„Der Arbeitstag beginnt,
Die nassen Fußlappen habe ich ausgezogen,
Und ich laufe, laufe, um mein Frühstück zu bekommen,
Aber dort steht eine Schlange, - Sch....!“
(aus der Lager-Folklore)
Das Lager-Krankenhaus wurde Stationarium genannt. Es handelte sich dabei ebenfalls um eine Baracke, die jedoch für Krankenhauszwecke ein wenig umgebaut worden war. Dort herrschten bereits fest definierte Bedingungen. So erhielt ich frische Wäsche, und man legte mich auf eine Bettstelle, die ebenso beschaffen war, wie in den anderen Baracken, aber es gab eine dünne Unterlage als Matratze sowie eine Decke. Im Stationarium gab es saubereres Essen, allerdings von der Menge her noch kümmerlicher, als in den Arbeitsbrigaden. Zwei Ärzte waren am Krankenhaus fest angestellt: ein Oberarzt – Doktor Aleksej Nikolajewitsch Klemm aus Estland, der entweder Russe oder Rußland-Deutscher war, ein Mann, dem ich wohl mein Leben verdanke, und nicht nur ich. Er war ein schon ältlicher, gebeugter Mann mit Brille, der wenig sprach und sogar ein wenig finster dreinblickte, aber dafür äußerst einfühlsam und anständig. Er genoß schon bald Autorität und Respekt, und zwar nicht nur bei den Häftlingen, sondern auch bei der Lagerleitung, und niemand unternahm den Versuch, seine Diagnosen und Verordnungen anzuzweifeln. Der zweite hieß Doktor Sajzew, ein stattlicher junger Mann, aber er war, wie man sagte, weder Fisch noch Fleisch, also eine eher farblose Erscheinung neben Doktor Klemm. Außer den beiden gab es noch den Feldscher, oder wie sie ihn nannten – den „medizinischen Gehilfen“, ein aufgeblasenes Männlein mit Gaunerseele, sowie eine sowjetdeutsche Krankenschwester und eine Sanitäterin aus den Reihen der Wjatlag-Häftlinge. Später tauchte in der Sanitätsabteilung noch eine Vorgesetzte auf, die Ehefrau des Leiters der Lageraußenstelle – Veronika Nikolajewna Sajzewa. Sie war eine Dame von etwa 35 Jahren, geschmackvoll gekleidet, verfügte sogar über einen gewissen Chic, der allerdings inmitten der Elendsquartiere des WjatLag etwas unangebracht zu sein schien. Sie war schön, gebieterisch, hielt ihrenMann unter dem Pantoffel, und ließ keinerlei Einmischungen in ihrem Bereich zu. Wenngleich sie sich keinesfalls mit Philanthropie befaßte, trug sie doch in vielerlei Hinsicht dazu bei, dass aus der Sanitätsstelle eine Art Oase in der allgemein herrschenden Düsterkeit und Verwilderung wurde. In diesem Krankenhaus lag ich etwa zwei Wochen und wurde dann aus der sogenannten 3. Kategorie abgemeldet, d.h. für leichtere körperliche Arbeit für geeignet befunden. Einer aus der Brigade, in der derartig Schwache und Kranke gesammelt wurden, war die Brigade der Straßen- und Wegebauer, an deren Spitze der uns bereits bekannte „Gansterboss“ Onkelchen Sascha stand, mit dem ich gemeinsam im Stolypin-Waggon gefahren war. Ich bat darum, ihm zugeteilt zu werden, und er nahm mich auch. Dieser Djadja Sascha war ein fürsorglicher und gerechter Brigadier, er wußte gut bescheid und verstand es, die Arbeit gut zu organisieren; er trieb niemanden an, schrie nicht herum, aber trotzdem gehorchten ihm alle ohne Widerspruch. Er sorgte nicht nur auf der Arbeit für Ordnung, sondern auch in der Baracke. Er selber führte ein recht komfortables Leben, man brachte ihm das Essen in die Baracke, und es stammte auch nicht aus dem Gemeinschaftskessel – die Träger brachten ihm gern diese oder jene Gabe. All dies nahm er mit königlichem Wohlwollen entgegen, aber er erpreßte niemals jemanden. Gott allein ist der Richter für seine zahlreichen Sünden im freien Leben, von denen es so viele wohl auch nicht gab; im Lager jedenfalls führte er sich sehr ordentlich auf. Während meiner Krankheit im Lager hatte sich bereits eine Menge verändert. Es gab Bettwäsche, in