatte er im Gedächtnis. Bei dieser Gelegenheit muß gesagt werden, daß Jemeljan Semjonow für seine Handelsoperationen keinerlei Eigenkapital besaß: er hatte sich mit den Moskauer Gildekaufleuten zusammengeschlossen – von ihnen bekam er auch Kredit.
Im Jahre 1900, nach dem Pokrow-Fest (kirchlicher Feiertag; Anm. de. Übers.), als er gerade erst aus Moskau zurückgekehrt war, wohin er zu dieser Zeit immer fuhr, um die Abrechnungen mit seinen Kreditgebern zu erledigen, verstarb plötzlich Ilja Jemeljanowitschs Vater. Nachdem er ihn beerdigt hatte, überlegte Ilja Jemeljanowitsch, was er tun sollte. Von seinem Großvater hatte er sich dessen spezielle Fähigkeiten angeeignet (der Großvater war schon lange tot). Viele tausend Werst hatte er auf den Handelsstrecken und –wegen durchfahren und seinem Vater geholfen. So beschloß Ilja Jemeljanowitsch zum Chef seines Vaters nach Moskau zu fahren. Nachdem er zu Pferde bis Omsk gelangt war, fuhr er mit der Eisenbahn weiter nach Moskau. Der Moskauer Chef hatte Ilja Jemeoljanowitsch noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen. Als er ihm nun begegnete, sah er ihn aufmerksam, an und fragte:
- Ganz und gar nicht Jemeljans Sohn. – Und mit einem Hauch von Feindseligkeit fügte er hinzu: - Und was ist mit Papa? – Ja, der Sohn, - bekräftigte Ilja Jemeljanowitsch, - und den Papa habe ich kürzlich begraben.
Der Kaufmann lud Ilja Jemeljanowitsch zu sich ein, fragte ihn lange darüber aus, wie es zu all diesem Unglück gekommen war. Kaufmännische Angelegenheiten sind sehr gefährlich. Ein Kaufmann hat stets Geld bei sich, und es gibt viele, die hinter diesem Geld her sind. Egal, wo du auch bist, wem du begegnest, hab immer ein Auge darauf, sonst schicken sie dich bald in jene andere Welt hinüber. Nachdem der Kaufmann erfahren hatte, daß Jemeljan ohne Fremdeinwirkung gestorben war, beunruhigte er sich ein wenig und fragte schließlich:
- Nun, und womit gedenkst du dich zu beschäftigen? Offenbar auch mit Kaufmannsdingen.
- Ich möchte das machen, was mein Väterchen gemacht hat. Auf seinen Strecken und Wegen bin ich schon viel unterwegs gewesen. Aber da braucht man schon ein paar Geldscheinchen.
- Wegen des Geldes komm morgen wieder. Ich hab welches.
- Am nächsten Tag, - erzählte Ilja Jjjemeljanowitsch, - händigte mir der Kaufmann von Angesicht zu Angesicht, ohne jegliche Dokumente oder Empfangsbescheinigungen, vierzig Tausend Scheinchen aus, wir verabschiedeten uns und gingen auseinander.
Vor dem 1. Weltkrieg war Ilja Jemeljanowitsch ewig auf den Handelswegen zwischen Rußland, China und der Mongolei unterwegs. Egal wo er war, mit wem er zusammentraf, er war stets ein willkommener Gast. Da er mehrere asiatische Sprachen fließend konnte, kannte er sich auch ganz ausgezeichnet mit der Lebensweise, den Sitten und Gebräuchen, Sprichworten, Redensarten und Märchen jener Völker aus, mit denen er geschäftlich zu tun hatte.
Er kannte sich auf den tausende von Kilometern langen Handelsstraßen, auf den Weideplätzen, an den Tränken gut aus, wußte genau, auf welche Weise und zu welcher Zeit man am besten auf die Märkte gelangen konnte, damit seine Tiere auch gesund und munter waren und nicht etwa ihre Warenfähigkeit verloren. Er war nicht nur ein Kaufmann in eigener Person, sondern auch kein schlechter Zootechniker und Tierarzt.
Auf einem hochgewachsenen Rennpferd, mit einem Revolver in der Tasche und einer Winchester auf dem Rücken, galoppierte er mal vor, mal hinter seinen zahlreichen Schafherden her.
- Besonders viel wurde mir zuteil, - sagte er, - als ich nach dem Verkauf meiner Tiere vom Markt zurückkehrte. Ich kaufte die gesamte Ausschußware auf, die aus den Verkäufen der anderen Kaufleute dieses Marktes nachgeblieben war, und wenn ich zum Beispiel 15000 zum Markt hingetrieben hatte, dann trieb ich auch oft ebensoviele wieder von dort weg. Aber wieviel Mühe und Sachkenntnis hat es mich gekostet, diesen „Abgänge“ bis zum nächsten regulären Markt zu einem gebührenden Aussehen zu verhelfen, damit man sie dann auch verkaufen konnte.
