„Wenn es einen Menschen gibt, dann gibt es auch eine Akte“
(Juristisches Axiom der Stalin-Zeit)
In einer nicht sehr angenehmen Sommernacht weckten sie mich erneut – „mir Sachen“. In den vorangegangenen Wochen, war ich allein oder zusammen mit den anderen mehrfach wie ein Nomade von Zelle zu Zelle, von Stockwerk zu Stockwerk, gezogen, so dass ich den Befehl „mit Sachen“ als etwas ganz Gewöhnliches aufnahm, und sogar mit einer gewissen Neugier, in der Hoffnung, neue Leute zu treffen und wenigstens auf diese Weise der Langeweile des grauen Gefängnisalltags ein wenig zu entgehen. Diesmal jedoch führten sie mich in den Hof, in dem zwei „Schwarze Raben“ standen, aber kein „Chignon“, mit dem sie mich in die Lubjanka gebracht hatten, sondern einen Planwagen mit großer Ladefläche, mit dem normalerweise Brot transportiert wurde. Im Wagenkasten gab es mehrere unterteilte Bereiche. In einem davon verstaute man mich und schlug dann die Türen zu. Dann waren erneut Schritte, Stimmen und Türenschlagen zu hören, und endlich, nach etwa 20 Minuten, setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Aus meinem „Schrankfach“ konnte ich verständlicherweise nichts sehen; also versuchte ich anhand der Zeit und mit Hilfe des Straßenzustands zu ermitteln, wohin wir fuhren. Mal polterten unter den Rädern Pflastersteine, mal zischte weich der Asphalt, was den Beweis dafür erbrachte, dass wir durch die Stadt fuhren, und die Fahrt selber dauerte dann auch nur wenige Minuten. Wieder schlugen Türen, Schritte schlurften. Schließlich öffneten sich die Türen meines Schrankverhaus, und ich stieg aus dem Fahrzeug. Ich brauchte mich gar nicht großartig umzuschauen, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass ich mich erneut im Gefängnis befand, und zwar nicht in einem so schönfarbigen wie der Lubjanka, sondern in einem klassischen – in der Art wie das Schloß von If. Es handelte sich um ein massives, drei- oder viergeschossiges Gebäude, innen leerstehend, so dass man von der ersten Etage aus alle anderen sehen konnte, welche den Zuschauer wie die Wände eines riesigen Brunnens umgaben. In jedem Stockwerk befanden sich entlang des gesamten „Brunnen“-Umfangs schmale eiserne Fußbodenbeläge, und der ganze leere Raum zwischen ihnen war von einem metallenen Netz bedeckt. Die „Geister“, die an den Wänden entlang über diesen Belag gingen, konnten somit das gesamte Gefängnis beobachten, was für sie eine gewisse Bequemlichkeit schuf und zufällige Begegnungen von Häftlingen ausschloß, die, ungeachtet des vorsichtigen Verhaltens der im Dienst befindlichen Korridoroffiziere, dennoch gelegentlich in der Lubjanka auftauchten. Im äußeren Brunnenrand des Gebäudes lagen, wie Honigwaben, die Zellen, deren Türen nach innen aufgingen und auf die eiserne Galerie hinausführten. Die engen Fensteröffnungen an der Stirnseite der Zellen waren vergittert und mit Sichtschutzen verschlossen, sie zeigten zur Fassade des Gebäudes hinaus. Wie aus der Beschreibung des Gebäudes ersichtlich ist, gab es hier keinerlei Korridore – und auch keine Toiletten. In der Kammer befanden sich ein Klosett- und ein Waschbecken. Zu Zarenzeiten waren die Zellen wohl für jeweils einen Gefangenen gedacht gewesen, aber jetzt, als Folge der fleißigen Arbeit des NKWD, waren in jeder Zelle jeweils drei Häftlinge untergebracht. Jedenfalls war das in unserer Zelle der Fall. Diese düstere Anstalt war bekannt unter dem Namen Lefortowo-Gefängnis, und es genoß einen noch viel weniger schmeichelhaften Ruhm als die Lubjanka. Nachdem ich die zahlreichen eisenbeschlagenen Treppen hinaufgestiegen war und über den entlang den Zellen mit Eisenplatten ausgelegten Boden den für mich vorgesehenen künftigen Wohnsitz erreicht hatte, saßen darin bereits zwei Mann. Ihre Bettstellen standen an den Zellwänden, so dass ich mich quer zu ihnen einquartierte, unter der Fensternische. Die Zelle war etwa 3 x 4 Meter groß, und es war darin praktisch kein freier Platz vorhanden. Die Wände waren gewaltig, etwa einen Meter dick, und das kleine Fensterchen unter der Decke ließ fast überhaupt kein Licht und auch keine Luft herein. In einer Wandnische neben der Tür, auf einem Sockel, stand ein gußeisernes Toilettenbecken, so dass sein Besucher wie auf einem Thron saß. Dieser „Thron“ begünstigte übrigens nicht