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P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 56. Auf Etappe

Halte an, Lokomotive, hört auf zu hämmern, Räder,
Lokführer, tritt auf die Bremse....“
(aus einem Gefängnislied)

Die Eindrücke dieser wenigen Tage, von der Verschickung aus Moskau bis zum Eintreffen im Lager, haben sich in meinem Gedächtnis zu einer einzigen Kette von Alpträumen vereint, und ich bin schon nicht mehr in der Lage, diese Kette in der richtigen Reihenfolge in ihre Einzelteile zu zerlegen. Daher kann ich jetzt weder beschreiben, wie lange wir vom, wie ich erst später erfuhr, Kirowsker Durchgangsgefängnis fuhren, noch, ob Kuwschinow und ich zu denen gehörten, die „eine Pritsche hatten“, oder zu jenen, „die unten lagen“, aber auf jeden Fall war das alles „eine schöne Sch.....“ – es war kalt (wir hatten erst Anfang Februar) und wir hatten Hunger. Wir lagen auf nackten Brettern, nur mit meinem Mantel zugedeckt, und warteten darauf, daß unsere endlos scheinende Reise in dem schaukelnden Waggon zuende ging, eine Reise inmitten dieser kunterbunten, zerlumpten, boshaften und fluchenden Menschenmeute. Aber wahrscheinlich fuhren wir weniger als vierundzwanzig Stunden, und am folgenden Tag um 10 Uhr hielt der Zug, die Schiebetüren der Waggons krachten auf und zu, und wir stiegen, zusammen mit allen anderen, aus – genauer gesagt, wir stolperten und fielen den Abhang des ziemlich hohen Bahndamms hinab, an dessen Fuß wir uns zum Zählappell und für den Weitertransport aufstellen mußten. Es war ein kalter düsterer Morgen. Der Zug stand in einer nicht sehr tiefen Talsenke, umrahmt von einem spärlich gewachsenen Fichtenwäldchen und etwa 500-600 m von der eigentlichen Bahnlinie entfernt; auf dem Hügel sah man ungefähr ein Dutzend aus Holzbalken zusammengebaute Häuser und dahinter einen hohen, im Laufe der Zeit und durch schlechtes Wetter schwarz gewordenen Holzzaun, an dessen Ecken sich jeweils ein Wachturm befand. Das war die sogenannte 9. Lageraußenstelle des unter der Zuständigkeit des MWD stehenden Wjatlag, ein Lager, welches zwar nicht so einen düsteren Ruhm genoß wie Workuta oder Kolyma, aber dennoch nicht das letzte in der langen Reihe der großen, widerwärtigen Einrichtungen dieser Art war. Der Lagerpunkt bestand aus acht großen Baracken sowie einigen Dienst- und für den Alltag notwendigen Gebäuden. Die ganzen Bauten waren durch Holzstege miteinander verbunden, die ein wenig an Bürgersteige erinnerten. Das Lager war leer, und so wurden wir einstweilen in Gruppen auf die einzelnen Baracken verteilt. Zwei davon, die besonders nahe am „Wach“-Tor standen, mit angrenzendem Wärterhäuschen, in dem sich die Kontroll- und Passierschein-Stelle befand, standen für die Frauen zur Verfügung, die übrigen für die Männer. Die meisten Baracke waren in drei Sektionen unterteilt – zwei große und eine kleinere, die auf einem Vorsprung gelegen war und von der aus man in beide großen Räume gelangen konnte. In jeder Sektion waren eigentümliche, zweistöckige Bettstellen aufgestellt, sogenannte „Wägelchen“. Oben und unten konnten jeweils zwei Mann schlafen. Zwischen den Pritschen waren schmale Durchgänge freigelassen, in denen aber teilweise auch Nachttischchen oder Hocker standen.