-Gestatten Sie, Ilja Jemeljanowitsch, - unterbrach ich ihn. – Aber wissen sie auch, daß Ihresgleichen jetzt Kaufleute genannt werden, die mit den Ausbeutern und Blutegeln die Bauern zugrunde richten. Wenn sie von Kaufleuten reden, dann erinnern sie sich immer an irgendwelche Saufgelage oder mutwilligen Streiche. Und Sie sprechen von Arbeit und Mühe.
- Aber das sagen die Schwätzer, die außer Büchern nichts weiter gesehen haben. Die Arbeit eines Kaufmannes ist schwer und gefährlich. Du kommst ja schließlich nicht allein auf den Markt. Es gibt dort eine Menge Konkurrenten. Jeder bietet dem Bauern einen Preis an, und der ist auch nicht dumm: er nimmt das, was für ihn vorteilhaft ist. Deswegen kann man ihm nicht viel abknöpfen. Danach ist der Bauer, den jetzt so viele beweinen, von unseren Kaufmannsgeldern nur reich geworden, so daß dies ihm die Möglichkeit gab, seine Produktion für den Markt zu entwickeln.
Danach gab Ilja Jemeljanowitsch auf und endete mit den Worten:
- Niemals ist ein Kaufmann betrunken gewesen oder über die Stränge geschlagen. Solle es doch einmal vorgekommen sein, dann höchstens, nachdem er eine schwere Arbeit bereits zuende geführt hatte. Der russische Mensch mag im großen und ganzen gern nach der Arbeit
abschalten und ein wenig ausgelassen sein. Warum sollte das nicht auch ein Kaufmann tun?
Nun erzähle ich euch von mir einen Vorfall, bei dem ich mir erlaubt habe, so etwas wie ein Spiel zu spielen und kein Geschäft zu machen.
Ich kam mit 15 Herden à 1000 Schafe vom Irkutsker Markt. Das heißt 15000 Stück, die ich für wenig Geld erstanden hatte. Ich verließ mit diesen Invaliden, die ich praktisch für einen Apfel und ein Ei erstanden hatte, die Stadt. Zum Glück war das Wetter gut, die Weiden ebenfalls. Nach ein paar Monaten waren meine Invaliden nicht wiederzuerkennen: weder Krankheiten, noch Todesfälle – und sie setzten sogar Fett an. Es war die reine Freude. Irgendwie bemerkte ich, daß oben auf dem Weg etwa 15 Kasachen vorbeigingen. Am nächsten Tag fiel mir auf, daß selbige Kasachen wieder zurückkamen. Sie fragten mich, ob ich nicht eine junge Kasachin gesehen hätte. Es stellte sich heraus, daß dem alten Bai (mittelasiatischer Großbauer; Anm. d. Übers.) höchstpersönlich seine eigene junge Frau davongelaufen war.
Ich war selbst noch jung, und die Geschäfte liefen gut. Und da interessierte ich mich denn auch für diese Kasachenfrau.
Ach, und wie gute Augen habe ich damals noch gehabt.
Also ich reite da so auf meinem Rennpferd, vor mir die Schafherde auf der Wiese, auf der verstreut Heuhaufen herumliegen. Ich schaue umher und sehe bei einem der Heuhaufen ein menschliches Wesen. Die Kasachin, denke ich. Ich fange an, ihr auf Kasachisch etwas zuzurufen. Sie antwortet nicht. Aber dennoch zwang ich sie, etwas zu sagen, als ich ihr versprach, sie bei ihren Eltern abzuliefern.
Am Abend, als eine meiner Schafherden über diese Wiese lief, versteckte ich die Kasachenfrau in einer Arba (einem zweirädrigen Karren; Anm. de. Übers.) mit Medikamenten. In der Nacht stieg sie aus dem Karren, wurde von den Hirten mit Essen versorgt und dann dorthin gebracht, wo ihre Eltern wohnten. Ich selbst zog weiter. Die Eltern der Kasachin sah ich in Tränen aufgelöst. Sie hatten geglaubt, daß ihre Tochter von Wölfen gefressen worden war.
Ich bat sie um kamulaki (offensichtlich sind dies irgendwelche Gegenstände, die, wie beim Kartenlegen, zur Vorhersage zukünftiger Ereignisse dienten). Beim ersten Mal legte ich sie aus und erklärte den Eltern, daß ihre Tochter am Leben war, beim zweiten Mal – daß sie sich nicht weit von ihnen entfernt aufhielt; beim dritten Mal – daß sie morgen abend zuhause sein würde.
Die Kasachen faßten wieder Mut. Sie sahen mich an wie ein Orakel, wiesen mir einen Ehrenplatz zu und verpflegten ihn wie einen berühmten Gast. Und als dann am frühen Morgen ihre Tochter bei ihnen auftauchte, wollte der Vater mir zehn Hammel schenken, die ich jedoch ablehnte. So waren mir nun drei Tage meiner Kaufmannsgeschäfte verlorengegangen, weil ich sie mit der soeben erzählten Geschichte von dem geflohenen Kasachen-Mädchen verbracht hatte. Und das nur deswegen, weil ich mir dieses Spiel hatte erlauben können, weil meine Geschäfte zu jener Zeit außerordentlich gut gingen.