der Kantine fand sich Geschirr, es waren diese und jene Kleidungsstücke ausgegeben worden, einstweilen allerdings nur sommerliche, und darüber wurden nun die eigenen getragen; meinen Mantel nahmen sie mir allerdings zunächst ab, gaben ihn mir dann jedoch zurück, nachdem sie den Saum abgeschnitten und ihn in eine Art Matrosenjacke verwandelt hatten. Es tat mir schrecklich leid um meinen guten alten Mantel, der mir so viele Jahre auch als Matratze und Decke gedient, unter dem ich vor Schnee und Regen Schutz gefunden hatte. Kubschinow holten sie als Essensausgeber ins Kontor, d.h. er mußte aufgrund der vorherbestimmten und am Monatsende abgerechneten Arbeitsleistungen für die Brigaden die eventuell anfallenden zusätzlichen Brot- und Breirationen ermitteln, sofern ihnen diese zustanden. Da ausgerechnet er schon nicht mehr einzelne Stückchen und Prozentzahlen registrierte, sondern meßbare Grammzahlen, kamen am häufigsten Brigadeführer und unzufriedene Arbeiter zu ihm zum Essen, aber alle verehrten ihn, leisteten sich ihm gegenüber keine Grobheiten, und er erklärte ruhig und klar verständlich, warum dem einen oder anderen dieses oder jenes Stückchen zustand. Kuwschinow verfügte über phänomenale Fähigkeiten im Kopfrechnen. Als er einmal in Anwesenheit eines Vertreters der Obrigkeit im Kopf ausrechnete, wieviel Brot jedem Einzelnen zustand, empörte sich dieser darüber, dass die Kalkulationen ja wohl völlig aus der Luft gegriffen waren, und zeigte Kuwschinow unverzüglich wegen angeblicher Schädlingstätigkeit an. Aber nachdem er alles mit dem Abakus nachgerechnet hatte, gelangte er dann doch zu der Überzeugung, dass alles 1:1 stimmte; mein Freund wurde danach im gesamten Kontor zur Berühmtheit. Ein paar Worte über die Struktur der Lagerverwaltung. An der Spitze des Lagers stand der Lagerleiter, in dessen Händen sich alle Seiten des Lebens im Lagerpunkt konzentrierten, sowohl in puncto Alltag als auch im Hinblick auf die Produktion. Neben ihm gab es noch einige NKWD-Offiziere: den Leiter der 2. Abteilung, einer Art Kaderabteilung, der die statistischen Angaben zum Häftlingsbestand unter sich hatte, den Leiter der Kultur- und Erziehungsabteilung – er war so etwas wie ein politischer Leiter, den Leiter der allgemeinen Versorgungsabteilung und schließlich den Bevollmächtigten, in der Lagersprache „Kum“ (Gevatter; Anm. d. Übers.) genannt, nach Meinung der Gefangenen die wohl bösartigste, gehässigste Person im ganzen Lager, die sich Bestätigungen zufolge nicht nur mit Fragen des Lagerregimes befaßte, sondern auch mit Hilfe ihrer Spione und Denunzianten alle bespitzelte und alle möglichen Intrigen gegen die politisch Unzuverlässigen inszenierte. Und das war wohl auch tatsächlich so. Der Kum besaß Informationen über die Verurteilten; er rief jede Woche irgend jemanden zu sich und machte sich mit seinen persönlichen Angelegenheiten vertraut. Unter diesem Markenzeichen konnte er auch an Informationen von seinen Leuten über seiner Ansicht nach Verdächtige herankommen, und im folgenden dann über sie „kompromittierendes Material“ sammeln. Ich persönlich wurde nur ein einziges Mal zum „Kum“ bestellt, und zwar als sie mich für die Arbeit im Kontor einstellten, aber diese Unterredung diente vor allem dazu sich kennenzulernen – es gab keine schikanösen Fragen und tiefgründiges Eintauchen in meine Personalakte. Neben diesen Militärpersonen gab es auch Zivilpersonal, das hauptsächlich mit betrieblichen Dingen in Verbindung stand: der technische Leiter, der Leiter der Arbeitsvermittlung, der Oberbuchhalter, der Chef der Planungsabteilung u.a. In erster Linie waren das politische Häftlinge, die ihre Strafe bereits abgesessen hatten und in den dreißiger Jahren einberufen worden waren; bei