„Dsing-bum, dsing-bum ... Man hört das klirren der Fesseln,
Dsing-bum, dsing-bum ... Der weite sibirische Weg,
Dsing-bum, dsing-bum ... Man hört wie sie gehen,
Wie sie unsere Kameraden zur Zwangsarbeit führen ...“
(Aus einem altenGefängnislied)
In der Butyrka gab es zwei Sehenswürdigkeiten, von denen man sich Legenden erzählte. Die erste war der Pugatschow-Turm, in dem angeblich Jemeljan Pugatschow gefoltert worden war, bevor man ihn zur Hinrichtung brachte. In den 1940er Jahren unseres Jahrhunderts gab es dort, wie Kenner des Gefängniswesens bestätigten, Todeszellen. Während des Hofgangs sah ich hinter den Mauern einen runden Turm aus rotem Backstein, mit spärlichen, schießschartenähnlichen Fensteröffnungen, welche mit Abschirmungen verdeckt waren. Was sich dahinter verbarg ist schwer zu sagen, aber dass die Erzählung über Pugatschow nur ein Mythos ist, war offensichtlich: die ganze Anlage trug keine Spuren einer 200 Jahre währenden Existenz, und die Ziegelsteine sahen auch ziemlich modern aus. Die zweite Sehenswürdigkeit trug schon nicht mehr die Aureole des Geheimnisvollen. Es handelte sich um die sogenannte „Kirche“. Irgendwann einmal war es tatsächlich die Gefängniskirche gewesen, in der die inhaftierten Übeltäter sich an Gott wenden und von ihm, wenn auch nicht unbedingt den Erlaß ihrer Sünden, so doch wenigstens eine Herabsenkung der Temperatur der Höllenflammen im Jenseits erflehen konnten. In unserem dialektisch-materialistischen Jahrhundert war die Kirche in eine Durchgangszelle umgewandelt worden, wo Verurteilte sich so lange aufhielten, bis für sie ein Zug zur Abfahrt an ihren Haftverbüßungsort zusammengestellt war.
Nach den Worten jener, denen das Los zufiel sich dort aufzuhalten, war dies eine Filiale eben jener Hölle, in die Sünder in früheren Zeiten erst nach ihrem Tode geraten waren, und jetzt – bei lebendigem Leibe. In der Kirche hockten 150-200 Mann eng zusammengepfercht beisammen, Kriminelle und Politische, wobei erstere den Ton angaben, den anderen Kleidung und Lebensmittel wegnahmen, ihren Hohn und Spott mit den „Täubchen“ trieben, Unbeugsame verprügelten usw. Die Aufseher versuchten gar nicht erst, eine gewisse Ordnung in diese Menschenmasse hineinzubringen, und sie hätten es auch nicht geschafft.
Daher sah jeder meiner Gesprächspartner mit Sehnsucht und Furcht der freudlosen Perspektive entgegen, diese Schicksalserprobungen durchmachen zu müssen. Nachdem ich meine Quittung über die erhaltenen 10 Jahre bekommen hatte, sollte ich ebenfalls durch diese unheilvolle Einrichtung gehen, aber zu meiner größten Verwunderung und beinahe Freude, verfrachteten sie mich und einige meiner Kameraden aufgrund eines unglücklichen Umstands in einen „Schwarzen Raben“ und fuhren uns zum Bahnhof, wo wir in einen auf dem Abstellgleis stehenden „Stolypin“-Waggon einstiegen. Offenbar hatte sich die Geburt dieses Transportmittels während der Zeit des bekannten Ministers Stolypin ereignet, der durch seine Gewaltanwendungen gegenüber den Revolutionären („Stolypinsche Halskrause“) und sein Bodenreform-Projekt berühmt wurde. In jenen Zeiten (Anfang 1900) waren diese Waggons ein Tribut an den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, die den klassischen Planwagen mit zwei Gendarmen an den Seiten ersetzten. Im Prinzip handelte es sich dabei um einen ganz gewöhnlichen Passagierwaggon mit einem korridorähnlichen Gang auf der einen und einem „Abteil“ auf der anderen Seite, welches allerdings von Durchgang durch ein riesiges Netz vergitterter Türen getrennt war. Die Fenster in den Abteilen waren ebenfalls vergittert, aber nicht abgedeckt, so dass man zwar „durch Käfigstäbe“ hindurchschaute, aber immerhin die Umgebung draußen sehen konnte. Die untere Reihe der Sitzbänke war von oben mit einem durchgehenden