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P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 58. Die Küche

„Mama, ich liebe den Koch so sehr.
Mama, ich werde den Koch heiraten.
Der Koch macht schöne Koteletts
Und richtet feine Salate an,
Mama, ich liebe den Koch so sehr!“
(Dummes Liedchen aus dem Repertoire von Iwan Wasiljewitsch).

Tage verrannen. Meine „leichte“ Arbeit erwies sich ebenfalls als ziemlich schwer: ich mußte sowohl Holz zur Herstellung von Eisenbahnschwellen und holzunterlegten Fahrwegen zurechtsägen, als auch 6 Meter lange Stämme auf den Schultern fortschleppen, Lochstreifen durch Schienen und Bohlen bohren und mit einem Vorschlaghammer hölzerne Bolzen in die vorgefertigten Öffnungen treiben. Ich fing erneut an abzumagern, meine Füße schwollen an, allerdings nicht in dem Maße, wie seinerzeit im Frühjahr, aber es genügte schon auf einen der Finger zu drücken, daß sich dort eine ausgeprägte Druckstelle bildete, die nur langsam wieder verschwand. Schneeregen kam vom Himmel herunter, und schon bald mußte ich wieder im Krankenhaus behandelt werden. Aber das war nicht allein mein Kummer. Der Herbst wirkte sich massenweise auf die Meschen aus. Erst fingen diejenigen, die aus dem Westen stammten, an dahinzusiechen und nach und nach auch alle übrigen. Unsere Erholungsstelle war schon nicht mehr in der Lage, all diese Menschen aufzunehmen, auch die stationäre Krankenabteilung war völlig überfüllt. Daher wurden sowohl bereits Genesene als auch weiterhin Schwerkranke im erst halb fertiggebauten Gebäude des neuen Krankenhauses untergebracht. Etwa im November – Dezember war bereits mehr als die Hälfte des Kontingents arbeitsunfähig. Als Ersatz für die ausgefallenen Arbeitskräfte traf nochmals eine kleinere Häftlingsetappe ein – diesmal allerdings aus Tadschikistan. Dennoch waren nur wenige Tadschiken darunter; bei den meisten handelte es sich um Russen, und zwar auch Frauen. Aber auch die „Tadschiken“ waren das feuchte Sumpfklima der Kirow-Region nicht gewohnt; auch sie „schwammen“ schon bald dahin und stockten die Reihen der durch das Lager streifenden Muselmänner weiter auf. Die Krankenhausküche, in der das Essen für die stationäre Krankenabteilung und den Erholungspunkt zubereitet wurde, war aus der allgemeinen Küche ausgegliedert worden und befand sich inzwischen im neuen Krankenblock. In der Krankenhausküche arbeiteten: in der Tagesschicht – ein gewisser Onkel Pjetja, ein hagerer Mann, der keineswegs Ähnlichkeit mit einem Koch besaß, und nachts – mein Bekannter, den ich während meines ersten Krankenhausaufenthaltes kennengelernt hatte, der Este Rein Hirwelaan, ein junger Bursche aus den Reihen jener verbannten Umsiedler, die noch im Jahre 1940 verschleppt worden waren. Weshalb er jetzt hier saß, weiß ich nicht mehr. Der Nachtkoch war nicht innerhalb einer Planstelle eingestellt, sondern zählte zu den Kranken der stationären Abteilung. Weiterhin arbeiteten in der Küche gehfähige Kranke aus dem Krankenhaus oder der Erholungsstelle. Als ich erneut genesen war, bat ich darum, mir eine Arbeit bei Hirwelaan zu verschaffen und geriet daraufhin zum ersten Mal in die Küche. Zu dieser Zeit verschlechterte sich die Verpflegung zusehends. Allerdings tauchte gelegentlich auch Fleisch auf, genauer gesagt Knochen; es gab auch Öl – Baumwollöl, wie es hieß, aber es war schwarz wie Teer und strömte einen unangenehmen Geruch aus. Aber zumeist brachten sie anstelle von Öl Soja-Ölkuchen – zerdrückte Abfälle aus den Samen, die nach dem Herauspressen des Öls übrigblieben. So ein Ölkuchen wurde zusammen mit Fett im Verhältnis 1:3 oder 1:5 ausgegeben. Er wurde in der Regel zerstoßen oder mit