den übrigen handelte es sich um Verbannte oder einfach verbannte Umsiedler, wie beispielsweise unser Oberbuchhalter – ein Deutscher von der Wolga. Unter diesen Leuten gab es solche, die unserem Kameraden immer beistanden, und es gab andere Hunde, die noch gründlicher waren, als die Tschekisten. Es näherte sich der Sommer – die Zeit der weißen Nächte und der Weidenröschen. Diese Pflanze, die von Imkern so hoch geschätzt wird, war für mich lange Zeit das Symbol für das WjatLag. Sie wuchs wild auf alten Lichtungen. Sonderbrigaden aus wieder genesenden Todeskandidaten wurden losgeschickt, um sie zu pflücken, und dann wurde daraus eine Suppe gekocht – eine schwarz-trübe Brühe, die neben Gerstengrütze, täglicher Bestandteil unserer Speisekarte war. Von dieser Suppe verfärbten sich auch die Schüsseln, die hölzernen Löffel und die Zähne schwarz. Übrigens kann es durchaus sein, dass dieser Weidenröschen-Sud für uns die einzige Vitaminquelle war, das einzige Mittel, das uns vor Skorbut bewahrte. Beim Licht der weißen Nächte beobachtete ich noch ein weiteres Phänomen unseres Lagers, das ich irgendwie bei Dunkelheit nie bemerkt hatte. Es war die Unmenge Ratten.Bei Einbruch der Dämmerung krochen sie aus ihren Höhlen, streunten über das Territorium – und auch in der Kantine trieben sie sich in großer Anzahl herum, liefen einem zwischen den Beinen hindurch, um dort Krümel und Tröpfchen zu ergattern, die auf den Boden herabgefallen waren. Mitunter zielte einer der zu Abend Essenden und drückte eine Ratte mit dem Absatz in den Boden. Da lag sie dann und wurde mit den Füßen von einem Tisch zum anderen gestoßen. Nachts liefen die Ratten über die Schlafenden hinweg und bissen ihnen gelegentlich in Finger oder Ohren. Ich weiß nicht, ob sie bekämpft wurden, aber nach einiger Zeit waren sie irgendwohin verschwunden oder benahmen sich zumindest nicht mehr so unverschämt. Der Tag begann mit dem Weckruf. In den Baracken gab es Waschbecken, und manch einer benutzte sie auch, aber die meisten machten sich sogleich fertig, um ihr Frühstück zu bekommen. Vorläufig brachten sie das Brot – die Morgenration von 300 gr. Viele aßen sie sofort auf, die etwas Geduldigeren hoben sie bis zum eigentlichen Frühstück auf, ohne es aus der Hand zu legen. Wenngleich nach Lagersitte der Diebstahl von Brot als äußerst verwerliche Aktion galt, kam dies trotzdem nicht selten vor, so dass es sträflicher Leichtsinn war, das Brot irgendwo herumliegen zu lassen. Das warme Essen wurde in der Kantine brigadenweise ausgegeben. Der Brigadier und seine sechs Männer erhielten genau abgezählte Schüsseln, die sie an die Arbeiter verteilten. Normalerweise schoben die Köche pro Brigade noch 3-4 Portionen mehr hin, die der Brigadeführer dann nach seinem Ermessen aufteilte – am häufigsten und seinen eng Vertrauten. Das Frühstück war kaum beendet, da wurde auf einem Stück Eisenbahnschiene auch schon das Zeichen zum Abmarsch zur Arbeit gegeben. Der Arbeitseinsatzleiter, seines Zeichens Aufseher über die Sklavenarbeiter, lief durch die Baracken und kontrollierte den Abmarsch der Brigaden, die Registrierung der Leute u.ä. Dieser Aufseher kam aus den Reihen der Häftlinge und diente der Verwaltung sozusagen als treuer Hund, und daher war er innerhalb der Laherhierarchie zwar privilegiert, fand aber dennoch nur geringe Achtung. In seiner Gesellschaft befand sich stets der „Kommandant“, ein dümmlicher Tolpatsch mit einem dünnen Knüppel in der Hand, und er tat sich auch keinen Zwang an, diesen zum Antreiben derjenigen einzusetzen, die zu spät dran waren:
„. … und schon erschallt das Zeichen zum Aufbruch,
Der Kommandant rennt ‚rum mit seinem dicken Stock,
Du denkst nur: … Tram ta rar am.“
(Der Leser wird den Rhythmus selbst auswählen).