- Da haben Sie ja einen kaufmännischen Schabernack getrieben, - endete er.
Ilja Jemeljanowitsch hatte noch eine Schwäche. In dem zweirädrigen Karren reiste mit ihm und einer seiner Schafherden ein internationales Kollektiv von Artisten und Ringern. In den russischen Dörfern, kasachischen Auls (Siedlungen; Anm. d. Übers.) oder mongolischen und chinesischen Kischlaks (Dörfern; Anm. d. Übers.) trat Ilja Jemeljanow mit seinem Theater jeweils in der Sprache auf, in der auch die zahlreichen Zuhörer sich verständigten.
Bei den Artisten handelte es sich um dressierte Murmeltiere, die er in den Bergen des Tien-Chan gefangen hatte, als sie noch ganz jung gewesen waren. Durch unendlich viele Übungen hatte er die Murmeltiere so abgerichtet, daß sie auf den improvisierten Bühnen wunderbare Kämpfe austrugen, wobei sie den Befehlen ihres Erziehers in den entsprechenden Sprachen Folge leisteten. Allerdings befaßte sich Ilja Jemeljanowitsch mit seinen Artisten nur dann, wenn er dazu in Stimmung war. Und die hing davon ob, wie seine Geschäfte gingen.
Es kam der erste Weltkrieg. Ilja Jemeljanowitsch zählte zum Bauernstand und wurde in die Armee einberufen. Ebenso wie sein Großvater irgendwann im Vaterländischen Krieg von 1812, als er den Stafettenstab für Helden entgegennahm, erhielt auch Ilja Jemeljanowitsch im ersten Jahr seines Kriegsdienstes aufgrund seines heldenhaften Verhaltens einige Ehrenkreuze, weil er nämlich Soldaten aus den Schützengräben gefangen genommen hatte, denen er verschiedene Informationen entlockte. Ilja Jemeljanowitsch wollte ein vollkommener Georgsordensträger werden, aber Ende 1915 wurde er durch eine Quetschung verletzt, kam ins Hospital und wurde nach seiner Genesung aufgrund seines Gesundheitszustandes ganz von der Liste zum Militärdienst gestrichen.
- Als ich nach Hause zurückkehrte, - erzählte Ilja Jemeljanowitsch, - ergab sich die Frage, mit was ich mich beschäftigen sollte. Für kaufmännische Tätigkeiten mußte man bei guter Gesundheit sein. Dies Beschäftigung war also ganz und gar hinfällig geworden. Irgendwann einmal, in meiner Kindheit, hatte ich mit meinem Großvater mit Bienen herumgewirtschaftet; ich kannte mich damit aus, und nun zog es mich wieder dahin. Am Oberlauf des Katun erspähte ich einen Platz, der für nichts geeignet war, außer für Imkerei, und so kaufte ich ihn von der Gemeinde.
Das winzige Grundstück stellte sich als Abhang dar, der nach Süden gerichtet und mit Wald bedeckt war, und durch den ein ziemlich heiteres Bächlein floß. Vor allem stapelte ich erst einmal Baumstämme für die zukünftigen Bienenstöcke, errichtete am Bach eine Werkstatt mit einem Sägewerk und allen möglichen mechanischen Vorrichtungen zum Zersägen, Hobeln und Verrichten anderer Arbeiten. Und all diese Vorrichtungen wurden vom Wasser des Bächleins angetrieben.
Ein Jahr nach Beginn der Arbeiten befanden sich auf meinem Gelände bereits eintausend Bienenstöcke. Die Bienenvölker bestellte ich per Post aus dem Ausland, über eine Petersburger Bienenzucht-Gesellschaft, direkt in Paketen. Es gab viele Scherereien. Aber die Sache ging gut aus. Während der Saison verkaufte ich an die Kaufleute bis zu 10.000 Pud von einer Honigsorte (1 Pud = 16,38 kg; Anm. d. Übers.). Und ebensoviel Wachs!
Für meine Arbeit interessierte sich in Petersburg Professor Koschewnikow. Nach seinen Aufträgen leistete ich mit meinem Bienenstand eine große, erfahrungsreiche Arbeit. Später schrieb ich darüber auch ein Buch. Es wurde gedruckt. Aus Petersburg kam sogar Koschewnikow höchstpersönlich angereist, um sich meine Imkerei anzusehen.
Irgendwie näherte sich meinem Bienenstand ein Fahrzeug, und ihm entstieg jemand, der nicht aus unserer Region stammte. Als der Mann mich erblickte, fragte er:
- Ist dies die Bienenzüchterei von Ilja Jemeljanowitsch Semjonow?
