„„Die Unseren haben den Berg erklommen!“ – sagte der Zigeuner,
als sie seinen Vater am Galgen aufknüpften“.
Unter anderem gehörte zu den Posten des ingenieuertechnischen Personals auch folgende: die eines Wegebau-Meisters. Dieses Amt hatte ein gewisser Stukkert aus den Reihen der Sowjet-Deutschen inne. Im Krieg hatte er bei den Deutschen gedient, wofür er sich auch den § 58 verdient hatte. Zu seinen Pflichten gehörte nacheinander die Projektierung von Wegen und Straßen für den Holztransport in den einzelnen Parzellen, die für den Holzeinschlag bestimmt worden waren. Ihm zur Verfügung standen zwei Mädchen – die sogenannte Topographen-Gruppe, mit deren Hilfe er die zukünftigen Hauptwege und „Ranken“, kleinere Seitenabzweiger, anlegte, auf denen dann auch die später die gefällten Bäume herangerollt wurden. Diese Stukkert jedenfalls, war in irgendeine Falle gelaufen oder in ein Fettnäpfchen getreten, möglicherweise lag es sogar an einer Frau, und an einen anderen Lagerpunkt versetzt worden. Als Ersatz für ihn fanden sich keine geeigneten Kandidaten. Offensichtlich hatte der technische Leiter vom 2. Revier erfahren, daß in meiner Personalkarte als Zivilberuf „Landvermesser“ stand. Ich mußte vorsprechen, wir redeten eine Zeit lang, wobei mein Einverständnis nur eine Sache der Formalität war, und dann ernannten sie mich für diesen Posten, wo bei sie der Meinung waren, daß ich ja auch schon praktische Erfahrung beim Bau von Holztransportwegen hätte. Verständlich, daß anfangs alles ungewohnt und neu war, aber sie stellten mir zwei Mädchen zur Verfügung, eine Russin und eine kleine Ukrainerin, die ein wenig offensiv und streng aussah. Sie erklärten mit die ganze unkomplizietre Methodik der Projektierungsarbeit, zeigten mir, wie man die selbstgebauten Geräte benutzte. Aber eine echte Prüfung für mich war der hereinbrechende Winter. Im allgemeinen war es im Winter mit den Wegen einfacher. Im Winter transportierte man das Holz auf Schlitten über festgefahrene Schnee- und Eiswege, welche durch Aufschütten und Besprengen von einer Spezialbrigade in Ordnung gehalten wurden. Es fiel mir leicht, eine Vorsprung zu erarbeiten, aber mir stand noch die Projektierung eines Weges in der Parzelle für den ersten Frühjahr-Sommer-Holzeinschlag bevor. Zuerst kam mir das wie eine Kleinigkeit vor. Auf dem vorhandenen Plan des Waldstücks war die Parzelle als enges Rechteck kenntlich gemacht, und darauf war mit Hilfe einer punktierten Linie die voraussichtliche Richtung für die Holzabfuhr eingezeichnet. Alles war ganz einfach: von oben – die entgegengesetzte Verkehrsader, durch all Parzellen hindurch verlaufen die „Wegabzweiger“ und an der unteren Grenze – die Transport-Magistrale mit ihrer Ausfahrt zum unteren Holzlager. Zu der Zeit war gerade ein anderes bewachungssystem verabchiedet worden. Die Brigaden gingen schon nicht mehr unter individueller Wachbegleitunhg, sondern das gesamte Holzeinschlagsgebiet war vorsorglich mit einer Schneise umgeben worden, auf der Türme für die Wachen errichtet worden waren. Innerhalb dieser eingegrenzten Zone ließen sie alle Arbeiter herumlaufen, und dort hatten sie dann auch volle Bewegungsfreiheit. Die Wachmannschaften achteten lediglich, von Wachturm zu Wachturm, auf die Schneise, und der Wachleiter lief in regelmäßigen Abständen auf Skiern durch das Revier und sah nach, ob die Eisstraße auch nicht von fremden Spuren gezeichnet war. Ich besaß mit meiner Mannschaft das Recht, die Schneise zu überqueren und in die Tiefe des Waldes vorzudringen. Es war ganz klar, daß es unmöglich war, sich durch diesen Wald und Schnee aus dem Staub zu machen. Dennoch war diese relative Freiheit angenehm. Und da, als ich einmal auf den mir zur Verfügung gestellten Skiern tief im Dickicht eines neuen Holzeinschlagreviers unterwegs war, entdeckte ich plötzlich genau in der Mitte eine ziemlich tiefe Senke mit einem steilen Abhang zu beiden Seiten. Sorgfältig untersuchte ich die teiferliegende Stelle, welche die Form eines Fragezeichens besaß, und zeichnete den Entwurf eines Wegeschemas für den Holztransport.