So wird dieser Augenblick in der Lager-Folklore beschrieben. Nachdem die
Brigaden sich am Tor versammelt hatten, marschierten sie nacheinander aus dem
Lager, wo sie von Begleitsoldaten übernommen wurden. Der Konvoi-Leiter rasselte
seine tägliche „Litanei“ herunter: „ ein Schritt nach rechts, ein Schritt nach
links gilt als Fluchtversuch. Die Wachen werden ohne weitere Vorwarnung von der
Waffe Gebrauch machen!“ Und dann marschierte die Brigade zum jeweiligen Objekt.
Der Arbeitsplatz war eingegrenzt von einer „Verbotszone“ welche die Grenzlinie
bezeichnete, bei deren etwaiger Übertreung die Waffe zur Anwendung gelangte, vor
der man sie bereits beim Arbeitsausmarsch vorgewarnt hatte. Und das war auch
keineswegs eine leere Drohung: in meiner Erinnerung wurden 5-6 Männer Opfer
ihrer Unachtsamkeit gegenüber dieser ziemlich unzuverlässigen Grenzmarkierung
zwischen Leben und Tod. Unsere Arbeit bei Onkel Sascha bestand im Ausbau von
Wegen, die mithilfe von Bohlen verlegt wurden und für die Abfuhr von Holz
genutzt werden sollten.
Aus dünnen Hölzern wurde eine Art Schienen verlegt, die man mit hölzernen Bolzen
an Schwellen annagelte. Wenn es zwischen den Schwellen irgendwelche Vetiefungen
gab, so mußte die Stelle auch noch mit einem Bretterbelag aus dünnen Stangen
unterlegt werden – um das Gewicht aufzufangen. In diesen hölzernen Fahrrinnen
fuhren dann die Leiterwagen mit ihren speziellen Rädern - von einem Pferd
gezogen. Auf so einem Karren konnte man, je nach der Bodenbeschaffenheit der
Umgebung und der Zugstärke des Pferdes 3 – 4 Kubikmeter abtransportieren. Es
handelte sich um deutsche Trophäen, Lastpferde, die auch noch mehr hätten
schaffen können, aber sie waren eine derartige Wegstrecke nicht gewohnt, ganz
abgesehen von dem dort herrschenden klimatischen Verhältnissen und dem
spärlichen Futter, und so konnten sie dort nicht für lange Zeit eingesetzt
werden. Die kleinen WjatLag- Pferde zogen viele Jahre treu und ergeben ihre Last.