Anhand der hier zurückgebliebenen Sachen, Bekleidungsgegenstände u.ä., konnte man vermuten, daß hier vor uns deutsche Kriegsgefangene gehalten worden waren. Ich fand sogar ein „Eisernes Kreuz“ und noch ein paar andere Auszeichnungen. Während wir noch unterwegs gewesen waren und uns in Erwartung unserer Weiterverteilung zusammendrängten, war es mir bereits gelungen, mich mit einigem meiner Schicksalssgenossen zu „beschnuppern“, und es war bereits ein ganz ordentlicher Haufen „Kontriks“ zusammengekommen, aber dennoch eine recht geringe Anzahl vor dem Hintergrund der kriminellen Mehrheit. Wie es sich für intelligente Menschen gehört, begann unsere Bekanntschaft mit einem vorsichtigen Zischen an die Adresse unserer unkultivierten Gefährten sowie Versuchen, uns zur gemeinsamen Verteidigung vor den aggressiven Verbrechern zur organisieren. Mit diesem Ziel vor Augen beeilten wir uns, die kleinere Sektion in der Baracke einzunehmen, in der 6-7 solcher von mir bereits beschriebenen vierplätzigen „Waggonkis“ aufgestellt waren. Kuwschinow und ich richteten uns auf zwei nebeneinander stehenden Liegen im unteren Bereich ein. Als wir uns ein wenig umschauten und uns noch einmal gegenseitig die Devise verkündeten: „Einer für alle, alle für einen“, begannen die laufende Sorge und Gespräche darüber, was wir fressen wollten, und daß den Rauchern die Ohren anschwollen, weil sie nichts zum Rauchen hatten, weil es kein Papier gab, um den Tabak darin zu einer Zigarette zusammenzurollen und – auch keine Streichhölzer. Nachdem Kuwschinow und ich unsere Jackentaschen ausgeschüttelt und daraus den restlichen Machorka-Tabak, vermischt mit Dreck und vertrockneten Brotkrümeln, zusammengeklaubt hatten, ließen wir unsere Zigarre gemeinsam abbrennen, wozu sich nach dem Prinzip „vierzig“ und „zwanzig“ noch ein paar andere „mit geschwollenen Ohren“ gesellten (für diejenigen, die in der Front- und Gefängnisterminologie nicht so bewandert sind: vierzig und entsprechend zwanzig geben den prozentualen Rest der Zigarre an, den die anderen einen bitten aufrauchen zu dürfen). Jedenfalls ohne sich die Prozente gesichert zu haben, konnten die Haupaktionäre auch nicht rauchen. Kaum hatten sich die ersten Qualmwolken des beißenden Rauchs ausgebreitet, als im Raum auch schon eine Person mit deutlich ausgeprägter sozialer Unzulänglichkeit auftauchte und dreist verlangte: „Na, Alterchen, nun gib’ mal was zu rauchen!“ Kuwschinow, der gerade einen nervösen Zug gemacht hatte, fing an zu stammeln, daß dies die einzige Zigarre sei, die sie hätten und daß schon einige andere auf den Rest Anspruch erhoben hätten. Die Person ließ sich gar nicht erst auf eine Diskussion ein, sondern brüllte: „Nun gib’ schon her, Du Arschloch!“, - wobei er sich mit einer Hand an die Zigarre klammerte und gleichzeitig mit der anderen Kuwschinow mitten ins Gesicht schlug. Ich erinnerte mich an unseren Musketier-Eid und beschloß, daß nun die Zeit gekommen sei, den Gaunern zu verstehen zu geben, daß man mit uns keine dummen Scherze machen konnte, und obgleich ich aufgrund er Anchovis-Fischstückchen in der Butyrka-Suppe nicht eben in der besten Form war, sprang ich auf und schlug den Angreifer zu Boden, der eine derartige Abwehr keineswegs erwartet hatte. Der erhob sich und verließ schreiend unsere Sektion, wob ei er ankünigte, daß man uns alle verprügeln würde. Ich schaffte es nicht meinen Sieg zu feiern – da stürmten auch schon sechs Leute der Gaunertruppe in unseren Barackenteil, um sich auf uns zu stürzen. Kuwschinow wurde sogleich zusammengeschlagen und übel zugerichtet. Ich, der ich die Verteidigung zwischen den beiden „Waggonschiks“ übernommen