Bretterbelag ausgelegt, so dass sich dadurch eine Art Pritschen ergab. Diese Pritschen standen hoch im Kurs, denn dort konnte man liegen, aus dem Fenster schauen und überhaupt einen gewissen Komfort genießen, während die unten Befindlichen zum Sitzen verdammt waren, und selbst wenn sie sich dort zum Schlafen einrichteten, dann taten sie dies entweder auf dem Fußboden oder auf den Bänken – in kränkender Enge. In dieser wölfischen Arrestantenwelt fürchtet jeder instinktiv die Einsamkeit und ist bestrebt, sich die Unterstützung irgend eines Verbündeten zu sichern. Also, ohne dass wir uns verabredet hatten, war ich noch im „Schwarzen Raben“ einem jungen, nicht sehr großen Burschen nähergekommen, der einen hinreichend kämpferischen und entschiedenen Eindruck machte. Während unsere Kollegen in ihrem Pferch von einem Fuß auf den anderen eine Pritsche geklettert, und ich folgte sogleich seinem Beispiel. Wir ließen uns nebeneinander nieder. Anschließend kamen noch zwei oder drei Mann hinaufgekrochen. Unten wurden mit Müh und Not weitere acht untergebracht. Der Zug stand lange still und fing dann an zu rangieren. Ich konnte die alte Holzarchitektur des Gebäudes erkennen, das die Aufschrift „Kursker Bahnhof“ trug. Schließlich begannen die Räder auf den Schienen zu rattern. Dann kam wieder ein Bahnhof. Neue Waggons wurden an denZug angekuppelt, und erst gegen zwei Uhr fuhr der Zug ab in die Weiten der außerhalb Moskaus liegenden Felder. Mein Gefährte erzählte mir seine Geschichte. Er war in einem Kinderheim aufgewachsen, hatte die Sommerschule absolviert und war Jagdflieger geworden. Er hatte am Himmel von Leningrad gekämpft und war sogar (sofern er nicht die Unwahrheit sagte) zum Helden der Sowjetunion ernannt worden. 1943 hatten sie neue Flugzeuge englischer Herstellung erhalten. Mit ihnen waren auch englische Instrukteuere eingetroffen. Mein Nachbar freundete sich mit seinem Instrukteur an, und nach dessen Rückkehr nach England, erhielt er von dort Briefe und Pakete. Gleichzeitig schrieb er Briefe an irgendeinen seiner Verwandten, der in einer benachbarten Region lebte, aber diese Brief waren lange unterwegs, gingen verloren u.ä.
Einmal äußerte sich unser Held sinngemäß so, dass wohl aus England die Briefe immer schnell und problemlos einträfen, während Post innerhalb der Union, nur ein paar hundert Werst entfernt, manchmal Wochen und Monate unterwegs wären. Diese kritische Bemerkung reichte aus, um den § 58 aufgebrummt zu bekommen. Verständlich, dass in dieser Aussage, selbst mit NKWD-Maßen gemessen, ein kriminelles Delikt nur auf einem sehr schwankenden Boden stand. Daher schusterten sie meinem Freund, ich weiß seinenVor- und Nachnamen nicht mehr, auch noch zweifelhafte Verbindungen mit dem Ausland usw. usf. zu. Der jedoch war standhaft und beharrlich und bekannte sich in keiner der intriganten Taten und Gedankengänge für schuldig. Das Untersuchuingsverfahren zog sich fast ein ganzes Jahr hin, bis die Dinge endlich wieder ins Rollen kamen. Endlich rief irgendein hoher Beamter ihn zu sich. Er befragte meinen Kameraden zu allem noch einmal in recht väterlicher Weise und gab ihm dann den Rat: Mensch, da draußen ist Krieg, und du Flieger-Held sitzt hier deine Zeit ab. Setzt dich da hin, schreib ein Gesuch, so und so, dass du schuldig bist. Ich bitte darum, mich als Sühne an die Front zu schicken ... Und er schrieb. Auch dieses Gesuch wurde seiner Akte beigefügt, und zwar als Geständnis für seine antisowjetischen Tätigkeiten. Es klingt wie ein Witz, aber wie gekauft, so verkauft. Es folgte eine schnelle und gerechte Gerichtsverhandlung, und ebenfalls ein Sonderkollegium lötete dem Burschen 5, und nicht jene 7, Jahre an. Solche ganz unterschiedlichen Wege hatten uns also auf der oberen Pritsche des Stolypin-Waggons zusammengeführt.