Nachdem die Arbeitsbrigaden allesamt die Lagerzone verlassen hatten, verkündete
eine erneute Serie von Schlägen auf das Schienenstück den Beginn des nun
folgenden Zählappells. Nach diesem Signal wurde jegliche Bewegung im Lager
unterbrochen. Die Aufseher durchstreiften alle Räumlichkeiten, zählten die Leute
durch, die sich an ihren Arbeitsplätzen innerhalb des Lagers befanden oder sich
dort aus anderen Gründen aufhielten. Dabei war auch der Arbeitsanweiser, der
während dieser Zeit Kenntnisse darüber gewann, wer nicht zur Arbeit gegangen war
und anhand einer Liste erfuhr, welche Leute von der Sanitätsabteilung
freigestellt worden waren u.ä. Auf diese Weise wurden alle im Lager verweilenden
Häftlinge überprüft. Die legal von der Arbeit Befreiten beließ man dort, während
die „Arbeitsverweigerer“ an einer Stelle zusammengetrieben wurden. Wenn nach
Beendigung des Rundgangs alle Zahlen übereinstimmten, wurde das Schlußsignal für
die Kontrolle geschlagen, und das Leben im Lager nahm wieder seinen gewohnten
Gang; aber sofern es Abweichungen gab, wurde die ganze Prozedur wiederholt – und
mitunter war das auch drei- oder viermal der Fall. Nach dem Schlußsignal wurde
über die Arbeitsverweigerer Gericht gehalten. Gelegentlich kamen sie in den
Karzer. Wenn es allerdings zu viele waren, wurden sie unter der Begleitung von
Wachsoldaten zu irgendwelchen Arbeiten in der Siedlung oder zum Holzeinschlag
gebracht. In jedem Fall zog jedoch eine derartige „Verweigerung“ eine
Strafration nach sich . 300 Gramm Brot sowie Entzug der warmen Mahlzeiten.
Letzteres funktionierte jedoch nicht wirklich: die Brigadiere und Köche schoben
meist auch ihnen eine Schüssel mit Wasserbrühe zu. Am Abend kehrten die Brigaden
ins Lager zurück, jede in Begleitung ihres Wachsoldaten, und dann wurde vor dem
Wachhäuschen die Anzahl der am Morgen Ausmarschierten mit der Zahl der nun
Zurückgekehrten verglichen; anschließend ließ man die Gefangenen wieder in die
Lagerzone. Das Abendessen begann. Aufgrund der geringfügigen Kantinengröße zog
es sich manchmal bis zum Schlafenssignal hin. Dieses wurde um 10 Uhr abends
gegeben, so daß die Häftlinge insgesamt eine 8-stündige Nachtruhe zur Verfügung
hatten. Aber nicht jeder fand seinen Schlaf. Irgendwo waren immer ein paar
Krininelle hinter den mit Decken verhängten „Schlafwaggons“ mit Kartenspielen
beschäftigt. Hinter manchen dieser Vorhänge traf man sich auch mit Freundinnen.
Die Diensthabenden standen auf ihren Posten, um beim Auftauchen der Aufseher,
die in regelmäßigen Abständen ihre Rundgänge machten, ein Warnsignal
auszustoßen. All diesen Vergnüngungen frönte die Gauner-Aristokratie im Lager.
Entweder hatten sie den Posten eines Brigadiers inne oder sie arbeiteten
überhaupt nicht; sie wurden einfach als Reinigungspersonal und Diensthabende
gewertet. Die Arbeit für sie erledigte eine Sechsergruppe kleiner Gaunerchen,
und die „Zaren“ der Verbrecherwelt schlenderten tagsüber mit ihren kleinen
Schirmmützen, in ihren weiten Hosen mit den eng anliegenden Falten, nachlässig
durch das Lager, während sie mit Beginn der Nacht anfingen sich zu amüsieren,
ohne sich auch nur im Geringste um die Nachtruhe der anderen zu kümmern. Sie
aßen auch nicht mit den anderen am gemeinsamen Tisch, sondern bekamen ihr Essen
einzeln, und manchmal schickten sie auch ihre sechs Diener in die Küche. Von
denen, die ein Paket bekommen hatten, sammelten sie Gaben ein – und das taten
sie nicht nach einer prozentualen Berechnungen, sondern sie suchten sich nach
eigenen Gutdünken immer nur das Beste und Leckerste aus. Die Lagerleitung wußte
das alles, tat aber so, als bemerke sie es nicht. Und in so einer Gesellschaft
verbrachte ich dann auch diesen Sommer.