gerade das ökologische Wohlergehen, besonders dann, wenn wir wegen der drückenden Luft sowieso schon kaum atmen konnten und uns der Schweiß nur so herunterlief. Die Wände waren in einem düsteren Farbton gestrichen, und sowohl die massive Bauweise als auch die schwergewichtige Atmosphäre drückten einen moralisch und physisch nieder. Wer waren meine neuen Kompagnons? Einer, ein wohlgestalteter Bärtiger, war russischer Emigrant, ein Journalist aus Rumänien, der Zweite sah schrecklich hager und blaß aus, genau wie Kernes, und unterrichtete an der Militärakademie; er war ebenfalls Jude. Seinen Nachnamen weiß ich nicht mehr. Im Unterschied zu seinem Kollegen war der neue Professor noch vor dem Kriege verhaftet worden, hatte nicht wenige Jahre in einem Lager in Karaganda verbracht, war unheimlich abgemagert, hatte sich die Pellagra geholt und war irgendwie dem Tod von der Schippe gesprungen. Jetzt war er zur weiteren Ermittlung in seinem Fall herausgerufen worden. Er war zurückhaltend, sprach wenig über sein Verfahren und glaubte offensichtlich nicht sehr an einen guten Ausgang der neuerlichen Überprüfung. Vom Augenblick meines Eintreffens an, rief mich niemand zu sich, allerdings gaben sie mir auch weiterhin zusätzliche Verpflegung. Allerdings wurde ich gleich am ersten Tag kahlgeschoren, und ich verlor das letzte Attribut von Freiheit. Wir verbrachten die ganze Zeit auf unseren Pritschen, denn umhergehen konnte man in der Zelle nicht, und es gab nirgend Platz, um ein wenig Gymnastik zu betreiben. Vor lauter Langeweile fing ich an, beim Journalisten Unterricht in rumänischer Sprache zu nehmen, und nach einer Woche konnte ich bereits eine kleine Erzählung über ein mir vorgegebens Thema verfassen. Bei Häftlingen ist die Fantasie ziemlich gut entwickelt. Sie neigen dazu, verschiedene Theorien zu erarbeiten, deren Anlaß etwas irgendwo Gehörtes oder Gelesenes ist. Diese Theorien nehmen irgendwann den Zug der Realität an, verbreiten sich durch Übertragung von Zelle zu Zelle, werden mit immer neuen Einzelheiten ausgeschmückt, und wandern schließlich durchs ganze Lager, als würde es sich um ein ganz offizielles Dokument handeln. Zu jenem Zeitpunkt waren aufgrund eines solchen, keine Zweifel zulassenden Gerüchts, Worte in Umlauf gebracht worden, die Stalin angeblich gesagt haben sollte, und nach denen eine noch nie dagewesene Amnestie erlassen werden sollte. Dieses Gerücht, das ich schon in der Lubjanka vernommen hatte, war auch in Lefortowo bekannt, und wurde von meinen Gesprächspartnern ausgiebig kommentiert – der Eine betrachtete es vom Standpunkt der Dialektik aus, der Andere zog diverse humanitäre Schlußfolgerungen. Beide zusamemn bestätigten, dass solche wie ich, die unter keinen Paragraphen internationalen Rechts fielen, die ersten Kandidaten sein würden, auf die sich diese nie dagewesene Amnestie auswirken sollte. Ach! Dieses süße Gerede ...! Etwa eine Woche nach meiner Ankunft im Gefängnis Lefortowo holten sie mich zum Verhör. Mit stockendem Herzschlag machte ich mich auf den Weg, von einem Gefühl zwischen Hoffnung und Sorge getragen. Im Amtszimmer begrüßte mich ein junger Hauptmann namens Iltschenko. Ohne weitere Umschweife legte er mir meine Anklageschrift nach § 58-6 vor. Sie besagte, dass ich der Sohn eines Weißgardisten und freiwillig in den Dienst der Deutschen getreten war, dass man mich ferner mit dem Ziel ins Hinterland der Sowjetarmee geschickt hatte, dort militärische Aufklärung zu betreiben usw. Man verlangte, dass ich das Dokument für den Anfang unterschreiben sollte. Die Sache versetzte mir einen schweren Schlag, aber dennoch sträubte ich mich und verweigerte meine Unterschrift, denn das Stück Papier spiegelte in einer nicht objektiven Weise den Kern der Sache wider. Erstens war mein Vater kein Weißgardist, zweitens: auch wenn ich tatsächlich zu den Deutschen übergegangen war, so war dies mit dem Wissen, dem Einverständnis und sogar der Befürwortung der bulgarischen Kommunisten geschehen, und drittens hatte ich zu meiner Absicht wieder zu den Meinen überzuwechseln, bereits detaillierte Aussagen gemacht; ich hatte also keine Spionage- und Sabotageakte begangen und auch nie Anstalten gemacht dies zu tun, was meine Kameraden sicher gern bestätigen konnten, na ja, und schließlich, wenn ich