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P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 53

„Die Sonne geht auf und unter,
Sie ist wie ein Kreisel, genau wie wir.
Aber in meinem Gefängnis ist es dunkel,
Es ist keine gute Hütte. Tag und Nacht bewacht der Aufseher
Meine kleine Fensteröffnung.“
(Aus einem altenGefängnislied) (das Gleiche, allerdings auf „Chinesisch“)

Die Sonne ging mehr als zweihundert Mal auf und unter, während ich in der Butyrka saß. Aber alles der Reihe nach. Das Butyrka-Gefängnis wurde bereits zu Zarenzeiten erbaut, das man sich als ein riesiges, bedeutsames Gebäude vorstellen muß. Über die Anzahl seiner Insassen gab es unterschiedliche Gerüchte, aber auf jeden Fall waren es Tausende. Eine Standardzelle, so sagte man, war für 25 Personen gedacht. Anstelle von Bettstellen waren an den Wänden Metallgestelle aus Rohren befestigt, über die Überzüge aus Segeltuch gespannt waren, was eine gewisse Ähnlichkeit mit Klappbetten ergab. Zu meiner Zeit wurden all diese Konstruktionen von einem durchgehenden hölzernen Bretterbelag entlang der beiden langen Wände übertroffen, und auf diesen Pritschen waren, mit entsprechender Tuchfühlung, bis zu 100 Mann untergebracht. Der zwischen beiden Pritschenreihen verbleibende Platz wurde von einem langgezogenen Tisch und ein paar ebenso langen Bänken eingenommen. An der der Tür gegenüberliegenden Wand befand sich das einzige Fenster, ziemlich groß, aber ebenfalls mit einer eisernen Abschirmung bedeckt, so dass es für die große Anzahl Menschen nur wenig Licht und frische Luft hindurchließ – und das bei großer Sommerhitze. Die schwierige Lage wurde noch durch einen riesigen „Abortkübel“ verstärkt, der an der Tür stand und zweimal am Tag von den Diensthabenden hinausgetragen wurde. Zwischen all den beschriebenen „Möbelstücken“ blieben noch etwa 5 m Platz als Durchgang, welcher denjenigen für Spaziergänge diente, die noch nicht den Antrieb verloren hatten, ihre physische Form zu bewahren. Es gab nur wenige davon, hauptsächlich einige Moskauer aus den Reihen der Intelligenz, die durch Einzelhaft noch nicht allzu erschöpft waren und zudem Pakete erhalten hatten. Der Großteil der Häftlinge verbrachte den Tag auf den Pritschen, mit Unterhaltungen oder einfach mit bedecktem Kopf daliegend und von der nächsten Ausgabe des Mittag- oder Abendessens träumend. Angesichts der Überfüllung war es erlaubt, sich hinzulegen und zu schlafen wann immer man wollte. Die Verpflegung war hier für alle gleich. Morgens, nach dem traditionellen Ausführen zum Abort und zum Zählappell, begannen die Essensklappen in den Türen zu klirren, und man hörte auf den Korridoren das Rollen der Verpflegungswagen. In solchen Augenblicken saßen alle schon schweigend auf ihren Unterlagen und lauschten angespannt dem sich nähernden Geräusch der Räder und dem Schlagen der umliegenden Essensklappen. Schließlich erstarb der Lärm an der eigenen Zellentür, die Durchreiche wurde geöffnet, und der Aufseher rief den Zellenältesten zu sich. Nach Überprüfung der Insassenanzahl begann die Ausgabe des Brotes. Es wurde für den ganzen Tag verteilt – je 600 gr. Es war sehr schwarz, sehr feucht und die „Ration“ sah ziemlich klein aus. Das Brot wurde auf einem zu diesem Zweck herangerollten Tisch ausgelegt und vom Ältesten sowie