- Ja, das ist sie, antworte ich.
- Und kann ich ihn vielleicht sehen?
- Sehen Sie sich ruhig um, - erwidere ich, - sich umsehen ist nicht verboten.
- Wo ist er denn? – fragt der Professor verlegen.
- Na, hier steht er doch, - antworte ich ihm. Mein Aussehen ist nicht gerade sehr einladend, und damals hielt man mich immer für einen von Ilja Semjonows Arbeitern.
Wir machten uns miteinander bekannt. Er wohnte bei mir etwa zwei Wochen lang, studierte eingehend das, mit dem ich mich befaßte. Alles bei mir gefiel ihm. Und ich ihm offensichtlich auch. Nach den Plänen des Professors fing ich, abgesehen von allem anderen, an, mich mit dem Züchten von Bienen zu befassen. Obwohl mein gelehrter Leiter in Petersburg wohnte, schrieben wir uns häufig Briefe, und unser Zuchtprojekt lief gut. Aber dann gelang mir irgendwie die erfolgreiche Kreuzung zwischen einer kaukasischen Bergbiene und einer hiesigen Biene. Ich schrieb das alles dem Professor. Ich wartete und wartete – aber es kam keine Antwort. Später erfuhr ich: in Petersburg ist die Revolution ausgebrochen. Bis zu uns brauchten diese Nachrichten sehr lange. Später tauchten dann auch bei uns mal die Weißen, mal die Roten auf. Aber eines haben sie gemeinsam – alle lieben Süßes. Anfangs kamen sie zu Besuch – dann fingen sie an, mich einzuschüchtern und zu erschrecken, als ob ich mit meinen Bienen die Konterrevolution heranzüchten würde. Und dann kamen auch noch die Bären von irgendwo her und begannen sich der Imkerei zu bemächtigen. Ich schaute und schaute, und eines nachts machte ich mich ganz schnell aus dem Staub, wie man so sagt – mit unbekanntem Ziel.
Schließlich gelangte ich zu ein paar mir bekannten Mongolen in die Mongolei. Ich fing ein trächtiges Murmeltier-Weibchen, wartete, bis es fünf Junge geworfen hatte – zwei Weibchen und drei Männchen. Die Mutter ließ ich mit ihren Töchtern in die Berge laufen; mit den Jungs fing ich an, mich zu beschäftigen, und bald besaß ich so ein Theater mit Kämpfern und Akrobaten, mit denen ich irgendwann einmal auf den Handelswegen reiste. Gleichzeitig behandelte ich das Vieh der Mongolen, heilte aber auch Menschen.
Die Zeit verging. Meine Künstler hatten sich aus kleinen Jungtierchen zu stattlichen Murmeltieren entwickelt.
Aus der Heimat drangen lückenhafte Nachrichten darüber an mein Ohr, daß dort ein friedliches Leben in Gang gekommen war.
Irgendwie tauchte in dem Dorf, in dem ich wohnte, der Vorsitzende der sowjetischen Viehimport-Gesellschaft auf. Er schlug mir vor, als Viehbeschaffer zu ihm in die Mongolei zu kommen. Die Arbeit war mir bekannt, und so wurde ich bald Angestellter des sowjetischen Handelszentrums. Meine Arbeit war lächerlich einfach. Jetzt fürchtete ich schon keine Konkurrenten mehr (das Gebiet der Mongolei war aufgeteilt zwischen mehreren unserer sowjetischen „Kaufleute“); nachdem ich bei den Mongolen Vieh erworben und es weiter- verkauft hatte, machte ich mir keine weiteren Sorgen um seine Sicherheit. Es ist nicht so, wie es früher war. Was die Preise betraf, so störte mich dabei niemand; wie ich bereits sagte, gab es keine Konkurrenten.
Ich hatte jetzt keine Kopfschmerzen mehr wie früher, wem und wie ich das beschaffte Vieh verkaufen sollte. Die Arbeit verlief so ruhig, daß ich sogar mit der Zeit ein kleines Bäuchlein bekam – das hatte es vorher noch nie gegeben.
Verständlich, daß ich mich jedes Jahr auf Urlaub in die heimatlichen Gefilde begab. Ich sah, wie hier das Volk aus der Asche des Bürgerkrieges tatsächlich in heldenhafter Weise seine Wirtschaft wiederhergestellt hatte. Die Seele freute sich.
Na ja, Anfang der 1930er Jahre begann die Vernichtung dessen, was so erfolgreich aufgebaut worden war. Der Bestand an Rindern, Pferden und Schafen in unserem Lande sank in katastrophaler Weise.
- Was soll das bedeuten? – fragte ich den Kommissar, mit dem ich zusammentraf.
- Das ist, - sagte er, - die Politik der Partei.