hatte, gestattete es dem Feind nicht, sich einen weiteren operativen Einsatz zu leisten, wobei ich nur leichtere Verletzungen davontrug, wenn man das in der Protokollsprache so ausdrücken kann. Die anderen „Musketiere“ waren bei den ersten Kampfesrufen, flink wie Spatzen, aufgeflattert und auf die oberen Pritschen gesprungen und hielten sich dort versteckt, bis der Gegner das Schlachtfeld wieder verlassen hatte. Dann hängten unsere „Politischen“ die Köpfe über die Pritschenkanten und ergingen sich in mitfühlenden, philosophischen Bemerkungen, daß man sich mit denen überhaupt nicht erst hätte einlassen, sondern lieber eine Zigarre hätte opfern sollen; sie meinten, daß die Unseren selber schuld waren und ließen noch weitere Beurteilung der Lage hören, zu denen nur die lausigen Intelligenten fähig waren – und ganz besonders die russischen, die aus jener Kategorie stammten, welche von den Lagerinsassen Van Fanytsch und Sidor Polikarpowitsch genannt werden. Kuwschinow, der übrigens Michail Iwanowitsch hieß, rieb sich schweigend seine blauen Flecken und Beulen, und ich hielt, nachdem ich meine Redegabe wiedergefunden hatte, eine niederschmetternde Rede. Ich war noch nicht vollständig im Spektrum des Lagervokabulars bewandert, aber der Umgang mit den Leuten in der Spionageabwehr bereicherte meine Rede, die mir anhand von Musterbeispielen Tolstojs und Turgenjews anerzogen worden waren, schon merklich, und so hörte sich meine „Tischrede“ folgendermaßen an: „Ihr verdammten Miststücke, stinkende Kontriks“ – wandte ich mich an mein Auditorium – „sollen sie euch doch alle einzeln zerquetschen, ich werde keinen kleinen Finger zu eurem Schutz rühren“. Aus einem Gefühl des Protests heraus nahm ich meine „Sachen“, bestehend aus meinem Mantel und der Soldatenmütze mit den Ohrenklappen, und begab mich in die andere Sektion, in der noch zahlreiche Plätze frei waren. Michail Iwanytsch Krotkij genierte sich, die Beziehungen zu unseren neuen Bekannten in so grober Weise abreißen zu lassen, und blieb auf seinem Platz sitzen. Um zwei Uhr begann die Fütterung. Die Küche der Krankenstation war noch nicht in Betrieb, und das Mittagessen wurde in einem Kessel gekocht, der sich direkt im Hof über einer Feuerstelle befand. Die Verpflegung fand waggonweise statt, also so, wie wir auch gefahren waren. Aus Mangel an Kochgeschirr, wurde in einen einzigen Kessel alles hineingeschüttet, was für das erste und zweite Gericht vorgesehen war. Übrigens gehörte zu beiden Gerichten grob gemahlenes Gerstenmehl, das einzige Produkt, das es im Lager gab, und das dann entweder einen flüssigen Brei oder eine dicke Suppe ergab. Probleme gab es auch beim Geschirr, genauer gesagt – es gab überhaupt keine, denn es war gar kein Geschirr vorhanden. Jeder bekam sein Essen darin zugeteilt, was er gerade zur Verfügung hatte. Einige hatten ihre eigene Schüssel, andere fanden unter den deutschen „Trophäen“ Gefäße, die man als Eßgeschirr auch ganz gut verwenden konnte; so hatte ich beispielsweise eine schwarze, verkohlte Konservendose ausfindig gemacht. So schlangen wir, meist paarweise, unsere erste Lagerbrühe und ein Stück nasses Halbgerstenbrot hinunter. Die Dose mit ihrem daran befestigten Drahtbügel diente mir noch eine ganze Weile als Eßservice, und ich trug sie stets, am Riegel meines Mantels festgebunden, bei mir. Nach dem Mittagessen wurden wir zur Arbeit eingeteilt; wir sollten die Baracken säubern und renovieren und das Territorium innerhalb und außerhalb des Lager in Ordnung bringen. Ich gelangte auf diese Weise in den Bereich außerhalb des Stacheldrahtzauns. Hier wurden schadhafte Bretter und Zaunlatten ausgetauscht, ein