dem diensthabenden Offizier in Reihen angeordnet, und zwar zuerst die Bortkanten und dann die Mittelstücke. Nach diesem Arrangement ermittelte man, wer gestern als letzter ein Endstück erhalten hatte. Mit ihm begann dann die erneute Brotausgabe, man stellte denjenigen fest, der das letzte Endstück bekam, und dann verteilten sie auch die Mittelstücke.Nach der Brotausgabe ergab sich ein quälendes Problem – wie man es für den ganzen Tag einteilen sollte. Sie zerteilten ihr Stück mit Hilfe von Bindfäden, die sie mit aus ihrer Kleidung gezogenen Fäden zusammengedreht hatten. Manche Stoiker teilten ihr Brot in drei gleiche oder ungleiche Teile, andere schnitten es in Würfel, in der Absicht, jede Stunde eines davon zu essen; aber die Mehrheit grübelte nicht lange über das Wie und Wann – sie aßen die gesamte Ration auf einmal und legten sich dann hin, in der quälenden Erwartung auf den nächsten Tag - mit der gewohnten Brotration. Zum Mittagessen wiederholte sich der Vorgang, aber diesmal waren es die kleinen Behälter und Schüsseln, die so laut klapperten. Die Schüsseln wurden ebenfalls in Reihen auf den Tisch gestellt, in ihnen wurde Suppe ausgegeben. Anschließend wies der Diensthabende mit dem Finger auf eine von ihnen und fragte: „Wem gehört die?“ – Irgendeiner nannte seinen Familiennamen, und mit ihm begann dann auch die Ausgabe der Schälchen. Den zweiten Gang nahm dann schon jeder selber in Empfang, indem er mit der nach dem ersten Gang geleerten Schüssel wieder an den Tisch herantrat. Die Speisekarte war total eintönig: Sauerkohlsuppe (der Kohl war bereits im August sauer eingelegt worden!) mit Anchovis, an den zumindest der Geruch der in der trüben Brühe schwimmenden Augen erinnerte. Das zweite Gericht bestand aus flüssigem Hirsebrei oder, was schon fast wie ein Feiertag war, Hafergrütze aus grobem Korn. Je 200 Gramm. Vieltrinker konnten sich auch am kochenden Wasser versuchen, das morgens und abends verteilt wurde. Natürlich war nach einer Woche mit dieser Diät jeder Wunsch nach gymnastischer Betätigung hinfällig, und das Thema Nr. 1 waren Gespräche über das Essen und die Möglichkeiten, unterschiedliche Boef-Stroganoffs, Schaschliks und andere Fleischgerichte zuzubereiten. Die Zellbevölkerung bestand ausschließlich aus Konterrevolutionären. Für sie hatte man offensichtlich einen separaten Block oder Flügel des Gebäudes zur Verfügung. Die Insassen waren äußerst vielseitig, sowohl in puncto Alter als auch im Hinblick auf ihre Nationalität, ihr kulturelles Niveau und diverse andere Merkmale. Selten fand man dort auch gewöhnliche Kriminlelle an, die wohl nicht das geklaut hatten, was sie hätten klauen sollen, und die sich dafür den § 58 eingehandelt hatten. Während meiner „großen Sitzung“ in der Butyrka passierten hunderte Personen und Schicksale mein Gesicht, und ich möchte hier nur einige wenige von ihnen erwähnen, die besonders interessant und erinnerungswürdig sind. Aber zunächst einiges über mich. Einige Tage nach meinem Eintreffen in der Butyrka rief man mich zum Staatsanwalt. Ich wurde begrüßt von einem grimmigen Mann um die 50, der im Rang eines Oberst stand. Vor ihm lag die dünne Mappe mit meinem „Fall“. Er gab sie mir zum Durchblättern und fragte, ob ich irgendwelche Reklamationen gegen das Untersuchungsverfahren vorzubringen