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P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 54. Die Weisen Zions

Mardachaj trat auf Taras zu, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:
„Wenn WIR und Gott es wollen, dann wird es so sein, wie es sein muß!“
(N.W. Gogol, „Taras Bulba“)

Ich habe extra am Schluß einen Platz für eine etwas farbenprächtigere Gestalt freigelassen. Eines Nachts, es war bereits gegen Morgen, polterte es an der Tür und sie brachten einen Neuen in die Zelle. Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Der eine oder andere hob den Kopf, um sogleich erneut in einen Dämmerschlaf zu fallen, wie er für Gefängnisnächte charakteristisch ist. Nach dem Aufstehen sahen wir einen kleinen, hageren Mann von etwa 40 Jahren am Tisch sitzen; er hatte ein ausgesprochen unfreundliches Gesicht und durchdringende dunkle Augen. Er trug einen weiten Übergangsmantel von guter Qualität, wie es in den 1940er Jahren der letzte Modeschrei war. Auf dem Tisch lag ein Velourhut, wie er damals nicht nur in einem sowjetischen Gefängnis eine Seltenheit war, sondern sogar in den Straßen Moskaus. Es begann die übliche Fragerei. Daß er kein Sowjetrusse war, konnte man auch ohne Worte sehen. Daher lautete die allererste Frage: „Welcher Nationalität bist du?“ – Kurze Antwort: „Jude“. – „Und was bist du von Beruf?“ – „Spion“. – Das war ungewöhnlich und kam völlig unerwartet. Er sprach schlecht Russisch, vermischte russische Begriffe mit tschechischen und polnischen, und deswegen hielten bald alle von ihm Abstand – auch wegen seines recht bissigen Charakters, und keiner hatte es eilig, für ihn ein kleines Plätzchen auf der Pritsche freizumachen. Mir tat er leid, und so schlug ich meinem damaligen Nachbarn P. Kudinow vor, ein wenig zusammenzurücken und den Neuankömmling neben mir unterzubringen. Der widersprach nicht: „Komm nur her, Jüdlein!“ – Auf diese Weise ließ sich Karl Schwarz, er war auch Karl Weiß, in unserer Nachbarschaft nieder. Da ich wohl zu der Zeit der Einzige war, der Deutsch sprach, wurde ich sein wichtigster Gesprächspartner und Vertrauter in Sachen „Firma“. Schwarz war um die Jahrhundertwende in einem hinterwäldlerischen jüdischen Örtchen des damals Österreich-Ungarischen Imperiums geboren („während der Herrschaft des inzwischen verstorbenen Kaisers Franz Josef“) – in einer ebenso hinterwäldlerischen Familie, die mit Müh und Not, mithilfe kleinerer Geschäfte, ihren Lebensunterhalt zusammenbekam. Der halbwüchsige Karl, nachdem er auch keine vernünftige Ausbildung erhalten hatte, machte sich also auf den Weg, um sein Glück in nahen und fernen Ländern zu suchen. Auf diese Weise geriet er nach Palästina, das nach dem Weltkrieg ein unter dem Mandat Großbritanniens stehendes Territorium und das gelobte Land der Zionisten war, das bereits Pläne für die Schaffung eines unabhängigen Staates Israel machte. Dort erlernte Schwarz das Teppichweber-Handwerk, wobei er zunächst als Laufbursche beim Werkstatt-Inhaber und später als Lehrling und Wandergeselle tätig war, nach Europa zurückkehrte und sich in der Tschechoslowakei niederließ, wo er selber eine kleine Teppichweberei eröffnete. Bald darauf entwickelte sich das Geschäft erfolgreich, Produktion und Profit nahmen zu. Und irgendwann geriet der findige Mann dann ins Visier des englischen „Intelligence Service“. Einzelheiten bezüglich der Anwerbung und des Charakters der ihm gestellten Aufgaben kenne ich nicht, aber ich weiß, dass Schwarz unter dem Markenzeichen eines Kaufmanns in vielen Ländern verweilte, wo er nicht nur Handelsgeschäfte abwickelte, sondern auch Spionage-Operationen betrieb. Darunter waren auch solche, die auf die Vereitelung von Aktivitäten der sowjetischen Spionageabwehr gerichtet waren.