Aus den Gesprächen während der Zughalte und den Stationsnamen konnte man schließen, dass wir Richtung Gorki fuhren. Hinter den Fensterchen schimmerten Felder und kleine Waldstücke, Dörfer und Siedlungen. Mir war das alles neu, verwunderte mich aber auch nicht sonderlich. Aber eine Szene versetzte mich doch in Erstaunen und blieb mir ein Leben lang im Gedächtnis haften: auf einem gepflügten Feld befanden sich sechs Frauen, vor eine Egge gespannt, die sie über den Acker zogen. Hinter ihnen ging ein Mann, der ganz offensichtlich die bereits bestellte Bodenfläche abmaß. Da ich dem Gesehenen eine gewisse Bedeutung beimaß, rief ich laut aus: „Seht doch mal, seht mal!“ – Einer meiner Nachbarn wandte sich träge um und meinte gleichgültig: „Sie sind gesund! Von solchen wie und müßten sie zehn anspannen“. Nach und nach erfuhr ich einiges über meine Reisegefährten. Unter saß eine ganze Gruppe Weißrussen. Aber wer sie waren, weshalb sie saßen – und dazu noch für ganze 25 Jahre, begriff ich nicht. Von sich selber sagten sie, sie wären Partisanen, aber ich konnte nicht feststellen, ob es sich um ehemalige Partisanen handelte, die gegen die Deutschen gekämpft hatten und dann irgendwann zu Feinden der Sowjetmacht entartet waren, oder ob ich es mit einer Abart von Banderow-Leuten zu tun hatte. Das war wohl wahrscheinlicher. Es war ein friedliches Volk. Sie saßen still auf ihren Bänken, redeten halblaut in ihrer singenden Mundart und kauten auf etwas herum, das sie ihren handgewebten Futtersäcken entnommen hatten. Neben uns hockte ein alter Armenier, dürr und spitzfindig. Er war in Teheran verhaftet worden, besaß einen sehr schönen Koffer, aus dem er einen farbenprächtigen, seidenen Morgenmantel entnahm, indem er wie einer der Flaschengeister aus einem östlichen Märchen aussah. Übrigens war das Märchen bald darauf zuende, und es endete mit einer ziemlich unschönen Begebenheit. An einer der Bahnstationen ließen sie noch mehr Mneschen in den Waggon einsteigen, der sich sogleich mit einem Höllenlärm füllte. Die meisten der Ankömmlinge kamen ins Nachbarabteil, und schonbald darauf hörte man von dort Schreie, lautes Schimpfen und den Gesang von Gaunerliedern. Uns brachte man einen stämmigen Kerl mit Bulldoggengebiß und Affenlippen. Nachdem er sich einen Augenblick umgesehen hatte, kletterte der Neue nach oben, verjagte von dort das „Täubchen“, prahlte mit den Frauen der Stadt Gorkij herum und fing an, den Besitz seiner Nachbarn in Augenschein zu nehmen. Der Pilot und ich, in unseren geflickten Militärhemden und zerfetzten Stiefeln, lösten bei ihm merkliche Enttäuschung aus, dafür aber weckte der persische Scheich sein aufrichtiges Interesse.