Wasserdampf angereichert und dann in den Brei gegeben. Mit Gemüse jedoch konnte es nicht schlimmer sein. Anstelle unserer komfortablen Weidenröschen gab es plötzlich Kohl. Er wurde in einer ganzen Waggonladung für die Kranken hierher transportiert. Er wurde von den äußeren grünen Blättern befreit und dann eingelagert, während die abgerissenen Blätter neben den Schienen liegenblieben, vom Schnee verschüttert und von Schlittenkufen plattgefahren wurden. Jetzt brachten sie diese klumpigen Blätter samt Schnee in die Küche, tauten sie auf, zerkleinerten das, was übrigblieb, mit speziellen Hackmessern und taten es in ihre „Kohlsuppe“. Ein analoges Bild stellte sich auch bei den Kartoffeln dar: der nach dem Sortieren verbliebene Kleinkram wurde auf der Straße zurückgelassen, gefror, und dann wurde der Schmutzklumpen mit den daran haftenden Kartoffelstückchen hergebracht, gekocht, und die eiskalten Kartoffelknollen kamen, samt Schale kleingehackt, in die Suppe (unter anderem auch in die für die Kranken). Aber auch die Schälchen mit dieser „Kohl“-Suppe war hilfreich, und ich arbeitete dafür die ganze Nacht hindurch, indem ich das „Gemüse“ auftaute und diese Masse dann in einem hölzernen Trog zerhackte. Doktor Klemm, der von meiner nächtlichen Abwesenheit Kenntnis bekam, wies mich zurecht und erlaubte mir dann, während der Tagesschicht in der Küche zu arbeiten. Bald darauf gab es in der Küche einen Wechsel. Onkel Pjetja wurde aufgrund irgendwelcher Vergehen zu einer anderen Arbeit versetzt und an seiner Stelle kam Iwan Wasiljewitsch aus der Tadschiken-Etappe. Er war ein professioneller Koch, der früher in einem Restaurant tätig gewesen war. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, war von dicklicher Gestalt und trug damit jene Leibesfülle zur Schau, die einen Chefkoch oder Ladenchef eben auszeichnen. Kopf und Bart waren stets glattrasiert, die etwas herabhängenden, aber geschmeidigen Wangen deuteten den Ansatz eines Doppelkinns an, und die kleinen fröhlichen Augen verschafften ihm Ähnlichkeit mit einem gepflegten Pummelchen. Er trug immer ein schneeweißes Hemd, seine Hände waren sauberer als die eines Chirurgen, und darin unterschied er sich sehr vorteilhaft von dem überlriechenden Onkel Pjetja. Er saß wohl wegen irgendwelcher Machenschaften oder Intrigen, wie sie den Mitarbeitern der allgemeinen Kantinenverpflegung zueigen sind. Iwan Wasiljewitsch war auch ein lebenslustiger Mensch, der es verstand, aus den wenigen kümmerlichen Lebensmitteln recht schmackhafte Dinge herzustellen und auch die Lagerleitung zufriedenstellend zu bewirten. Er hatte sich auch eine Frau aus dem Lager zugelegt, ein noch ganz junges Mädchen aus den Reihen der WjatLag-Häftlinge. Zum neuen Chef hatte ich ein gutes Verhältnis. Er hörte gern meinen Erzählungenüber das Leben im Ausland, über meine Abenteuer, zu. Wenn er nichts zu tun hatte, brachte er mir die Technologie der Zubereitung von Häftlingsmahlzeiten bei, und schon bald darauf vertraute er mir die entsprechenden Arbeitsgänge ganz allein an, verschwand dann oft stundenlang und kehrte erst wieder zur Essensausgabe zurück. Nch einiger Zeit fiel auch Hirwelaan in Ungnade. Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, war er noch ein völlig abgemagerter, kaumnoch unter denLebenden weilender Todeskandidat gewesen. Inzwischen hatte er sich herausgefuttert und war ein großer Bursche geworden, mit rötlichen, borstig geschnitten Haaren, zahlreichen Sommersprossen in seinem weißen, runden Gesicht und hellen Augenmit weißen Wimpern. Auch er hatte sich eine Frau angeschafft, eine anmutige Ukrainerin aus der Lwow-Etappe, und wie bekannt – cherchez la femme – hatte ihm das Schwierigkeiten eingebrockt. Morgens brachte er ihr immer ein extra zubereitetes Frühstrück. Natürlich sahen alle das, und es dauerte nicht lange – da hatte auch die Lagerleitung davon Wind bekommen, und so wurde er eines Tages auf frischer Tat ertappt. Als Resultat davon wurde er aus der Krankenstation abgeschrieben, aus der Küche gejagt und zur Holzfällerei geschickt. Es ist nicht verwunderlich, dass Iwan Wasiljewitsch mich als Nachfolger vorschlug. Und natürlich lehnte ich das nicht ab, wenn gleich mir dies aus anderen Gründen nicht ganz recht war. Es ist5 schwer als Koch zu arbeiten, wenn sich um einen herum soviele hungernde Menschen befinden. Es brauchte schon Iwan Wasiljewitschs ganzes Talent, sich mit allen zu vertragen, indem er dem einen eine Extra-Mahlzeit zuschob, dem anderen eine Schöpfkelle Brei, während er hier und da lediglich einmal eine witzige Bemerkung fallen ließ. Aber ich dachte, dass nachts jemand zu mir kommen würde und ich am Morgen lediglich das Frühstück ausgeben müsse, um mich danach auszuruhen. Aber so war es nicht. Aber ab dem Abend, und erst recht gegen Morgen, tauchten nicht nur bei der Essensausgabe, sondern auch am Hintereingang und unter den Fenstern dutzende Gestalten mit ihren Schüsseln in der Hand auf. Sie überschütteten mich mit Bitten und Drohungen, aber wir konnte man denn, wie bei Christus, diese ganze Horde mit dieser winzig kleinen Reserve füttern, die nach Abzug der Normmenge noch zur Verfügung stand. Und es konnte schon gar keine Rede davon sein, dass diese Normportionen ausreichten. Außerdem gab es noch eine ganze Reihe von ständigen Schmarotzern. Iwan Wasiljewitsch hatte stets verlangt, dass gegen Morgen das Frühstück für die Ärzte vorbereitet wurde, und man nahm an, dass er bei der Gelegenheit auch gleich die beiden in Ungnade Gefallenen – Onkel Pjetja und Rein Hirwelaans - mit durchfütterte. Das nennt man dann professionelle Solidarität, meinjte Iwan Wasiljewitsch. Im Großen und Ganzen war ich bereit, dieses mit zahlreichen Unannehmlichkeiten und mit viel Unruhe einhergehende Amt abzulehnen. Hinzu kam noch, daß sich eines Abends der Leiter der Lastkraftwagen-Brigade, einer der wichtigsten Kriminellen im Lager, in der Küche beschwerte. Er war natürlich kein Armenier, sondern ein waschechter Russe, mit einem ganz gewöhnlichen, aber fast schon sympathischen Gesichtsausdruck. Was die Familiennamen betrifft, so besitzen Leute seiner Art nicht nur einen davon, und wenn der Begleitsoldat anfängt „Iwanow“ zu schreien, dann ist er plötzlich Petrow oder Schultz usw., und dann kommen einem unwillkürlich der Allrussische Imperator, der polnische Zar, der Großfürst von Finnland u.a. …. ins Gedächtnis. Grigorjan kleidete sich ganz nach der Mode, die er von den Kriminellen übernahm, und er hatte sich sogar einen Pony wachsen lassen. Er ist äußerst höflich, „Bat“ aber nun in ultimativer Art und Weise, daß ich ihm sein Frühstück zubereiten sollte. Verärgert und mit einer gewissen Verbitterung mußte ich eingestehen, daß mir von derartigen „Bestellungen“ noch nichts bekannt war und wie er darauf kommen. „Schluß jetzt!, verkündete Grigorjan. „Das wird keiner mehr wagen!“ – Und tatsächlich war es so, als wäre die gesamte Küche von Verbotszonen umgeben. Erst um 5 Uhr morgens tauchte eine Sechser-Gruppe mit ihren Schüsseln für Grigorjan auf, und auch er streckte seine eigene Schüssel aus, weil er sich mit dem standardmäßig ausgegebenen Brei zufriedengab. Er erhielt dasselbe, was man auch für die Ärzte zubereitet hatte. Dieser vielleicht nicht gerade ethische Pakt gestattete es mir, daß ich nicht unnötig viel Wasser in den Kessel gab, und somit waren alle zufrieden.