Kontrollstreifen umgegraben und anschließend mit der Egge bearbeitet, Unrat entsorgt, in dem man ihn mit Tragen in ein spärlich gewachsenes Birkenwäldchen trug, das fast unmittelbar an den Zaun grenzte. Neben einem großen Müllhaufen sah ich in dem Wäldchen ein Dutzend Gruben mit schief stehenden Stützpfeilern, auf die mit einem Kopierstift deutsche Namen geschrieben worden waren. Hier war der irdische einiger derjeniger zuende gegangen, die von den Kriegskugeln und dem russischen Schneesturm verschont worden waren, um genau hier an völliger Erschöpfung und Skorbut zu sterben - inmitten der Wälder und Sümpfe des Nordens. Und vielleicht, so dachte ich, würde ich auch bald so daliegen, zwischen Holzspänen, Bruchstücken von Ziegelsteinen und anderem Müll. Unerfreuliche Gedanken! Licht gab es in den Baracken nicht. Zur Nacht wurden Kerosin-Funzeln angezündet, die man aus Konservendosen und Lumpen angefertigt hatte. In jeder Sektion gab es nur eine solche Lampen, so daß der größte Teil des Raumes aufgrund dieser spärlichen Beleuchtung trotzdem in Finsternis versank. Die Lampe stand neben der Tür, oder sie hätte dort stehen sollen, wo sich der Diensthabende der Baracke befand, aber bereits innerhalb ein – zwei Tagen hatten die Kleinkriminellen sich eine Art Kartenspiel gebastelt und spielten, nachdem sie die Funzel zwischen ihren Bettstellen aufgestellt hatten, bis in die tiefe Nacht hinein, wobei sie ihre allerletzen Klamotten verspielten, und als es damit noch nicht genug war, drangen sie in die anderen Baracken ein und raubten den dortigen Bewohnern die Sachen. Für mich stellte damals ein gediegen gearbeitetes, deutsches Paar Stiefel einen gewissen Wert dar, die ihre Bruchfestigkeit während der Jahre meiner Gefängnisaufenthalte noch nicht verloren hatten. Damit sie sie mir nicht während des Schlafs wegnehmen konnten, band ich sie mir nachts mit einem Bindfaden an den Beinen fest. Es konnte jedenfalls keine Rede davon sein, daß ich sie ausziehen würde. Es war kalt, und immer noch hatten sie uns kein Bettzeug gegeben. Einige Tage später wurden wir in Brigaden aufgeteilt und unter der Begleitung von Wachsoldaten zum Arbeiten in den Wald geführt. Im folgenden gewann dieses ganze „Wald-Fließband“ organisierte Strukturen, und einstweilen war die Mehrheit bei der Holzbeschaffung, in der Holzfällerei tätig. Das Holz war schlecht: wir waren in einem Fichtenwäldchen – die Bäume dünn und zerzaust. Wir wurden in kleine Gruppen eingeteilt, und man zeigte uns, wie man Bäume fällt und mit einer Bügelsäge zerkleinert, wie man die kleineren Zweige und Äste abhackt und im Feuer verbrennt. Sie erklärten uns, wie hoch die Arbeitsnorm angesetzt war und welche Belohnungen auf uns warteten für die Erfüllung und Übererfüllung dieser Norm. Die Belohnungen äußerten sich in zusätzlicher Verpflegung. Die Hauptration bestand aus 650 gr Brot, dessen Beschaffenheit ich bereits beschrieben habe, und einer dreimaligen warmen Verpflegung, die aus unterschiedlich dick- oder dünnflüssigen Varianten von Gerstenpampe bestand. Außerdem wurden ein paar Gramm Zucker und Fisch ausgegeben – gesalzener Dorsch oder so eine Art Sprotte, wie sie vorort erhältlich war – „ihren Familiennamen kenne ich nicht“, wie einer der Koreaner zu sagen pflegte. Fleisch gab es nicht; es war durch Fisch im Verhältnis 1:1 ersetzt worden. Auch Fett bekamen wir nicht, stattdessen gab es denselben Fisch – im Verhältnis 3 gr Fisch : 1 gr Fett. Nach einiger Zeit tauchten plötzlich Graupen auf, hauptsächlich aus Gerste, und manchmal auch Erbsen. Diese Delikatessen bekam man in der Regel mit der Zusatzverpflegung in Form eines „Auflaufs“.