Ich kam nicht zur Ruhe. Wie das so ist, wenn alles Lebendige, von dem unser Volk jahrhundertelang ruhig und friedlich gelebt hat, vernichtet wird. Was ist das für eine Politik, wenn aus unserem Land, wie Ratten von einem sinkenden Schiff, die Bewohner ganzer Dörfer von Oiraten (Volksstamm; Anm. d. Übers.) in die Mongolei, von Kasachen nach China strömten. Hier stimmt doch etwas nicht, hier verursacht doch irgendwer Schaden. Und da bestellten die verantwortlichen Organe auch mich zu sich. Du bist ein erbitterter Antisowjetler, sagen sie. Dich muß man ganz gehörig umerziehen, sagen sie, damit du begreifst was Sache ist.
Sie brummten mir zehn Jahre auf und schickten mich zum Bau-Projekt des Weißmeer-Ostsee-Kanals.
Vor Arbeit habe ich mich nie gefürchtet. Arbeit – ist ein Segen für die Menschheit. Damals war ich noch jung: gerade etwas mehr als sechzehn Jahre alt. Unzählige von uns jagten sie in die Karelischen Berge. Es gab sowohl Sitzbuben und Gauner, als auch würdevolle Menschen, die mehr aus den Kreisen der Gelehrten, der Ingenieure kamen. Viele wurden dort dahingemetzelt. In meiner Brigade (ich arbeitete dort als Brigadeführer) gab es Professoren, sogar einen Akademiker. Alle hatten sie, genau wie mich, zur Umerziehung hierhergejagt. Einer meiner Professoren erzählte immer wieder, wie Petersburg durch Peter I. auf den Knochen der Bauern errichtet wurde, und er verglich jenes Bauprojekt mit dem Bau des Weißmeer-Kanals. Er kam dort, wie viele andere „Akademiker“ auch, ums Leben. Später, als sie Baracken errichteten, wurde es mit der Verpflegung besser; viele überlebten und wurden sogar nach Bauende vorzeitig nach Hause entlassen. So schenkte auch ich Stalin ganze fünf, nicht ersetzbare Jahre meines Lebens.
Ich kam nach Norilsk nach Hause. Mein Sohn war dorthin umgezogen. Bei ihm wohnte auch meine Alte (gemeint ist hier seine Frau).
Nun war ich bereits umerzogen. In der Stadt standen schreckliche Schlangen nach Brot an, es gab kein Fett, keine Butter – ich schweige. Wenn sie früher alle kleinen Fische weggeholt hatten, so verhafteten sie jetzt die großen, Kommissare mit Orden – und ich schweige erneut. Ich begann als Schlosser in einer Fabrik zu arbeiten. Und auch von dort holten sie die Leute weg. Für die Produktion war dies natürlich nicht von Nutzen, aber ich schweige. Auch die, die schwiegen, wurden verhaftet. Man fing an über sie zu reden: - Wenn sie erst einmal schweigen, dann bedeutet es, daß sie sich irgendwelche Heimlichkeiten ausdenken.
Nachdem ich vom Leben in der Baracke genug hatte, beschloß ich mir ein Holz-Häuschen zu bauen und dort in aller Ruhe die Zeiten zu überdauern. Aber auch hier haben sie mich beim Schlafittchen gekriegt. Ich sage es ganz offen: ich bin kein schlechter Holzschnitzer. Ich habe das nirgends gelernt, sondern mir selbst beigebracht. Und da entschloß ich Dummkopf mich, obwohl ich umerzogen worden war, dieses Häuschen nach altem russischen Brauch mit Schnittholz zu verieren. Dabei kam dann kein Haus heraus, sondern, wie ein Heimatkundler sagte, „ein wahres Kunstwerk“. Ausflügler kamen in Strömen zu mir. Man berichtete in der Zeitung über mich, nannte mich einen „Volksmeister“, einen geschickten Künstler.
Die Sache lief darauf hinaus, daß ich nicht umerzogen worden war. Und wozu mußte ich mich auch mit diesen Schnitzereien befassen – eine Frage, die ich mir heute noch stelle. Jedenfalls schenkte man andernorts dieser künstlerischen Tätigkeit große Aufmerksamkeit: ich wurde dorthin bestellt.
- Sind Sie Ilja Jemeljanowitsch Semjonow?
- Ja, - sage ich, - das bin ich, der Sohn meiner eigenen Eltern.
- Und stimmt es, - sagen sie, - daß sie seinerzeit verurteilt wurden und eine Haftstrafe abgesessen haben? – Und sie holen die mir bekannte, alte Akte mit der Aufschrift „aufbewahren für alle Zeit“ hervor.
- Ja, - sage ich. Aber verzeihen Sie, - sage ich, - als Bestarbeiter beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals namens Stalin bin ich rechtzeitig verurteilt worden.
- Das, - sagen sie, - ist uns bekannt. Aber es interessiert uns nicht. Uns interessiert vielmehr Ihre jetzige Persönlichkeit. Wir haben beschlossen Sie zu verhaften.
