„Dort waren die Mädchen Tamara, Rosa und Raja,
Und mit ihnen Kostja Schmarowos.“
(aus dem Kriminellen-Repertoire)
Dieser Zeitraum ist nicht so wesentlich für die Chronik meines Lagerlebens, aber ohne diese Episode würde man eine nur unvollständige Vorstellung von den Personen, Sitten und Gebräuchen im Lager bekommen.
Die zweite Etappe meiner Küchenmeisterei verlief bis zum Beginn des Herbstes recht friedlich und ungestört. Ich wohnte weiterhin mit der Brigade zusammen, mit der ich vor der Mobilisierung zum Küchendienst untergebracht gewesen war. Irgendwann im August-September wurde eine der Männerbaracken mit Stacheldraht eingezäunt und darin zwei „Disziplinar“-Brigaden untergebracht. Was das genau ist, darüber wird der folgende Text Klarheit verschaffen. Sie gingen ausschließlich unter Wachbegleitung, wurden nicht in den Wald gelassen, und zum Arbeiten wurden sie zur „Holzbörse“ geführt, d.h. zum Holzlager, wo sie zum Sortieren von Nutzholz, seltener zum Verladen oder für andere Arbeiten eingesetzt wurden. Nachts war das Tor im Stacheldrahtzaun mit einem Schloß versperrt, und im Lager entstand fast so etwas wie ein zweites Mini-Konzentrationslager. Ich interessierte mich nicht sonderlich für dieses Lager und auch nicht für seine Bewohner, aber einmal, als ich mich nach der Nachtschicht ausruhen wollte, kam der Aufseher, befahl mir meine Sachen zu nehmen und führte mich in die Disziplinar-Baracke. Man gab mir keinerlei Erklärungen ab, auch nicht in der Sanitätsabteilung, und so fand ich mich in einer der Disziplinar-Brigaden wieder. Sie setzte sich hauptsächlich aus Kriminellen mit langjähriger Erfahrung zusammen, aber es waren auch zufällige Häftlinge darunter, wie beispielsweise ich. Es war sogar ein Mädchen dabei, schweigsam und unauffällig. Es gab auch andere Frauen von der Sorte „nimm sie und wirf sie weg“, aber davon später. Die unter Disziplinarregime stehenden Frauen lebten in Gemeinschaftsbaracken für Frauen, arbeiten jedoch mit uns Männern zusammen. Von allen Varianten, weshalb ich dorthin geriet, wird diese wohl die wahrscheinlichste sein. Sie wird dadurch bestätigt, daß es unter den Brigade-Zugehörigen auch solche gab, die sich auf der Flucht befunden oder zumindest darauf vorbereitet hatten.
Ich hatte schon ziemlich lange spekulative Gedanken gehegt, wie man am besten eine Flucht reailsieren könnte. Im Folgenden war ich selber zu der Überzeugung gekommen, daß meine Ideen und Berechnungen auf Sand gebaut waren. Während meines Aufenthalts im Lager hatte es einen Gruppen-Fluchtversuch gegeben. Drei Banderow-Leute waren gleichzeitig fortgelaufen. Aber bereits gegen Abend wurden ihre Leichen ins Lager gebracht, wo man sie dann mitten im Hof fast 24 Stunden lang liegen ließ. Die durch Schüsse zerfetzten Hinterköpfe waren von Fliegenschwärmen verklebt, und zum Abend hin tummelten sich auf den Kadavern bereits die Ratten. Es war ein grauenhafter Anblick, und nach diesem Vorfall fanden sich keine weiteren Interessenten, die bereit gewesen wären, ihr Schicksal in diesem Sinne herauszufordern. Die ganzen Gespräche, die ich führte, habe ich gänzlich vergessen, aber vielleicht hat ein anderer Gesprächspartner sie in seiner Erinnerung behalten und mich, sei es, um sich einzuschmeicheln oder aus Neid über das warme Plätzchen, an dem ich saß, beim „Kum“ („Gevatter“, Sicherheitsoffizier im Lager; Anm. d. Übers.) denunzierte. Ich wiederhole, daß dies nur eine mögliche Variante ist, und sie gibt mir nicht das Recht jemanden anzuklagen und den Betreffenden namentlich zu benennen. Wie dem auch sei, ich befand mich in jener Gesellschaft, die ich schon seit der Lubjanka so sehr gefürchtet hatte. Leiter der Strafbrigade waren Kostja Leschawa und Rawilka; bei allen waren sie nur unter diesen Namen bekannt. Kostja war ein hagerer Mann mit schwarzen Haaren, knorpeliger Nase und gelblichen Augen, die ausdruckslos umherstarrten. Er war kein Russe, aber welcher Nationalität er tatsächlich angehören mochte, war aufgrund seines Äußeren schwer zu sagen. Er war einer der wichtigsten Gauner, aber nicht so würdevoll wie Onkel Sascha, sondern aggressiv und stets bereit ein Raub oder eine andere Gewaltanwendung zu begehen. Er wurde von allen im Lager gefürchtet. Er war der Schrecken aller Paketempfänger.