In den Jahren des Krieges wurde Schwarz im Auftrag der englischen Aufklärung, und offenbar auch des internationalen Zionismus, in ein kleines Städtchen entsandt, das von den Deutschen des kleinen slowakischen Marionettenstaates gegründet worden war und sich an der Grenze zu Ungarn befand, sowie nach Polen, wo unter dem Schutz des friedlichen Provinzlebens eine aktive Verschiebung von Schmuggelwaren und der mit ihnen im Zusammenhang stehenden Personen stattfind, Mit Hilfe finanzieller Subventionen und seiner Agentenschaft gelingt es Schwarz, die gesamte örtliche Verwaltung auf seine Seite zu ziehen und praktisch die Kontrolle über das Territorium zu erhalten.

Hier begann auch die wichtigste Phase der ihm gestellten Aufgabe: die Personen in den deutschen Konzentrationslagern ausfindig zu machen, die für die Engländer und Zionisten von Nutzen waren, vor allem Juden, sie von der Gestapo freizukaufen und sie dann über Rumänien, Bulgarien und die Türkei nach Palästina zu bringen. Man kann sich die Wucht und den Umfang dieser Organisation vorstellen, in die sowohl die Gestapo, als auch die Transport-und Zolldienste zahlreicher Länder verwickelten waren. Mir kam dies alles sehr fantastisch vor und so hielt ich dies für eine Fortsetzung von Schwarz-Weiß’ krankhaften Einbildungskräften ..., wenn nicht einige Zeit später ein weiterer Jude in der Zelle aufgetaucht wäre, bucklig, mit typisch jüdischen Merkmalen, als wäre er gerade der Karikatur einer faschistischen Zeitschrift entstiegen. Wie sich herausstellte, war er einer von Schwarz’ Handlangern gewesen, ein professioneller Schmuggler, ungebildet und angefüllt mit allem möglichen jüdischen Aberglauben. In den langen Unterredungen, die er mit mir führte, bestätigte er flüsternd, direkt oder indirekt, all das, was Schwarz erzählt hatte. Interessant waren auch ihre gegenseitigen Beziehungen. Dieser Adjutant war Schwarz gegenüber grün vor Haß, wie wohl ein Sklave seinen Herrn haßt, aber Schwarz mußte nur mit den Fingern schnipsen, als dieser jüdische Quasimodo auch schon von der Pritsche aufsprang und demütig und ergeben zu seinem Herrn eilte. Nachdem die Tschechoslowakei durch die Sowjetarmee eingenommen worden war, tauchte Schwarz, wie man sich erzählt hatte, unter, wurde jedoch trotzdem verhaftet, und zwar entweder zusammen mit seiner Ehefrau oder seiner Geliebten, sowie einer ganzen Gruppe seiner Handlanger. Schwarz wurde in Moskau abgeliefert und lebte sogar einige Zeit in einem Hotel. Aber als er sich einmal mit einem NKWD-Mitarbeiter, der ihm heimlich gefolgt war, im Restaurant des Hotels befand, sah Schwarz einen ihm bekannten Engländer - einen Diplomaten, der ebenfalls in die Spionagesache verwickelt gewesen war. Schwarz gab ihm mit der Hand das vereinbarte Zeichen, um ihm damit zu verstehen zu geben, dass er „unter Beobachtung“ stand. Das flößte Schwarz Optimismus ein, und auch nachdem er schon in die Lubjanka und anschließend ins Butyrka-Gefängnis geraten war, blieb er davon überzeugt, dass der Intelligence Service ihn nicht ins Unglück stürzen, sondern ihn loskaufen oder eintauschen würde. Aber die Angelegenheit kam nicht voran. Schon hatte man aus der Zelle den zweiten Juden hinausgeführt, da hatte Schwarz, der Hunger nicht gewöhnt war, bereits seine gesamte Garderobe in Moskauer Pakete eingetauscht, und nun lief er in abgetragenen, rotarmistischen