hätte. Ich erinnerte mich an mein Abschiedsgespräch mit Hauptmann Iltschenko und begann heftig um die Interpretation meiner Anklageschrift und einiger anderer Punkte zu ringen. Der Oberst hörte zerstreut zu und verkündete dann, dass es zu seinen Aufgaben gehöre festzustellen, ob es während des Ermittlungsverfahrens irgendwelche Zwangsanwendungen oder unerlaubte Aktionen gegeben hätte; ich hätte aber das Recht, Fragen, bei denen sich Diskrepanzen ergeben hätten, dem Gericht vorzutragen, das dann auch die Entscheidung träfe, ob diese zu berücksichtigen seien oder nicht. Danach sprachen wir noch ein paar Minuten über die Ereignisse in der Welt. Der Oberst berichtete von den Ergebnissen der Potsdamer Konferenz, und wir stritten sogar ein wenig darüber, inwieweit man den Alliierten Glauben schenken konnte. Dann unterschrieb ich den sogenannten § 206 und kehrte in meine Zelle zurück. Ich wartete, dass man mich in den nächsten Tagen vor Gericht holen würde, und bereitete bereits in Gedanken meine Verteidigungsrede vor. Stattdessen rief man mich in den Korridor hinaus (oder kam zu mir in die Zelle) und gab mir dort ein Stück Papier mit einer Mitteilung zum Unterschreiben, dass mein Fall an ein Sonderkollegium des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR weitergeleitet worden war. Was war das denn für ein Ding – dieses Sonderkollegium oder wie sie es nannten? Es handelte sich um eine Instanz, analog der in den 1930er Jahren üblichen NKWD-Trojkas, die in Abwesenheit Urteile aussprachen. Wie mich die „Juristen“ in meiner Zelle aufklärten, wurden dem Sonderkollegium zu unserer Zeit Fälle vorgelegt, in denen ein Straftatbestand ziemlich zweifelhaft war. Das Sonderkollegium konnte Urteile mit bis zu 10 Jahren verhängen, mehr nicht, und auch ohne nachfolgende Aberkennung der bürgerlichen Rechte. Aber wie sie bestätigten, gab es Fälle, in denen man dem Häftling nach Ablauf seiner Haftstrafe mitteilte, dass diese noch einmal um 5 oder 10 Jahre verlängert worden wäre. (Das kam tatsächlich vor, aber während meiner Lageraufenthalte geschah dies kein einziges Mal). So eine durchtriebene Organisation war das also. Sie hatte übrigens ihre Wegbereiter und Vorläufer. Als ich noch mit Sysojew in der Lubjanka einsaß, lasen und diskutierten wir über ein Buch mit den Erinnerungen eines gewissen Schriftstellers namens Pantelejew. Seinerzeit hatte er als Student an der revolutionären Arbeit teilgenommen und war verhaftet worden. Allerdings war es im folgenden nicht gelungen, die notwendigen Beweise gegen ihn vorzubringen, und deswegen wurde sein Fall zur Überprüfung an den General-Gouverneur weitergeleitet. Der fällte den Beschluß: „Es liegt kein corpus delicti vor, aber er ist offenkundig ein Schuft. Daher ist er für einen Zeitraum von ..... an einen entlegenen Ort in Sibirien zu verbannen“. Das Sonderkollegium, im Vergleich zur Einzelperson des Gouverneurs, war schon einen Schritt weiter, handelte aber nach dem gleichen Gouverneursprinzip. Personen, die eindeutig wegen antistaatlicher Absichten oder Handlungen überführt waren, gingen in den Zuständigkeitsbereich eines Militärgerichts über und erhielten 10 Jahre, allerdings mit nachfolgender Aberkennung aller Rechte – in der Regel für einen Zeitraum von 5 Jahren. Man nannte es „10 plus 5 auf die Hörner“.