Und da ich nun schon einmal die bereits früher erwartete „nie dagewesene“
Amnestie angesprochen habe, so sage ich, daß hier wohl ein Berg eine Maus
geboren hat, denn die Amnestie betraf nur einen Teil der Kriminellen, aber
hauptsächlich Verurteilte oder Deserteure, die sich immer noch versteckt hielten.
Diejenigen, die an der Front gekämpft hatten, und viele von ihnen sogar länger
als ein Jahr, waren in Gefangenschaft geraten und blieben somit in den Lagern
sitzen – mit dem aufgedrückten Stempel eines Vaterlandsverräters. Allerdings
sage ich um der Objektivität willen, daß dieses Schicksal nicht alle
Kriegsgefangenen ereilte, sondern solche, die auch noch andere Sünden begangen
hatten, eine fremde Seele der Finsternis, aber es gab da auch noch andere Satane,
die nichts anderes verbrochen hatten, als in Gefangenschaft zu geraten und es
fertig gebracht hatten, dort zu überleben. Zum Sommer lichtete sich das
Lagerkontingent grundlegend. Durch das ungseunde Klima und die schlechte
Verpflegungssituation siechten die Menschen vor den Augen dahin, und es war
schließlich die verdienstvolle Leistung der Ärzte, allen voran Dr. Klemm, und
wohl auch der Leiterin der Sanitätsabteilungm, daß sie diesen Armen ihre
Unterstützung gewährten und sie ins Krankenhaus einwiesen und sie, sobald sie
genesen waren, in die Erholungs-Lagerstelle schickten, von wo sie, mehr oder
weniger gut genährt, zurückgesendet oder an eine andere Lageraußenstelle
verbracht wurden. Übrigens nicht alle – einige starben dort auch. Todesfälle gab
es in unserem Lagerpunkt praktisch keine, es sei denn aufgrund eines
Unglücksfalls oder anderer außergewöhnlicher Umstände, die ich noch erwähnen
werde. Das Lager verfügte auch über ein eigenes OP (Erholungslager; Anm. d.
Übers.). Ich kann mich nicht erinnern, wofür diese Abkürzung stand. Die „OP-ler“
erhielten ihre Verpflegung nach den Sanitätsabteilungen, was mit umfangreicheren
Normen verbunden war, sie lebten brigandenweise zusammen und wurden zu
leichteren Arbeiten gebracht, beispielsweise zum Spalten von Brennholz für die
Lagerzone, dem Sammeln von Windröschen u.ä. An die Stelle der verstorbenen
Muselmänner kam in diesem Sommer zweimal eine Aufstockung – in Gruppen von
jeweils 200-300 Leuten. Der erste Zug, der eintraf, waren Ukrainer –
Banderow-Anhänger, wohlgenährte, hauptsächlich junge Männer in huasgewebter
Oberbekleidung, mit Futtersäcken ausgestattet, in denen sich noch Speckseiten
und hausgebackenes Weizenbrot befanden. Der Zug war aus Lwow gekommen. Mit den
Banderow-Leuten trafen auch einige „Banderiwik“-Ukrainerinnen ein, die in
irgendeiner Form mit dieser OUN (Organisation ukrainischer Nationalisten) in
Zusammenhang standen.