Baumwollzeug und schief getretenem, zerfetztem Schuhwerk herum – und es kam keine Hilfe. Schwarz begann nervös zu werden, wälzte sich unruhig herum, liefin der Zelle hin und her, erbettelte und rauchte einen Zigarettenstummel nach dem anderen; und als es so schien, als ob er alle Hoffnung verloren hätte, eröffnete er mir einige seiner Geheimnisse. Nachdem ich ihn auch mit meiner Geschichte bekanntgemacht hatte, zweifelte er nicht daran, dass ich in kürzester Zeit in die Freiheit hinausgehen würde, und er gab mir einige Anweisungen, die ich auswendig lernen sollte, da ich weder die Möglichkeit noch das Recht hätte sie zu notieren; und dann zwang er mich jeden Tag die Namen und Anschriften der Personen zu wiederholen, an die ich mich wenden sollte, damit ihm von dort Hilfe zuteil würde – und mir natürlich auch. Fast ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, und immer noch kann ich mich an einige seiner Befehle erinnern, so akribisch hatte er mich damals dazu angehalten, sie mir einzupauken. Erstens sollte ich bis zu diesem Städtchen gehen, in dem er gewohnt hatte (ich weiß heute nicht mehr wie es hieß) und dort seine inoffizielle slowakische Freundin ausfindig machen (die Adresse und den Namen hatte er mir ebenfalls mitgeteilt). Bei ihr befand sich ein Teil seiner Sachen, darunter auch ein Koffer. Unter der Verschalung war eine große Geldsumme in palästinensichen Pfund versteckt, und in den Ecken – Brillianten. Bei der gleichen Person befand sich auch Schwarz’ Ledermantel mit hölzernen Knöpfen, die aber mit dem gleichen Leder überzogen waren. In die Knöpfe waren kleine Nester hineingearbeitet, in denen ebenfalls große Brillianten verborgen waren. All diese Kostbarkeiten sollte ich unter der Freundin und mir aufteilen, um mit dem Geld bis nach Budapest zu gelangen und mich dort auf die Spurensuche nach Graf Zigmont Perein, Graf Janosch Szalay oder den beiden Söhnen des letztgenannten, Janosch oder Aladar, zu begeben, die mit der englischen Spionage in Verbindung standen und zwischen mir und denen, die ihm eventuell helfen wollten, den Kontakt herstellen konnten. Wir wollen nicht darüber reden, dass der Weg, an dessen Ende ich endlich in die Freiheit gelangte, sich über einen Zeitraum von zehn Jahren hinzog, dass kein „Graf von Monte Christo aus mir wurde“, und dass die Brillianten und Pfundnoten auf irgendeinem Ladentisch bei einem Trödler oder auf dem Müll endeten, als ihre Camouflage irgendwann ausgedient hatte. Ich kann mich nicht erinnern, wer von uns beiden als erster die Butyrka verließ, aber wie dem auch sei, an einem schönen Aprilmorgen riefen sie mich unerwartet „mit Sachen“ aus der Zelle. Im unteren Stockwerk des Gefängnisses brachten sie mich in ein kleines Kämmerchen, in dem ein Tisch stand, hinter dem ein Beamter saß, welcher mir mein Strafmaß von 10 Jahren zur Unterschrift vorlegte. Damit war die Gerichtsverhandlung beendet. Mein hitziges Reden nützte nichts – es gab weder einen Staatsanwalt als Ankläger, noch einen Rechtsanwalt zur Verteidigung, und auch keine vereidigten Geschworenen, an die Ostap Bender immer so gern appelliert hatte. Da war nur dieses kleine Stückchen Papier in der Art einer Bescheinigung, welche mir den Reiseschein ins Leben gewährte, genauer gesagt – das Abbild des Lebens, von dem ich noch berichten werde.


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