Auch ich begann auf die wohlwollende Resolution des Sonderkollegiums zu warten, und ich wartetete fast 8 Monate. Wie es zu einer derartigen Verzögerung kam, vermag ich nicht zu sagen. Normalerweise fiel ein solcher Entschluß innerhalb weniger Wochen, selten erst nach einigen Monaten. Vielleicht fand auch das Sonderkollegium, wie Optimisten meinten, keine hinreichende Grundlage für einen Urteilsspruch. Aber man rief mich jedenfalls während dieser geamten Wartezeit nicht ein einziges Mal hinaus, weder um meine Zeugenaussage zu präzisieren, noch um die Fakten ein weiteres Mal zu überprüfen. Pessimisten warnten davor, dass man möglicherweise zum zusätzlichen Studium meiner Denkweise und meiner Überzeugungen noch sogenannte „Glucken“ auf mich ansetzen könnte, d.h. besonders treue Informanten. Ich weiß es nicht, alles ist möglich, vor allem in einem solchen Personenkreis. Im übrigen gab es auch für solche Mutmaßungen Gründe. Als ich noch in der Lubjanka war, hatte ich im Eifer des Gefechts, ohne die eigentliche Person des Führers aller Völker zu berühren, meine Unmut über die Tatsache geäußert, dass der „Name Stalins überall alles schönfärbt, wie die Reklame für diese beknackte Seife“. Ich versuche zu erklären, woher dieser Vergleich kam. Bei uns in Bulgarien gab es, neben einigen anderen Haushaltsseifen, auch die der Marke „Sunlight“, was, aus dem Englischen übertragen, soviel wie „Sonnenlicht“ bedeutet. Die Seife war äußerst mittelmäßig, nicht besser als die anderen, aber es wurde eine Menge Reklame um sie gemacht, angefangen von den Straßenbahnwaggons bis hin zu Leuchttransparenten an den Hausdächern, was ihre Popularität bei den Käufern in erheblichem Maße förderte. Nun, diese Erinnerung hatte mich auch auf den wenig schmeichelhaften Vergleich in Bezug auf den Genossen Stalin gebracht. Auf irgendeine Art und Weise war diese Äußerung an Oberstleutnant Nikitin gelangt, und obwohl er mich deswegen lediglich wegen Nichtachtung des Vaters und Lehrmeisters ins Gebet nahm, denke ich, dass sie doch eine entscheidende Rolle in meinem weiteren Schicksal spielte. Und nun zu den Menschen. Wenn ein Neuer in die Zelle kam, dann hagelten für gewöhnlich sogleich eine Menge Fragen auf ihn herab: „Wer bist du? Woher kommst du? Weswegen bist du hier?“ Nach diesem ersten „Fragebogen“, nahm einer, der ihm aufgrund seines Wohnortes, seiner Nationalitätenzugehörigkeit oder seines Paragraphen nahestand, ihn beiseite und machte für den Neuling jene 50-60 cm Platz frei, auf dem dieser nun in den nächsten Wochen oder Monaten hausen sollte. So hielten sich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft einige Bekannte von früher, aber auch gänzlich unbekannte Leute auf. Von den Bekannten erwähne ich einen, dem ich noch in Sofia begegnet war, einem Freund der Familie Sievers – Pawel Nikolajewtisch Kusnezow. Dieser P.N. war war ein besonders leidenschaftlicher und aktiver Agitator gegen die Deutschen und Hitler gewesen, aber auch ein ebenso leidenschaftlicher Angler. Ihm ähnlich war auch seine Ehefrau, Ärztin von Beruf, die alle Überzeugungen und Leidenschaften ihres Ehemanns teilte und ihn gleichzeitig aufgrund eines Zwölffingerdarm-Geschwürs, an dem er litt, fürsorglich umhegte. Der Aufenthalt dieses Mannes in einem sowjetischen Gefängnis war für mich ebenso unerwartet, wie es das Auftauchen eines Mammuts in der Stadt gewesen wäre, aber Fakt bleibt Fakt. Es war auch verwunderlich, dass er überhaupt noch am Leben war, nachdem er von der strengen Diät, die ihm seine Frau verordnet hatte, inzwischen zu Kohlsuppe mit Fischaugen übergegangen war. Es stellte sich jedoch heraus, dass P.N., obwohl er äußerst abgemagert aussah, sein Geschwür vollkommen vergessen hatte und die Speisekarte in Gedanken nur deshalb bejammerte, weil sie immer so spärlich ausfiel. Er saß wegen seiner formellen Mitgliedschaft in irgendeiner Emigranten-Organisation. Als zweiter Bekannter erwies sich mein Mitbewohner aus der Lubjanka – Gurgen Semjonowitsch Sarkisjan aus Bukarest.