Übrigens – einmal wurde das Tabu verletzt. Ich war gerade dabei, ein paar Ölkuchen in Wasserdampf aufzuweichen, und während ich darauf wartete, daß das Wasser anfing zu kochen, stellte ich die Transportkiste mit der abgewogenen Menge Ölkuchen auf das Fensterbrett des leicht geöffneten Fensters; anschließend legte ich mich einen Augenblick auf der Bank nieder, welche direkt unterhalb des Fensters stand. Plötzlich war die Kiste für einen winzigen Moment in der Luft zu sehen, verschwand dann aber sogleich wieder. Ich sprang auf und stürzte zur Tür, aber ich erblickte nur noch ganz kurz eine menschliche Gestalt, die sich hinter einer Ecke zu verstecken versuchte. Den Verlust der Ölkuchen hätte ich noch irgendwie geheimhalten können, aber wir sollte ich das Verschwinden der Kiste erklären, in der vor der Einlagerung sämtliche Lebensmittel untergebracht waren. Bei einer Enthüllung des Vorfalls würden jedenfalls große Unannehmlichkeiten drohen.

Von Zweifeln und großer Besorgnis getragen wandte ich mjch mithilfe seines Boten erneut an Grigorjan. Kaum daß der Morgen graute, da tauchte unter dem Fenster auch schon die schmierige, schmutzige Gestalt eines Gaunerleins auf. Er schaute sich von Zeit zu Zeit mürrisch um und stellte schließlich die unheilvolle Kiste auf die Fensterbank. Als er sah, daß ich weder fluchte noch schimpfte und auch keinerlei Absichten zeigte ihn zu verprügeln, zog er hinter dem Rücken seine zweite Hand, in der er seine Schüssel hielt, hervor, und ich war nur allzu gern bereit, ihm eine Kelle Brei einzufüllen. Wenn es in meiner kleinen Küchenwelt auch still und segensreich zuging, so liefen dafür außerhalb ihrer Grenzen unheimlich gruselige Bilder ab. Ich wohnte bereits im Gebäude der neuen Krankenstation, in der sich auch die Küche befand. Das Gebäude war allerdings noch nicht fertiggebaut. Durch die mit Holzlatten vernagelten Ritzen der noch unverputzten Zimmerdecken schauten die Sterne herein, und auch die ebenfalls noch unverputzten Öfen, die an zwei Seiten der angrenzenden Krankenzimmer standen, schafften es nicht, für eine wenigstens annähernd erträgliche Temperatur zu sorgen. Die Bewohner dieser Unterkunft, schmutzig und zerlumpt, liefen, auf der Suche nach irgendeiner Verdienstmöglichkeit, den ganzen Tag in der Lagerzone hin und her: mal halfen sie dabei, Lebensmittel in der Küche abzuladen, fuhren zum Brotholen in die Bäckerei oder sahen altes Zeug, unbrauchbare Sachen im Lager durch. Dafür brach man ihnen ab und ein ein Extrastückchen Brot ab oder reichte ihnen eine Sonderration Suppe oder Brei.