mich über alles Gesagte hinwegsetzte, war ich ausländischer Staatsbürger, der in der Armee des Gegners gedient hatte, und so widersprachen meine Handlungen wohl keineswegs den internationalen Normen des Kriegsrechts. Iltschenko war ein wenig verblüfft über eine derartige Jurisprudenz und begann seinen Standpunkt zu verteidigen: mein Vater wäre Emigrant? – Dann wäre er also folgerichtig ein Weißemigrant, und das käme einem Weißgardisten gleich. Zu den Deutschen wäre ich ganz freiwillig gegangen, man hätte mich nicht gewaltsam dorthin geschleppt, das war auch richtig – internationales Recht, aber es war eine Erfindung der Bourgeoisie und daher von den Sowjetorganen nicht anerkannt; und was die Zeugenaussagen meiner Kameraden beträfe – das wären doch genau solche Lumpenhunde wie ich. „Inwiefern bin ich den ein Lumpenhund?“ – brauste ich auf. Weder in der Lubjanka, noch im heruntergekommenen Wologda waren mir derartige Beiwörter verliehen worden. Iltschenko war etwas verwirrt: „Übrigens, vielleicht betrifft Sie das ja gar nicht. Sie sind ein ideologischer Gegner ...“ Im Großen und Ganzen war das ein mißlungenes Gespräch. ich unterschrieb die Anklageschrift nicht, und man brachte mich in die Zelle zurück. Ich berichtete alles meinen Mitbewohnern. Der Mythos über die nie dagewesene Amnestie wurde zu Schall und Rauch. Aber der Journalist verlor seinen Optimismus nicht. „Kann Ihnen doch egal sein, wessen man Sie da beschuldigt“ – meinte er. „So oder so werden alle bald freigelassen“. Auch der lagererfahrene Professor hieß man Beharrlichkeit nicht gut, allerdings vertrat er dabei einen ganz anderen Standpunkt. „Es spielt überhaupt keine Rolle, ob Sie Ihre Anklageschrift unterschreiben oder nicht. Die schreiben bloß auf, dass Sie Ihre Unterschrift verweigert haben, und dann nimmt das Verfahren so oder so seinen Lauf. Und in Ihrem eigenen Interesse ist es besser, wenn der Fall so schnell wie möglich abgeschlossen wird und Sie ins Lager kommen, so lange Sie noch bei Kräften sind. Andernfalls drohen Erschöpfung, Abmagerung und – der Tod“. Ich war zum ersten Mal auf eine derartige Interpretation der Lage gestoßen, und dazu noch aus dem Munde eines Mannes, der bereits alle Kreise der Hölle durchgemacht hatte, und seine Worte lagen mir wie Felsbrocken auf der Seele.
Einige Tage vergingen, bis mich Hauptmann Iltschenk erneut zu sich rufen ließ. „Na, was ist? Haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie nun die Anklageschrift unterschreiben wollen oder nicht?“ – fragte er. Schweigend nahm ich den Schreiber und unterzeichnete das Schriftstück. Dann begann der mir bereits bekannte Prozeß des Protokollschreibens. Eigentlich gab es in den ganzen Fragen nichts Neues. Aber ich bestand ganz fest darauf, die mir gestellte Aufgabe nicht zu erfüllen. Iltschenko überlegte. Ich merkte, dass er das, worauf ich bestand, nicht aufschreiben konnte. Für seienn Liberalismus würde er einiges zu hören bekommen. Andererseits schenkt er mir im Innern seines Herzens Glauben und möchte mir helfen. „Nun, was würden Sie tun, wenn Sie die Möglichkeit hätten?“ – fragte er. Ich erklärte, dass ich alles daransetzen würde, bis zur sowjetischen Führungsspitze vorzudringen. Im äußersten Fall konnte ich mir die in meinem Besitz befindlichen Blankoformulare und das Geld zunutze machen und versuchen, bis zu ihnen nach Bulgarien zu kommen“. Diese Idee gefiel Iltschenko, und auf die Frage: „Werden Sie die Ihnen übertragene Aufgabe erledigen?“ – notierte er als Antwort diese Variante. Unsere weitere Unterredung verlief in friedlichem Ton, und bald wurde meine Akte, die sich nur als dünnes Aktenmäppchen mit insgesamt zehn Blättchen Papier darstellte, geschlossen. Trotzdem brachte ich anschließend dem Hauptmann gegenüber mein Mißfallen anläßlich der Formulierung der Anklageschrift sowie diverser Verfälschungen der von mir tatsächlich gesprochen Worte zum Ausdruck. „Na und“ – sagte Iltschenko“, darüber wird sich der Staatsanwalt mit Ihnen unterhalten und dann können Sie ihm sagen, was Sie zu reklamieren haben“. Dann trennten wir uns, und einige Tage später brachte mich die Limousine mit den Schrankverschlägen in ein neues Quartier, in das in der Verbrecherwelt weit bekannte Butyrka-Gefängnis, wo ich meine Gerichtsverhandlung abwarten sollte.