- Wie, - frage ich, - verhaften? Ich bin Werktätiger, ich arbeite als Schlosser in der Fabrik, erhalte anläßlich der großen Feiertage von der Verwaltung Dankbarkeitsbekundungen wegen Übererfüllung ...
- Und das,- unterbrach ihn der Untersuchungsrichter, - ist die uns bekannte, gegenwärtige Taktik unserer potentiellen Feinde, daß sie nämlich hin und wieder sogar als Bestarbeiter einherstolzieren, um dann das Messer in den Rücken der Revolution zu stoßen.
Von solchen „Feinden der Revolution“ kamen viele zusammen und, um den Urteilen wenigstens irgendwie einen juristischen Sinn zu verleihen, hatten sie sich im Kreml das Sonder-Kollegium beim Ministerium für Innere Angelegenheiten ausgedacht. Dieses Sonder-Kollegium bemühte sich nicht darum, juristisch seine Entscheidungen zu begründen , sondern ganz einfach dem einen oder anderen Opfer die Haftstrafe zur verkünden: 10 Jahre.
Es kam alles so, wie Krylow gesagt hatte: „Du hast dich schon deswegen schuldig gemacht, dass ich essen möchte“.
Als ich über siebzig Jahre alt war, beschlossen sie mich abzuschreiben. Was daraus geworden ist, habe ich euch ja schon erzählt. Wegen meines Alters schickten sie mich in genau diese Invaliden-Kolonie, als wenn es meine letzte Lebensetappe wäre. Von hier aus befördern sie dich dann nur noch auf den Dorffriedhof.
In der Kolonie hatte ich nun das Recht erworben nicht zu arbeiten und 550 gr Graubrot sowie die allgemein übliche Wassersuppe zu erhalten. So weit hatte ich es also gebracht. In Freiheit, nicht wahr, da geben sie dir kein einziges Gramm ohne Geld – und hier:
- Ilja Jemeljanowitsch, da, nimm dein Brot und deine Suppe, bitteschön.
Aber, wie ihr wißt, kann ich nicht tatenlos herumsitzen. In unserer Kolonie gilt die Möbeltischlerei als führende Werkstatt. Sie bringt das größte Kapital in unsere Kasse. Und so bittet mich denn auch der Leiter der Kolonie diese Werkstatt zu leiten.
Du brauchst gar nichts tun, sagen sie. Setz dich nur ruhig hin und paß auf, daß alles so läuft, wie es sein soll.
Ich bin nie ein Trunkenbold gewesen, aber vor dem Mittagessen ein Gläschen trinken – das ist mein Gesetz. Ohne dieses Schnäpschen ist das Mittagessen kein Mittagessen. Und so sage ich sogleich zum Leiter:
- Na gut! Ich bin damit einverstanden, zum Wohl der Kolonie zu arbeiten. Aber sag deinen Wachhunden (so nannte Ilja Jemeljanowitsch die Aufseher), daß sie ja nicht den Wodka wegnehmen sollen, wenn die Leute aus der Freiheit mir welchen mitbringen. Vor dem Mittagessen muß ich ein Gläschen schlucken. Dann wird auch die Arbeit gelingen. Er willigte ein, und dann brachte ich vier Jahre lang die Köpfe meiner Tischler zur Vernunft. Ich sprach dem Leiter gegenüber auch noch eine zweite Bedingung aus, und zwar, daß mich während der Nachtschicht niemand störte. Ich mag gern ausschlafen. Diese Bedingung wurde, Gott sei Dank, ebenfalls erfüllt. Es ist schön in der Werkstatt, wenn die Arbeit geregelt verläuft, wenn jeder seinen Platz kennt und weiß, was er zu tun hat. Aber schlimm ist folgendes: wenn du jemandem etwas beibringst, deine Hoffnungen in ihn setzt und – dann ist plötzlich seine Haftstrafe zuende. Dann muß man wieder Neue anlernen. Ich habe selbst gesehen, wie Ilja Jemeljanowitsch Neulinge ausbildete, in deren Arrestanten-Papieren stand, daß sie von Beruf Zimmerleute waren, mitunter sogar Tischler. Schrecklich streng ging der Leiter der Möbelabteilung mit ihm um.
- Und wie bist du an die Hobelbank gekommen? – zog er plötzlich über den Neuling mit dieser Frage her, oder:
- Mensch, wie hältst du denn das Werkzeug? Bist du vielleicht ein Krüppel?
Er kletterte von seinem Brettergerüst herunter, das sich in der Mitte der Werkstatt befand, von wo aus er die Arbeit der Meister beobachten konnte, nahm dem Anfänger das Werkzeug aus der Hand, zeigte ihm, wie man es anfassen mußte, wie man es benutzte. Und es kam vor, daß er während einer Schicht die Werkbank überhaupt nicht mehr verließ, sondern dort arbeitete wie ein Meister.
Aber wer bei Ilja Jemeljanowitsch seine Lehre durchlaufen hatte, wurde wahrscheinlich auf Lebenszeit ein erstklassiger Tischler.