Solche Glücklichen gab es allerdings nur ganz vereinzelt. Die Mehrheit von ihnen war dauerhaft damit beschäftigt, die Abfälle zu durchforsten, um darin vielleicht eiinen Fischkopf oder eine gefrorene Kartoffel zu finden. Abends schlichen sich an den geöffneten Feuerräumen der Öfen dunkle Gestalten herum, ihre Jacken mit Bindfäden als Gürtel um den Leib geschlungen, mit aus den Mänteln von Fahrzeugreifen selber hergestelltem, zerfetztem Schuhwerk an den Füßen (geeignete Schuhe nahm man ihnen weg und gab sie an die Pro0duktion weiter) und mit unter dem Kinn festgebundenen, abgetragenen Strickmützen mit Ohrenklappen. In schmutzigen Eimern oder Kochgeschirren kochten sie sämtiche Trophäen, die sie sich tagsüber aus den Müllhaufen zusammengesucht hatten. Wer damit keinen Erfolg gehabt hatte, der kochte sich seine „Ration“ zurecht. Es bedeutete, daß sie zu der erhaltenen Suppe, dem Brei und der Brotration (abends gab es 300 gr) zwischen 2 und 3 Liter Wasser hinzufügten und das Ganze so lange kochten, bis sich alles in eine flüssige Brühe verwandelt hatte, die sie dann mit Salz würzten und, um das Vergnügen noch ein wenig zu verlängern, schluckweise austranken, wobei sie versuchten, den Mangel an Qualität durch Menge auszugleichen. Es versteht sich von selbst, daß die Durchfallerkrankungen durch eine solche Ernährung nur noch zunahmen; immer neue Partien wurden aus dem Lager abtransportiert, um zu genesen oder zu sterben. Manchmal hätte ich in meinen Gedanken diese Koch- und Eß-Szenen zu gern auf eine Leinwand gebracht – mitsamt diesen aufgedunsenen oder abgemagerten Gesichtern, die jegliche menschlichen Züge verloren hatten; aber ich nehme an, daß sie beim wohlgenährten Zuschauer der auf seinem weichen Sofa vorm Fernseher sitzt, sowieso nichts weiter als ein ironisches Lachen ausgelöst hätten. All das muß man einfach mit seinen eigenen Augen gesehen haben, und dazu mit den Augen eines Menschen, der schon morgen indieselbe Gesellschaft hineingeraten konnte. Hundertfach bin ich dem Schicksal und guten Menschen dafür dankbar, daß dieser Kelch an mir vorüberging.

Aber dann wurde es erneut Frühling. Der Schnee war schon beinahe verschwunden, die Natur erwachte zu neuem Leben, und auch die menschlichen Schatten, die bis zu diesem Zeitpunkt im Lager herumgelungert hatten, blühten wieder auf. Und das nicht nur aufgrund des aufmunternden Frühjahrssonnenscheins, und schon gar nicht wegen der besser gewordenen Verpflegung, sondern eher aus einem Gefühl der Hoffnung heraus, daß es nun möglich sein würde, noch einen weiteren Sommer zu überleben. Auch die Lagerleitung kam wieder in Bewegung. Nach dem Mißlingen aller Herbst- und Winterplanungen galt es jetzt, alles Versäumte nachzuholen. Sklavenarbeiter waren nötig. Offensichtlich waren die übergeordneten Instanzen unzufrieden mit dem Liberalismus, den die Ehefrau des Lagerleiters walten ließ, aber auch mit dessen eigenen Charakterlosigkeit, und so traf eines Tages unverhofft eine Kommission ein, welche in Anwesenheit der örtlichen Obrigkeit eine medizinische Untersuchung der Häftlinge durchführte. Ehemalige Todeskandidaten wurden nun für wahre Kraftprotze befunden und sogleich in Brigaden aufgeteilt. Verständlich, daß auch ich von der Suppenkelle Abschied nehmen mußte, aber man gewährte mir auch weiterhin die 3. Arbeitskategorie, denn da ich bei der Arbeit ständig auf den Beinen war und viel zu viel flüssige Nahrung zu mir genommen hatte, waren die Schwellungen in den Beinen noch nicht vollständig zurückgegangen. Wieder kam ich zur Straßen- und Wegebau-Brigade, aber sowohl ihr Kontingent als auch die Leitung hatten sich inzwischen geändert. Onkel Sascha war, nachdem er seine Strafe abgesessen hatte, noch im Herbst freigelassen worden; für wie lange – das weiß Gott allein. Soll er