In diesen Monaten war er stark abgemagert, älter geworden, war jedoch, genau wie Pawel Nikolajewitsch, von der kümmerlichen Gefängnisbrühe von seinem Magengeschwür genesen. Ich traf auch noch einige Leute aus Bulgarien. Einer von ihnen, ein gewisser Safonow, war einer der Leiter der Kutepowsker Kompanie gewesen und hatte gleichzeitig, zusammen mit dem bereits bekannten Oberst Aleksandrow, zum aktiven Flügel der Allgemeinen Militärvereinigung ROWS gehört. Dieser Safonow berichtete mir von jenen geheimen Operationen der ROWS, von denen nicht einmal ihre einfachen Mitglieder die geringste Ahnung hatten, und ich schon gar nicht, einschließlich der Einschleusung von Spionen und Diversanten in die UdSSR sowie der Liquidation physischer Personen, die verdächtigt wurden, mit der Sowjetunion zu sympathisieren und mit der sowjetischen Botschaft Verbindungen zu unterhalten. Oberst Aleksandrow hatte persönlich mindestens an einer solcher Liquidationen mitgewirkt. Danach tauchte ein grauhaariger, mürrischer Alter in Zivil, mit dem ganz gewöhnlichen Aussehen eines Rentners, auf. Tatsächlich erwies er sich als Leiter der bulgarischen militärischen Gegenspionage – Oberst Stojanow. Mir persönlich sagte dieser Name nichts, aber viele Jahre später erfuhr ich von jener boshaften Rolle, welche dieser Mann bei der Vernichtung der Kommunisten in Bulgarien gespielt hatte. Und schließlich, eines schönen Tages, ließ sich neben mir noch ein Alterchen mit Bart und wohlgeformtem Gesicht nieder – Nikolaj Ugodnik. Der alte Mann trug grobe Kleidung, wie sie Menschen vom Lande zueigen war, und einen Schaffellhut, wie bulgarische Bauern ihn zu tragen pflegen. Nichtsdestoweniger handelte es sich bei ihm um eine historische Persönlichkeit, die im Roman „Der stille Don“ von Scholochow Erwähnung findet. Es war Pawel Kudinow, Anführer einer der Gruppierungen der Don-Kosakenschaft, die sich weder zu den Roten, noch zu den Weißen hingezogen fühlten, sondern die versuchten, ihren eigenständigen bäuerlichen Weg zu gehen und sich irgendwie in der Gesellschaft zu etablieren. Es ist wohl klar, dass diese naive Idee zum Scheitern verurteilt war; Kudinov fand sich in der Emigration wieder, heiratete eine Bulgarin und arbeitete als Fotograf in einer trostlosen Provinzstadt, in der ihn dann auch das NKWD ausfindig machte, um ihn für seine eigentlich nicht kriminelle antisowjetische Aktivität 25 Jahre zuvor zur Verantwortung zu ziehen. Kudinow sprach mit ruhiger, singender Stimme, wobei er nicht selten bulgarische und russische Wörter miteinander vermischte; er war ein interessanter Gesprächspartner, denn er eröffnete einem Seiten der Geschichte, die meiner Generation gänzlich unbekannt waren, abgesehen von ein paar Zeilen des „Stillen Don“.