Nach jeder Schicht war Ilja Jemeljanowitsch schrecklich müde. Aber ein Becher Wodka, ein guter Schlaf, und schon war er wieder zur Arbeit bereit.
Große körperliche Anstrengungen verlangten ihm auch die verschiedenen, nicht geplanten und nebenbei zu erledigenden Möbel-Bestellungen seitens der vielen Leiter ab. Diese Art von Arbeiten durfte man nicht in die Arbeitslisten der Häftlinge eintragen. Daher erledigte der Werkstattleiter all dies mit seiner eigenen Hände Arbeit, um nicht die gesetzluch vorgeschriebene Produktion der Meister zu verringern, denn nach ihr richtete sich die Höhe der Brotration und der übrigen warmen Verpflegung. Und für eine einigermaßen erträgliche Ernährung der Arbeiter in seiner Werkstatt war Ilja Jemeljanowitsch stets am Kämpfen.
- Ein Mensch, der hungert – kann nicht arbeiten, - sagte Ilja Jemeljanowitsch.
Der März ging zuende. Und draußen herrschten immer noch sibirische Fröste. Die Werkstätten der Arbeitskolonie waren beheizt, aber die Baracken, mit Ausnahme der „Stachanow“-Baracke (in der die Bestarbeiter einsaßen; Anm. d. Übers.), nicht. Nachts froren die Menschen ganz entsetzlich, sehnsüchtig warteten sie auf ihre Schicht, damit sie sich bei der Arbeit wieder aufwärmen konnten. Nach dem Morgenappell kam ein riesiger Ochsenschlitten zu den Baracken gefahren; von dort wurden die während der Nacht verstorbenen Häftlinge hinausgetragen und auf den Schlitten geladen. Anschließend wurden sie zur Krankenstation gebracht. Ein Arzt trat heraus, um die Leichen zu überprüfen, damit nicht etwa irgendein Verbrecher entlaufen war. Der Doktor fühlte diesem und jenem den Puls, und danach bewegte sich der Schlitten auch schon aus der Lagerzone hinaus, in die Freiheit. Irgendwo dort wurden die toten Körper aufgestapelt, bis die Erde aufgetaut war und sie begraben werden konnten. Heute erzählte nicht Ilja Jemeljanowitsch und ich hörte zu - es war umgekehrt. Ich war am Erzählen.
An jenem Tag starb der Fuhrmann des Treibhauses. Ich hatte ihn noch während der Quarantänezeit im allgemeinen Gefängnis kennengelernt.
Er hatte nur eine kurze Haftstrafe aufgebrummt bekommen und wartete nun aud seine Verschickung in ein Arbeitslager. Daher erkundigte er sich bei den erfahrenen Häftlingen nach den Bedingungen des Lagerlebens.
- Ich war früher Bergmann. Ich fürchte keine Arbeit, - sagte er. – Die höchste Brotration von 950 gr wird mir stets sicher sein.
Und ich, der ich mein Leben lang hinter Büchern gesessen hatte, beneidete jetzt die körperlichen Kräfte meiner Mitbrüder in der Gefangenschaft, mit denen ich mich in Zukunft bei der Arbeit messen mußte, um zu überleben.
Er war der Erste, den sie ins Lager wegholten. Wohin, in welches Lager, das sagten sie uns nicht. Und dann, endlich, fand auch ich mich im Lager wieder. Zu meiner Verwunderung traf ich in diesem Lager meinen Bergmann wieder.
- Na, wie geht’s? Wie steht’s mit der Arbeit? – begann ich ihn auszufragen. Es stellte sich heraus, daß es damit bei ihm ganz und gar schlecht bestellt war: es ist ganz egal, wieviel ich arbeite, aber der Brigadeleiter schreibt nur soviel auf, wie er an geleisteter Arbeit über hat, die er dann seinen Freunden zuschreibt. Es sieht so aus, als ob man hier sein Brot nicht für seine Arbeit bekommt, sondern dafür, wie der Brigadier dich beurteilt.
Um meinen Kameraden von einer derartigen Ungerechtigkeit zu erlösen, holt ich ihn als Fuhrmann in mein Gewächshaus.
- Ein paar Ochsen, einen Schlitten, das Transportieren von Brennholz, das Abtransportieren von Dünger für die Felder – und schon sind dir deine täglichen 950 gr Brot, die allgemeine und die warme Krankenmahlzeit sicher. Mehr bekommt hier niemand, egal, für welche Arbeit, - sagte ich ihm. Mit Freude willigte er ein und machte sich an die Arbeit. Aber zu jener Zeit war er körperlich sehr geschwächt, und es war bitterkalt: tagsüber war er draußen in der Kälte und nachts in der kalten Baracke. Schließlich konnte er nicht mehr und verstarb.