Übrigens erhielt auch er einmal eine Abfuhr. Nach dem Hungerwinter kam eine Holzfäller-Brigade zu uns ins Lager. Sie bestand komplett aus Kaukasiern. Es handelte sich, soweit ich mich erinnern kann, um Mitglieder einer deutschen Formierung von Kriegsgefangenen, die aufgrund ihrer nationalen Merkmale zustande gekommen war. Wie dem auch sei, diese Brigade war in derseloben Baracke untergebracht, in der auch ich mit meiner Wegebau-Brigade wohnte. Sie waren gerade erst aus dem Wald zurückgekehrt, und jeder von ihnen hatte auf seiner Schulter einen ansehnlichen Holzscheit zur Beheizung der Baracke mitgebracht. Sogleich kam ein Bote und verkündete das Eintreffen von 2-3 Paketen für die Kaukasier. Die Paketsendungen wurden gebracht, und dann ging lauthals die Bewirtung mit Rosinen und ähnlichen Gaben aus dem sonnigen Kaukasus vonstatten. Während dieser Zeit war ein kleines Gaunerchen aufgetaucht – der Bote. Er verkündete im Befehlston, daß Kostja ebenfalls seinen Tribut verlangte. „ Was denn für ein Kostja? Wir kennen deinen Kostja nicht! Scher‘ dich …. (alles Weitere ohne Akzent) … mitsamt deinem Kostja!“ Der Bote verließ mit leeren Händen den Ort des Geschehens, aber schon eine Minute später stürmte Kostja höchstpersönlich mit drei seiner Komplicen in den Raum. „Halt‘ die Tür zu!“ – schrie Kostka. „Damit sich nur keiner auf und davon macht!“. Und mit diesen Worten stürzte er sich auf die fassungslosen Söhne des Südens. Aber sie kamen schnell wieder zu sich und schriebe „Allah, Allah!“ oder so etwas in der Art, ergriffen die Holzscheite und schlugen damit kräftig auf die Eindringlinge ein. Nur mit Mühe fand Kostja samt seinen Kameraden die Tür und rannte, leicht hinkend und sich die Seite reibend, in Schimpf und Schande bis zu seiner Baracke.
Das war der erste Held meiner Erzählung.
Rawilka war ein kleines, stämmiges Tataren-Kerlchen von etrwa 23-24 Jahren, mit rundem Gesicht und von Beruf Kleinhändler. Er trug ein kleines Käppchen mit Knopf, offenbar von fremden Schultern, sowie weite Pluderhosen, die in chromledernen Stiefeln steckten. Und genau in seine Brigade geriet ich auch. Sie war an der Holzbörse tätig, beim Sortieren von Brennholz, das sie aus Langhölzernen zurechtschnitten, die für die Verwendung als Stützen in Bergwerken geeignet waren; die verbleibenden Reste wurden kurzgesägt und anschließend zu Holzscheiten zerhackt. Sie arbeiteten nicht sonderlich gut. Meist saßen sie am Lagerfeuer und erbrachen ihre Wassersuppe. Neben kleineren Gaunern befanden sich hier auch einige Frauen. Einige von ihnen waren Diebinnen, andere Prostituierte, aber dieses lateinische Wort war damals nicht in Mode , und so hatten sie ihren Beruf selbser mit einem kurzen und ausdrucksvollen Begriff benannt. Eine von ihnen war Roska Mersljakowa, eine junge Person, fröhlich und ziemlich intelligent, die ihren Scharfsinn noch nicht verloren hatte. Sie war sehr redegewandt, allerdings waren ihre Reden stets mit äußerst leuchtenden Ausdrüchen gespickt. Sie war zusammen mit der Tadschiken-Etappe eingetroffen und saß wegen Mord an einem alten Tadschiken, den sie hatte berauben wollen. Sie hatte ihn zu sich gelockt und, nachdem er eingeschlafen war, mit einer Axt erschlagen. Sie berichtete darüber in fröhlichem Tonfall, als würde sie einen Witz erzählen. Im übrigen verhielt sie sich allen gegenüber wie ein guter Kamerad. Von einer ganz anderen Sorte war dagegen Asja Akolajewa. Sie war eine echte Schönheit , aber schon nicht mehr ganz frisch. Sie hatte gepflegte Manieren, sprach fehlerfrei, und was ihr Äußeres betraf, so sah sie aus, als wäre sie geradewegs aus einem Pariser oder Londoner Salon gekommen, aber man mußte sie nur ansprechen – und schon entströmte ihrem eleganten Mund ein solcher Wortschatz an Schimpfwörtern, daß einem im Vergleich dazu Roska Mersljakowa Plappern wie das eine sniedlichen Kleinkindes vorkam. Asja war eine echte Hochstaplerin und Schwindlerin. Und in so eine schjöne Gesellschaft war ich also hineingeraten. Ich muß jedoch hinzufügen, daß keiner meiner neuen Bekannten den Versuch unternahm, mich auf eine niedrigere Stufe zu stellen oder mich dazu zu zwingen, für ihn zu arbeiten. Gerechtfertigt ist die Frage, wie unsere Arbeit eigentlich bezahlt wurde. Auf dem Höhepunkt des Anekdoten-Austauschs tauchte der Leiter der Zehnerbrigade aus der Kriegsetappe auf, der sich niemals von seiner Seemannsschirmmütze trennte. Schwermütig schaute er auf den kümmerlichen Stapel Holz, den wir zustande gebracht hatten, und schüttelte den Kopf. „Wie sollen wir das bloß schaffen?“ – fragte er in kläglichem Ton. „Das machen wir schon!“ – erwiderte Rawil. „Soviel in Rekordarbeit, soviel für 800 gr-Rationen und den Rest für zwei Prämienrationen“. Weniger kam für ihn nicht infrage.