doch im Jenseits einen Schluckauf bekommen, jedenfalls war er ein gerechter alter Mann gewesen, auch wenn er zu den Dieben gezählt hatte. Die frisch mobiliserten Arbeiter erhielten neue Kleidung ausgehändigt, darunter auch Schnürschuhe, die aus irgendeinem Lederersatzmaterial hergestellt worden waren und das Wasser wie ein Löschblatt durchsickern ließen. Deswegen ging ich während meiner Arbeit zwischen Pfützen und Schneestellen stets mit nassen Füssen umher und brachte es sogar fertig, mir die großen Zehen beider Füße zu erfrieren. Sie schwollen an, verfärbten sich schwarz, und schließlich fielen die Nägel aus. Der Schmerz war grauenhaft, als ich am nächsten Morgen erneut die nassen, hart gewordenen Schuhe anziehen mußte. Aber ich hielt standhaft durch. Mich wieder zum Arzt zu begeben erschien mir unangebracht. Zu dieser Zeit gab es in der Küche zwei Gruppen, die sich nicht grün waren. An meine Stelle ließen sie zunächst wieder Onkel Pjetja treten, genauer gesagt an Pjotr Romanenko, wie ich mich jetzt erinnern kann. Aber bald darauf entfernten sie ihn wieder. Entweder vertrug er sich mit Iwan Wasiljewitsch nicht oder er hatte sich an irgendeiner Sache die Finger verbrannt. Auf seinen Platz kam eine Frau aus der Tadschikistan-Etappe, eine ältere, ziemlich intelligente, aber ziemlich durchtriebene Person, die wegen irgendwelcher Betrügereien einsaß. Aber auch sie hielt sich dort kaum länger als eine Woche, sondern flog nach einem Skandal achtkantig heraus. All diese Neuigkeiten hörte ich au8s zweiter-dritter Hand, denn ich selber ging nicht dorthin, wenngleich Iwan Wasiljewitsch mich, als ich ihn einmal traf, einlud, nach der Essensausgabe zu ihm zu kommen. Aber ungeachtet meines perspektivlosen Zustands war es mir nicht möglich, mich unter das Fenster zustellen und um Almosen zu bitten. Aber da, wenige Tage nach der Amtsenthebung der Dame aus Tadschikistan, als ich am Abend vom Abendessen zurückkehrte und meinen Schlafplatz auf der Pritsche aufsuchen wollte, während ich mir meine schmerzenden Zehen rieb, tauchte ein Bote aus der Sanitätsabteilung auf und sagte, ich solle zum Arzt kommen. Verwundert begab ich mich zur Sanitätsstelle und betrat das Sprechzimmer. Dort saßen Doktor Klemm und die Abteilungsleiterin. Ohne weitere Worte befahl sie mir mich auszuziehen, betastete anschließend meine noch geschwollenen Beine, hörte meine Herztöne ab und sprach das Urteil – Myokarditis, woraufhin ich dann auch sofort in die Krankenstation geschickt wurde. Offiziell. Inoffiziell wies sie mich an, sofort in die Küche zu gehen und meine Schicht anzutreten. Was ich auch tat. Allerdings hatte mich der Begriff „Myokarditis“ doch ein wenig in Beunruhigung versetzt. Und so versuchte, wie eine Katze, die um den heißen Brei herumschleicht, bei dem geckenhaften Arzthelfer herauszufinden, was das wohl sein mochte. Er meinte, daß es sich um eine Herzfehler handelte, und zwar um einen äußerst hinterlistigen, durch den man eines Tages ganz plötzlich den Löffel abgeben konnte , wie es mit einem der Gefangenen der Fall gewesen war, einem noch jungen und scheinbar kerngesunden Burschen. Natürlich war diese Diagnose völlig aus der Luft gegriffen, und sie diente nur dazu, eine Grundlage dafür zu haben, mich in der Sanitätsabteilung zu behalten, denn ich wartete ja nun schon 50 Jahre auf die Erfüllung dieser düsteren Vorhersage des Feldschers . Ich werde nicht alle Ereignisse dieses zweiten Sommers im WjatLag beschreiben; insgesamt war ich fast 3 Jahre dort, d.h. mehr als 900 Tage, und die Beschreibung sämtlicher Kleinigkeiten würden einen ganzen Band beanspruchen. Mein zweiter Aufenthalt im Bereich der Gemeinschaftsverpflegung wurde auf eine vollkommen unerwartete Art und Weise unterbrochen.


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