Projektgemäß kam es so, daß die Haupt-Rückwege an beiden Längsseiten des Rechtecks entlangführen, während die „Abzweigungen“, auf denen das Beladen der Fuhrwerke stattfinden soll, zur Mitte der Parzelle hin abfallen, und die Hauptstrecke für die LKWs, dem Relief des Tals folgend, zu seiner Mündung führt und von dort weiter zur Holzbörse. Als ich am Abend auf der regulären Projektierungsversammlung diesen Plan vorstellte, wurde ich ausgelacht: das gibt’s doch nicht! Das kann sich nur jemand ausdenken, der keine blasse Ahnung hat. Ich war seelisch zutiefst getroffen. Aber etwas anderes konnte ich auch nicht vorschlagen. Am nächsten Tag fuhr der technische Leiter los, um die Parzelle höchstpersönlich in Augenschein zu nehmen und sich davon zu überzeugen, daß dort tatsächlich eine Talsenke existierte und ein ernsthaftes Hindernis darstellte. Unverzüglich setzte er sich mit dem Zentrallager in Verbindung und bat um Hilfe. Und ich hackte, ungeachtet der Verurteilung meines Plans, Zweige und kleine Äste von den Bäumen und fing damit an, sie entlang des Talverlaufs als Markierungen in den Boden zu stecken. Plötzlich hörte ich Stimmen – der technische Leiter und noch ein anderer Mann, ein gewisser Andrejew, ein ehemaliger Häftling der Jahre 1937-1938, der bei uns Leiter der Planungsabtelung war und später in die Verwaltung versetzt wurde, kamen auf mich zu. Er bat mich, ihn durch die Parzelle zu begleiten und verkündete am Abend allen, daß der von mir vorgeschlagene Plan der einzig mögliche sei und von meinem tiegen Sachverstand zeuge. Ich war ganz obenauf, ich hatte gesiegt. Bald darauf vollzogen sich im Lager „revolutionäre“ Umwälzungen: alle allgemeinen Lager wurden aufgelöst, die Frauen kamen in unserer 9. Lageraußenstelle und die Männer wurden in verschiedene andere Lagerpunkte geschickt. Bei uns blieben etwa noch 50 Mann an ingenieurtechnischem Personal, registrierte Arbeiter und die Frachtbrigade mit ihren 9-10 Mann, die vorwiegend für die Abfertigung der Waggons, das Einrammen von Stützpfeilern, die Sicherung der Lasten und etwas qualifizierte Hilfestellung bei der Arbeit in den Frauenbrigaden vorgesehen war. Es ist schwierig, diesen ganzen Umsiedlungsprozeß zu beschreiben. Wenn die Männer sich halbwegs ohne zu Murren von ihren Freundinnen verabschiedet hatten, so fuhren die Frauen, nachdem sie sich an uns so gut gewöhnt hatten, unter Weinen und Wehklagen aus ihren Lagern ab, traten in den Streik und weigerten sich zur Arbeit zu gehen, und wenn sie dann schließlich doch ihren Arbeitsplatz aufsuchten, dann saßen sie herum und taten nichts. Aber den Hunger kann man leider nicht so einfach wegstecken, und so fanden sie sich bald darauf doch noch mit ihrem Schicksal ab. Für die Männer wurde eine Baracke bereitgestellt und mit Stacheldraht eingezäunt, und es wurde sogar gleichzeitig eine Pförtnerin eingesetzt. Später wurde sie allerdings wieder entfernt, weil sowieso keinerlei Aussichten bestanden, der gegenseitigen Kontaktaufnahme irgendwelche Hindernisse in den Weg zu stellen. Ich als „Spezialist“ durfte bleiben, und mein Freund Kuwschinow ebenfalls.