„Und wo soll ich das Volumen, die Raummeter hernehmen?!“ fragte der Brigadeführer flehentlich. „Die findest du schon!“ – antwortete Rawilka schroff, wobei er allen mit seiner ganzen Art zu verstehen gab, daß das Gespräch damit beendet war. Und der Seemann fand auch, was er suchte. In die Kantine gtingen wir als Letzte. Rawilka befand sich am Ausgabeschalter, erhielt alles vollständig, was den Leuten zustand, warf einen Blick in den kleinen Behälter und verlangte noch weitere 5-6-8 Portionen. Anschließend trat er an den Tisch heran und teilte die überzähligen Portionen höchstpersönlich auf, ohne jemanden zu bevorzugen; alle kamen nacheinander an die Reihe oder entsprechend der von ihnen geleisteten Arbeit. Danach steckter er die Hände in die Jackentaschen und verschwand. Ihm selber wurde das Essen in die Baracke gebracht. Nachts hatte man in der Baracke immer das Gefühl, man wäre im Freudenhaus: manche spielten Karten, andere kamen herein oder verließen den Raum. Das Schloß am Tor konnten niemanden zurückhalten: man hatte für einen Durchgang gesorgt, durch den die Häftlinge hin- und zurückkrochen. Unsere Nu…… gingen immer zu Kostja und Rawilka. In einer der ersten Nächte wurde ich unfreiwilliger Zeuge des Geschehens und wohl auch ungewollter Teilnehmer der betreffenden Szene. Im Halbschlaf vernahm ich irhendeine Geschäftigkeit und Gelächter. Als ich mich auf meine Ellbogen aufstützte (ich schlief auf einer der unteren Pritschen neben der Tür nach draußen), sah ich ein Bild, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Beleuchtet vom trüben Licht der Petroleumfunzelö stand Roska in der Mitte der Baracke, so wie der Herrgott sie geschaffen hatte, und um sie herum tanzten Kostja Leschawas Untergebenen und schnitten Grimassen. Ich begriff nicht, worum es da ging. Nur eines war klar, daß nämlich Roska es Kostja wohl nicht ganz recht gemacht hatte, und nun sollte sie dafür bestraft werden. Um welche Strafe es da ging – das war ziemlich eindeutig. Jemand schlich sich von hinten an sie heran und hielt in der Hand entweder einen Eimer oder einen Sack. Angsterfüllt und ohne zu wissen, was ich da tat, befand ich mich plötzlich neben Roska. Meine Stimme überschlug sich, ich stieß einen Schrei aus und begann eine Schimpftirade mit den übelsten Worten.
Im folgenden versuchte ich verstohlen von der Seite einen Blick auf die Szenerie zu werfen, und es war wohl auch ein ziemlich lustiges und gruseliges Bild. Das schutzlose Mädchen und der in Wut geratene hilflose Muselmann gegen eine Menge von Rowdies. Aber offensichtlich rief die ganze Unsinnigkeit der Situation selbst ein Schockgefühl hervor. Alle ließen irgendwie den Mut sinken und warfen Roska ihre Kleider vor die Füße. Ich kroch zu meiner Pritsche zurück, wähend ich bereits euine gewisse Abrechnung oder Rache fürchtete. Aber das Tohuwabohu legte sich, als wäre überhaupt nichts geschehen. Und es wurde auch von niemandem mit irgendeinem Wort erwähnt. Auch Roska saß am nächsten Tag wieder sorglos am Feuer und lachte, als wäre alles nichts ungewöhnliches, nichts weiter gewesen, als der tägliche Gang in die Kantine. Übrigens, ihre freundschaftliche Haltung mir gegenüber festigte sich mit der Zeit noch. Ihre nächtlichen Besuche bei Kostja dauerten fort. Und von da aus beriefen sie mich auf einen neuen Posten.