Auch heute noch ist es mir widerlich, an diese ganze Prozedur zurückzudenken, als er diesen alten Chattabytsch ausplünderte. Nach und nach wanderte der gesamte Besitz an den Begleitsoldaten. Dieser tauschte ihn an den Bahnstationen gegen Lebensmittel ein und versorgte dann damit den „rechtmäßigen Diebe“, der ein paar kümmerliche Krümel auch auf die tatsächlichen Eigentümer entfallen ließ. Der geblümte Morgenmantel wechselte den Besitzer und geriet auf die Schultern des kriminellen Neandertalers, was diesem ein absurdes und gleichzeitig boshaftes Aussehen verlieh. Später bog der Zug in eine andere Richtung ab. Der privilegierte Gewohnheitsverbrecher, der im Hinblick auf die Haftverbüßungsorte über ein ungemeines Wissen verfügte, stellte sogleich fest, dass wir uns dem Lager „Suchobeswodnoje“ im Gebiet Gorkij näherten. Und tatsächlich hielt der Zug auch schon bald darauf an, und der Begleitsoldat begann damit, einen Teil der Leute aussteigen zu lassen. Zu ihnen gehörten auch mein Gefährte – der Pilot, der Kriminelle und der Armenier. Die übrigen wurden umgruppiert, und in meinem Abteil richtete sich eine ganze „kriminelle Gesellschaft“ ein, hauptsächlich Grünschnäbel und Milchgesichter – Diebe von kleinem Kaliber. Mit ihnen kam auch ein alter Mann über 60, mit gefälligem Gesicht, einem ergrauten runden Bärtchen und klaren blauen Augen. Er benahm sich äußerst besonnen, machte keinen unnützen Radau, aber die ganzen „Straßengören“ schawenzelten um ihn herum wie dressierte Hunde. Sie nannten den Alten Onkel Sascha. Wie ich später erfuhr, war er ein alter Dieb mit vorrevolutionärer Berufserfahrung, der nicht nur große Autorität unter diesen Halbstarken besaß, sondern auch bei höherrangigen Dieben. Nach der Umschichtung fuhren wir ziemlich lange. Irgendwann gegen Abend ließen sie uns aussteigen und trieben uns, ich kann mich nicht mehr erinnern, ob dies zu Fuß geschah, durch die Stadt. Es war eine unansehnliche Stadt, aus Holz gebaut, unweit führte ein wasserreicher Fluß vorbei. Die Reise endete innerhalb der Mauern eines großen, altertümlichen Gefängnisses, das mich an die Beschreibung verschiedener Haftorte erinnerte, durch die die Wege der Zwangsarbeiter führten. Aufgrund seiner trüben, finsteren Aussehens mußte ich an das Gefängnis in Wologda zurückdenken, das zu meinem ersten Zufluchtsort auf heimatlichen Boden geworden war. Die Zelle, in die sie uns mit 60 Mann hineinstießen, hatte Ähnlichkeit mit einem Schuppen. An den Wänden befanden sich durchgehende Pritschen. Neben der Tür – ein Ofen aus Ziegelsteinen. Ich hätte ihm keine Beachtung geschenkt, wenn da nicht ein Umstand gewesen wäre, von dem später noch die Rede sein soll. Ich kann mich im Augenblick nicht mehr an alles erinenrn, was sich dort ereignete. Ich war durch die dort herrschenden Verhältnisse und diese ganze kriminelle Gesellschaft dermaßen aus der Fassung geraten, dass alles im Kopf durcheinander ging, ich schon gar nicht mehr reagierte und mich in einem Zustand stumpfsinniger Erstarrung und Verzweiflung befand. Um so verwunderlicher war die lebensfrohe Laune meiner Gefährten. Sie fühlten sich wie im Pionierlager, begrüßten fröhlich ihre alten Bekannten, dachten an Begegnungen in früheren Durchgangsgefängnissen zurück, teilten Neuigkeiten aus der Verbrecherwelt miteinander. Jemand begann an die Wand zu klopfen. Aus der Nachbarzelle kam eine Antwort. Anhand bestimmter Zeichen konnte man feststellen, dass dort Frauen untergebracht waren. Dies verursachte sogleich eine neue Welle der Belebung und Energie. Man trieb ein Stückchen Eisen auf, mit dessen Hilfe es gelang, ein Stückchen Ziegelstein aus dem Ziegelstein herauszukratzen, und dann konnten die Kontakte direkt stattfinden. Unter den Vertreterinnen des schönen Geschlechts fanden sich auch die bekannten Manka und Katka, und das Gespräch nahm einen gänzlich ungezwungenen Charakter an. Ich