Als „Auflauf“ wurde ein mehr oder weniger dicker Brei bezeichnet, den man auf ein Kuchenblech gegossen und nach dem Abkühlen in Quadrate geschnitten hatte, die nur wenig größer als eine Streichholzschachtel waren. Dieses sülzenähnliche Viereck mit seinem Gewicht von 100 gr sowie 50 gr zusätzliches Brot galten als eine Variante der Belohnungsration, die bei 100%iger Normerfüllung zugeteilt wurde. Bei Übererfüllung konnte man die zwei- oder sogar dreifache Menge erhalten. Natürlich konnten diese wenigen Gramm Mehl und Graupen und der Extrakrug Wasser auch nicht annähernd die Hälfte des körperlichen Kräfteverlusts wettmachen, der für das Erreichen der Norm aufgewendet werden mußte; generell war die schwere Arbeit in der Holzbeschaffung äußerst kräftezehrend. Und trotzdem möchte ich, wenn ich über die in der letzten Zeit angelaufenen Kampagnen im Hinblick auf die ganzen Anschwärzungen nachdenke, die Stalins Epoche ausgemacht haben, objektiv sein. Ja, die Bedingungen in puncto Arbeit und Verpflegung waren in den deutschen und sowjetischen Lagern jener Zeit ähnlich. Aber in Deutschland lebte die deutsche Bevölkerung in bescheidenen, aber doch mit einem gewissen Wohlstand verbundenen, Bedingungen, während die Menschen in den Lagern vor Hunger starben. In der Sowjetunion dagegen, hatten viele freie Menschen während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren nicht einmal das, was den Häftlingen als garantierte Mindestration zustand.

Ich wurde also Holzfäller in einer Drei-Mann-Gruppe, außer mir und Kuwschinow gehörte dazu noch ein politischer Gefangener, ein ehemaliger Agronom. Wir waren eifrig bei der Sache, aber begriffsstutzig. Anfangs, nachdem wir die Sägen ergriffen hatten, fällten wir, ohne Ordnung und System, ein dünnes, schiefes Fichtenwäldchen, so dass wir nur mit Mühe auf dem durch Stämme und Äste versperrten Weg zurechtkamen; wir mußten die Stämme säubern und die Zweige verbrennen, erst danach zerkleinerten wir die kahlen Stämme.

Als am Abend der Brigadeleiter kam, um die geleistete Arbeit abzunehmen, stellte sich leider heraus, dass es bis zur Erfüllung der Norm noch ein weiter, weiter Weg sein würde. Allerdings hatten wir eine List angewendet: wir hatten einiges für den morgigen Tag liegenlassen und erhielten auf diese Weise, wenn auch erst einen Tag später, unser heiß geliebtes Klümpchenbrot und einen Löffel Brei. Aber unsere Kräfte schwanden schnell dahin, schneller, als das wertlose Essen sie wiederherstellen konnte, und ich begann von Tag zu Tag mehr zu bemerken, dass es mir immer schwerer fiel, mich von meiner Pritsche zu erheben. Und dann kam zu allem Übel auch noch der nasse, verspätete Schneefall hinzu. Einmal, ungefähr drei Wochen nach unserer Ankunft im Lager, wurde unsere Brigade gleich nach dem Abendessen ins Badehaus gerufen. Das war das erste Bad innerhalb dieser Zeit. Nachdem wir unsere dicke Suppe verschlungen hatten begaben wir uns in den Umkleideraum und begannen uns zu entkleiden. Mit meinen breitschäftigen Stiefeln war ich früher mühelos auf meine Pritschen in der oberen Etage hinauf- und auch wieder herabgesprungen, und jetzt konnte ich sie mir kaum von den Beinen ziehen. Ich gefror zu Eis: meine Füße waren angeschwollen, sahen aus wie Baumstümpfe, und die Fußsohlen hatten sich in unförmige Polster verwandelt. Erschrocken und voller Befremden starrte ich auf meine Beine. Auf der Bank nebenan saß, bereits entkleidet, einer der Gaunerchen, ein junger Bursche von zigeunerhaftem Aussehen, der auf seinen Schultern schon eine gewisse Gefängniserfahrung herumgetragen hatte. Er saß da, kaute gleichgültig seine abendliche Brotration auf und bemerkte mit philosophischem Scharfsinn: „Na, ein paar Wochen noch, dann bist du dran!“

Dann, als er meinem niedergeschlagenen Gesichtsausdruck sah, bekam er Mitleid und meinte: „Noch ist es ja nicht zu spät! Lauf zur Sanitätsabteilung!“ – Ich folgte seinem ernst gemeinten Rat. Die Stiefel wieder anziehen – das gelang mir schon nicht mehr; ich nahm sie in die Hand und rannte barfuß durch den Schnee, wenn man meine plumpen, ungeschickten Sprünge so bezeichen kann, zum Arzt. Der Arzt sah mich an und schickte mich unverzüglich zur stationären Behandlung.


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