Wenn ich nun schon die Kosakenschaft streife, möchte ich hinzufügen, dass ich in der Butyrka dem zweiten Sohn von Ataman Krasnow und seinem Enkel begegnete. Sie sahen beide ebenso farblos aus, wie der zuvor beschriebene Sohn. Er hatte sich an dem widerborstigen und unversöhnlichen Kosaken-Oberst, der wohl auf den Namen Migunow hörte, kein Beispiel genommen; dieser Migunow hatte nicht versucht, seinen Haß gegenüber den Bolschewiken zu verbergen, und auf meine Bemerkung, dass der Ataman selbst einen seiner Romane „Verstehen – verzeihen“ betitelt hatte, antwortete er: „Verstehen – das begreife ich noch, aber verzeihen- niemals!“ Um auf das Kosakenthema nicht noch einmal zurückkommen zu müssen, sage ich, dass Ataman Krasnow und Divisionskommandeur von Panwitz sowie einige andere Akteure bestraft wurden und meine Bekannten offenbar achtkantig im Lager landeten – zusammen mit tausenden ihrer ganz gewöhnlichen Kampfgefährten in Hitlers Diensten. Von den anderen Ausländern fand ich zwei junge Deutsche recht interessant, die zu unterschiedlichen Zeiten meine Nachbarn waren. Sie hießen Hans und Harry, Mitglieder der Besatzung eines der Flugzeuge, die sich im Auftrag der deutschen Aufklärung um das Absetzen von Fallschirmspringern und Saboteuren gekümmert hatten. Ich habe irgendwie erwähnt, dass unsere Verladung im Winter 1943/44 abgebrochen wurde, weil wir die JU-90 nicht bekommen hatten, die für Fern-Aktionen vorgesehen war. Und genau mit diesem Flugzeug war die Geschichte dieser beiden Deutschen verknüpft, einem Funker und einem Bordschützen. Die Sache ereignete sich am Vorabend der Teheran-Konferenz zwischen Stalin, Churchill und Roosevelt. Wie jetzt bekannt ist, hatten die Deutschen die Vereitelung dieses Treffens mit Hilfe von in den Iran entsendeten Agenten geplant. Eine dieser Gruppen sollte deas Flugzeug vom Typ JU-90 irgendwo in Mittel-Asien, nahe der iranisch-russischen Grenze zur Landung bringen. Die Operation hing mit der Landung des Flugzeugs in der Steppe zusammen, mit der Absicht, dort den Tag über abzuwarten und dann in der Nacht zur Basis zurückzukehren. Aber das Flugzeug kehrte nicht zurück. Aus den eingehenden Radiogrammen war klar ersichtlich, dass das Flugzeug eine Bruchlandung gemacht hatte. Für die Reparatur oder zuminest den Abtransport der Besatzung wurde ein anderes Flugzeug geschickt, in dem auch Harry und Hans ihren Dienst versahen. Nachdem sie die vereinbarten Signale erhalten hatten, setzte das Flugzeug zur Landung an, aber beim Aufsetzen geriet die Maschine in einen vorsätzlich ausgehobenen Graben. Gleichzeitig wurde das Feuer auf das Flugzeug eröffnet. Der Pilot drehte die Motoren voll auf und versuchte das Flugzeug aus der Falle herauszubekommen, aber die Räder drehten sich lediglich auf der Stelle. Trotzdem gelang es der Besatzung aus dem Flugzeug herauszuspringen und sich zunächst in der Steppe zu zerstreuen, aber am folgenden Tag waren die von Hunger und Durst gequälten Piloten gezwungen, die Nähe von Menschen aufzusuchen und sich in Gefangenschaft zu begeben. Was die Sowjetischen anging, so waren die meisten von ihnen ehemalige Kriegsgefangene, Wlassow-Leute, Akteure aus nationalen Formierungen und anderen ihnen Nahestehenden. Unter ihnen hoben sich einige Männer hervor, welche eine mir unbekannte graue Uniform trugen. Sie erwiesen sich als Gefangene, die aus Finnland zurückgekehrt waren. Im Vergleich zu denen, die ihre Kriegsgefangenschaft bei den Deutschen verbracht hatten, hatten