Nun, davon erzählte ich auch Ilja Jemeljanowitsch. Kurz darauf, ungeachtet dessen, daß es schon spät war, öffnete sich unsere Zimmertür, und im Türrahmen erschien der Kopf des Aufsehers. Er rief Ilja Jemeljanowitsch zu sich. Ein ungewöhnlicher Vorfall: noch nie hatte ihn jemand während der Nacht herausgerufen.
Bald kehrte er aus dem Vorbau zurück und begann, sich neben dem Kleiderhaken in aller Eile warm anzuziehen. Anschließend trat er an mich heran und bat mich, ihm von seinem Kopfende den Krückstock zu geben, von dem er sich niemals getrennt hatte. Ich gab ihn ihm und fragte:
- Was ist das denn, Ilja Jemeljanowitsch, sie verletzen selber ihr ureigenes Prinzip – niemals zur Nachtschicht zu gehen?
Er neigte sich an mein Ohr vor und flüsterte:
- Ich gehe einen Sarg anfertigen. Der Oberaufseher ist gestorben – Moskin. – Dann lächelte er, zwinkerte mir zu und fügte noch hinzu: um für sie Särge zu bauen, bin ich die ganze Nacht bereit! – Und damit ging er hinaus.
Am nächsten Tag war Ilja Jemeljanowitsch guter Laune, wohl deswegen, weil Aufseher Moskin gestorben war. Es war sogar erstaunlich, wie der Tod ein Gefühl der Genugtuung hervorrufen kann.
Es schien, daß Ilja Jemeljanowitsch diesen Moskin schon seit langem gekannt hatte – und folgendes hat er über ihn erzählt. Dieser Moskin war ein typischer Parasit gewesen, der unbarmherzig das Blut aus den Gefangenen herausgesaugt hatte. Hager und hochgewachsen, hatte er mit scharfem Blick all das gesucht, was er den Häftlingen wegnehmen konnte. Er hatte niemals und vor nichts irgendwelche Skrupel empfunden und aus der Arbeitskolonie alles an Lebensmitteln, welche den Gefangenen von ihren Verwandten aus der Freiheit geschickt worden waren, bis hin zu allen möglichen anderen Sachen, zu sich nach Hause geschleppt.
Bei ihm in der Zone arbeiteten urki (Berufsverbrecher; Anm. d. Übers.). Sie klauen irgendetwas – und es wandert zu Moskin, ins Zimmer des Aufsehers. Der Besitzer der Sachen läuft eine Zeitlang herum und beruhigt sich dann wieder; der betreffende Gegenstand wird in Moskins Wohnung gebracht, und seine Frau wird dann alles auf dem Markt veräußern.
- Ein Nichtsnutz war dieser Moskin, - endete Ilja Jemeljanowitsch seine Erzählung über ihn. – Nun ist er gestorben, und kein Mensch trauert um ihn.
Und aus diesem Anlaß schlug er vor, eine Partie Schach zu spielen. Ilja Jemeljanowitsch liebte das Schachspielen sehr; er begeisterte sich geradezu dafür und war auch ein ganz bemerkenswerter Spieler. Wir spielten einige Partien, ich spielte zu schnell, zu unüberlegt und verlor jedesmal. Als ich merkte, daß er beschlossen hatte, mich ganz bewußt gewinnen zu lassen, lehnte ich es ab weiterzuspielen – unter Hinweis auf meine Müdigkeit.
Es kam das Frühjahr 1945. Der 9. Mai, der Tag des Sieges, wurde sogar in der Arbeitskolonie fröhlich begangen. Alle erwarteten eine große Amnestie. Nur Ilja Jemeljanowitsch wartete nicht darauf, und, wie ich bemerkte, verlangte es ihn auch gar nicht nach Freiheit: - Hier ist es ruhig, - sagte er. – Es ist allein schon gut, daß sie einen nicht erneut einsperren.
Er freute sich darüber, daß man in meinem Namen ein Gesuch auf Freistellung von der ständigen Begleitung durch Wachpersonal gestellt hatte. – Das ist gut. Du hast eine lange Haftstrafe bekommen. Unter Schußwaffen-Begleitung hat man es schwer. Und so wird es für dich wie für einen Freien sein, nur daß du keine Familie hast.
Aber der Wehrkreis Alma-Ata erteilte einen abschlägigen Bescheid, und meine Leitung fing an, sich mir gegenüber anders zu verhalten: unter Bewachung war ich für sie nicht zu gebrauchen.
Kurz darauf, im Juni, wurde mir plötzlich verkündet: „Mach dich fertig! Du gehst auf Etappe!“ Sie gaben mir nur wenig Zeit zum Packen. Solange sie mich nicht hinter Schloß und Riegel steckten, lief ich schnell zu Ilja Jemeljanowitsch. Er hatte nicht erwartet, daß die Sache so ausgehen würde. Es war keine Zeit sich lange zu unterhalten. Unter Tränen umarmten wir uns und nahmen voneinander Abschied – vermutlich sollten wir uns auf dieser vergänglichen Erde niemals wiedersehen.
März 1970