versuche nicht ihn widerzugeben: nicht einmal ein Stückchen Papier könnte das ertragen. Ich konnte mir ein so Abstoßendes, widerwärtiges Abbild menschlicher Geschöpfe überhaupt nicht vorstellen und hätte mich wohl, ohne groß zu überlegen, lieber erschießen lassen, als mit diesen Scheusalen zum Zusammenleben verdammt zu sein. Aber ich hatte keine Wahl. Unter den Häftlingen, die sich dieser außer Rand und Band geratenen Versammlung nicht anschlossen, bemerkte ich einen bereits etwas betagten Mann mit unschönem, aber gutmütigem, Gesicht, der einsam und in sich zusammengesunken am Rand einer Pritsche saß. Ganz offensichtlich war er ein „Volksfeind“. Ich trat zu ihm heran, und wir unterhielten uns ein wenig. Er war ein Emigrant aus Frankreich, Buchhalter von Beruf; sein Familienname lautete Kuwschinow. Er war ein feinfühliger, ordentlicher Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Aber ich bekam aus ihm nicht heraus, weshalb er eigentlich einsaß, und offensichtlich hatte er es wohl auch nicht begriffen. Man hatte ihm den Absatz 4 des berüchtigten § 58 zugeschrieben, d.h. Zugehörigkeit zu einer antisowjetischen Organisation im Ausland. Eine verschwommene Formulierung, mit der man jede beliebige Person einbuchten konnte, denn es gestaltete sich schon sehr schwierig, im Ausland eine Emigrantenorganisation zu finden, die prosowjetische Gedanken hegte. Und so bekam ich einen neuen Gefährten auf dem unverständlichen und nichts Gutes verheißenden Weg ins Unbekannte. Eine Nacht verging, und am nächsten Morgen wurde eine große Etappe zusammengestellt. Mit Rufen und Hunden trieben sie uns zum Bahnhof, stießen uns in beheizbare Waggons, die für den Transport von Arrestanten ausgestattet waren, und schon bald begann die Lokomotive zu keuchen,um uns an unseren endgültigen bestimmungspunkt zu bringen. Ich blieb mit Kuwschinow zusammen, zusammen gerieten wir auch in den Waggon und saßen dort nun und versuchten zu erraten, wohin uns das gemeine Schicksal bringen würde. Ich glaube, dass es sich lohnt, dieses Transportmittel, mit dem wir unterwegs waren und von dem in jenen Jahren hunderte die unermeßlichen Weiten unseres Landes durchfurchten, noch ein wenig genauer zu beschreiben. Es handelte sich um ganz gewöhnliche Güterwagen, zumeist zweiachsige. Die kleine lukenähnlichen Fensterchen waren vergittert. Zu beiden Seiten der Türen befanden sich durchgehende, zweistöckige Pritschen. Vor der Tür stand ein kleiner Eisenofen. Auf einigen Waggons war außen eine Art Turm installiert, auf dem die Wachsoldaten standen. An Züge mit solchen Waggons war auch immer ein Wagen für die Wachmannschaft sowie Dienstwaggons angekuppelt, in denen Lebensmittel lagerten und in denen das Essen vorbereitet wurde. Natürlich gab es keinerlei Bettzeug, es gab noch nicht einmal einen „Abortkübel“: in die Seitenwand des Waggons war eine Öffnung mit einer leicht nach unten geneigten Rinne hineingehauen, die als Toilette diente. Zweimal am Tag wurden wir mit einer dünnen Brühe verpflegt; es gab auch eine Ration Brot, im Winter gefroren, und einen Eimer Kohle pro Tag. Wielange man den zugigen Waggon damit beheizen konnte, kann man sich wohl vorstellen. Ich weiß nicht, wie hoch die Norm für das Fassungsvermögen eines solchen Waggons war; jedenfalls mußte ich darin fahren, als er bis zum Geht-nicht-mehr mit Menschen vollgestopft war, und nicht alle einen Platz auf den Pritschen fanden, so dass viele auf dem Boden herumlagen. Dorthin wurden meist die Schwächsten und Ruhigsten vertrieben. Es gab einen Witz, dass eine Grußße Chinesen in solch eine Lage geraten war. Beim Zählappell fragte der oberste Wachsoldat, wie sie sich eingerichtet hätten. Darauf antworteten die Chinesen: „Wer einen Pritschenplatz hat – der hat es gut, wer unten schläft – das ist einfach Scheiße“. Um ein Haar hätte man sie deshalb wegen antisowjetischer Propaganda angeklagt.