diese wie Könige gelebt und scheuten sich nun auch nicht, das Leben und die Ordnung der Finnen zu loben. Einer, mit Namen Alitschew, erinnerte ich sowohl wegen seiner mutigen Aussagen, als auch wegen seiner seines sehr zu Herzen gehenden Gesangs von Liedern aus Kriegszeiten. Eine besondere Gruppe unter den Häftlingen waren die Moskauer. Es waren in erster Linie Vertreter der technischen und schaffenden Intelligenz. Sie hielten sich ein wenig im Abseits, gingen den „Vaterlandsverrätern“ aus dem Wege und saßen in der Regel wegen „antisowjetischer Agitation (§ 58-10), weil sie beim Witze-Erzählen entweder ausländische Technik oder andere Waren gelobt hatten. Die Moskauer erhielten Paketsendungen, teilten untereinander und stellten innerhalb des „buntgescheckten Viehs“ eine eigentümliche, aristokratische Zwischenschicht dar. Andererseits „wahrten sie ihr Gesicht“ in versanken nicht in irgendwelchen Themen um den Gefängnisalltag oder die Verpflegung, sondern führten viel- mehr wissenschaftliche Gespräche, stritten über Literatur und hielten sogar Vorlesungen über wissenschaftliche und technische Neuheiten. Unter ihnen war, wie ich mich erinnern kann, auch Jurewitsch, mit dem ich Freundschaft schloß und von dem ich eine Menge erfuhr, denn er war praktisch eine lebendige Enzyklopädie. Er war bestimmt schon über 60 Jahre alt, fast vollständig ergraut, ein Vertreter der alteingesessenen, russichen Intelligenz, mit einem breiten Spektrum an Interessen und einem völlig unverfälschten Humanismus. Im Unterschied zu seinen jüngeren Kollegen erging er sich nicht in kritischen Bewertungen der sowjetischen Realität, und seine Paragraphen-Genossen mieden ihn, weil sie die Befürchtung hegten, dass sie womöglich in die nächste antisowjetische Polemik verwickelt werden könnten. Eine gewisse Belebung im Leben der Zelle brachte das Auftauchen einer großen Gruppe Neuankömmlinge in englischen Militäruniformen. Ihre Geschichte lautete folgendermaßen. Es waren viele hundert, vielleicht sogar tausend Häftlinge, sowjetische Menschen, gefangene Wlassow-Leute, die in Lagern in jenem Teil Deutschlands gehalten worden waren, die sich in der Besatzungszone der Allieerten befanden, nachdem das 3. Reich kapituliert hatte. Man brachte sie in Lagern für sogenannte „verlegte Personen“ unter. Im folgenden, auf Anforderung der sowjetischen Regierung, wurde ein Teil dieser Menschen, nachdem sie neue englische Uniformen erhalten hatten, auf Schiffe verladen; nach einer langen Reise über Meere und Ozeane trafen sie schließlich im iranischen Hafen ein, wo sie der sowjetischen Vertretung übergeben wurden. Es war eine feierliche Begegnung mit Musik und zahlreichen Reden. Anschließend setzte man die Rückkehrer in eine Zug und und transportierte sie über das Kaspische Meer nach Baku. Hier gab es keine Reden; dafür standen schon die beheizbaren Waggons mit vergitterten Fenstern bereit, und die Reise über drei Meere endete irgendwo in der Nähe von Poldolsk, wo man in Sonderlagern Schafe und Ziegen voneinander trennte. Ich weiß nicht, ob es viele „Schafe“ gab, aber die „Ziegen“ trafen in ganzen Partien in der Butyrka ein; sie wurden ein-zwei Tage später vor Gericht gestellt und kehrten am Abend, nachdem sie ihre 10 + 5 „auf die Hörner“ erhalten hatten, in die Zelle zurück, von wo aus man sie dann in ein Übergangsgefängnis brachte, während ihr bisheriger Platz von der nächsten Partie „Iraner“ eingenommen wurde.


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