Diese Mädchen und Frauen unterschieden sich sowohl durch ihre Statur, als auch
durch ihre Gesichter mit den schwarzen Augenbrauen ganz erheblich von unseren
dürren, seit ihrer Kindheit an Hunger und durch die Schwerstarbeit leidenden
Wjatka-Mädchen. Sie erfüllten das Lager mit ihrem Singsang und Geplapper, und
brachten eine gewisse Lebhaftigkeit in die düstere Atmosphäre der
Lageraußenstelle. Die Männer, aber auch ein Teil der Mädchen, wurden zum
Bäumefällen geschickt. Der Wald knirschte unter dem Ansturm der kerngesunden,
arbeitswütigen Ukrainer. Aber das währte nicht lange. Ebenso wie die deutschen
Pferde, fingen auch sie an dahinzusiechen, nachdem sie die letzten Stückchen
Speck aufgegessen hatten und zum Verzehr von Weidenröschen übergegangen waren,
sie schwanden vor den Augen der anderen dahin und reihten sich schon bald darauf
in das Fließband: Krankenhaus – Erholungsstelle – Verschickung ein. Die Mädchen,
die bei leichteren Arbeiten eingesetzt waren, erwiesen sich als ausdauernder und
zäher und blieben annähernd vollständig bei Kräften. Unter den bei Kuwschinow
und mir eingetroffenen Neuankömmlingen fand sich ein neuer Freund. Es handelte
sich um einen Geistlichen aus den Reihen der ukrainischen Nationalisten aus der
Gemeinde der „Priesterschaft „SITZ DES HEILIGEN JUR“ (Kirche des Heiligen Georgi)
in Lwow. Wie sich anhand der Gespräche, und später auch aus der Literatur,
herausstellte, war diese Kirche eines der ideologischen Zentren des Banditismus
der OUN-Anhänger in der West-Ukraine. Als Mensch war dieser Geistliche mit
Nachnamen Gadsewitsch oder „Pan Otez“ (Herr Vater; Anm. d. Übers.), wie ihn die
Ukrainer anredeten, ein sehr gebildeter, intelligenter, scharfsinniger Mann, und
der Umgang mit ihm war vor dem Hintergrund unserer neandertalischen Gesellschaft
äußerst angenehm. Auch unter den Frauen gab es eine ausgeprägte, intelligente
Zwischenschicht, so daß wir in der Freizeit, und ich hatte ein wenig davon zu
meiner Verfügung, in Kuwschinows kleinem Amtszimmer ein wenig ausruhen und
unsere Seelen erleichtern konnten. Der zweite Zug kam aus Deutschland. Dieses
Kontingent bestand aus Soldaten, die für unterschiedliche Verbrechen verurteilt
worden waren. Teilweise handelte es sich ebenfalls um ehemalige Kriegsgefangene,
die bereits am Anfang schon wiedert aus den Lagern befreit worden und dann mit
der n Roten Armee bis vor die Stufen des Reichstags voranmarschiert waren und im
weiteren Verlauf nicht das feine Netz der Sonderabteilungskommissionen
durchlaufen hatten; zum Teil waren es aber auch ehemalige Kriminelle, die man
vorzeitig zur Verschickung an die Front entlassen hatte, und die in friedlichen
Tagen zu ihrem früheren Handwerk zurückgekehrt waren; aber die meisten waren
einfache Soldaten und Offoziere, die sich während des Krieges auf deutschem
Territorium an Gewalttätigkleiten und alle möglichen Gemeinheiten gewöhnt hatten
und nun dafür bezahlten mußten, als die die Schraubenmuttern der Disziplin und
der rechten Ordnung fest angezogen wurden. Es war wirklich ein buntgeschecktes
Publikum, und dennoch durch die unsichtbaren Fesseln vereint, die einem die
Armee anlegt. Diese nicht sichtbare geistige Verbindung half irgendwie dabei,
einen gemeinsamen Nenner, eine gemeinsame Sprache unter den Frontkämpfern und
Kriegsgefangenen, Wlassow-Leuten und unter uns seltenen deutschen
Kriegsgefangenen zu finden, und sogar mit den Wachen aus den Reihen der
Frontsoldaten. Die Ankunft d8ieser beiden Züge veränderte jäh die psychologische
Atmosphäre im Lager. Die Kleinkriminellen, die früher den Ton angegeben hatten,
resignierten und lösten sich in diesem viel disziplinierteren und moralisch
gesunden Milieu in Luft auf. Das Leben wurde etwas leichter, fröhlicher, wie
auch ein Plakat aus den 1930er Jahren bestätigte. Dazu trug auch die bessere
materielle Versorgung mit Kleidung, Nahrung und Werkzeugen bei. Kino-Veranstaltungen
gab es nicht, weil auch keine Elektrizität vorhanden war, dafür kamen nach und
nach Amateur- und Laienspielgruppen auf, und gelegentlich wurden auch „Konzerte“
veranstaltet. Innerhalb des Lagers waren Bauarbeiten im Gange, unter anderem für
einen großen Krankenhaus-Komplex.