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P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 63. Glückwünsche zum Neuen Jahr! – Und zu neuem Pech und Unglück!

„Ein neues Jahr, eine neue Ordnung.
Mit Stacheldraht ist unser Lager eingezäunt,
Von allen Seiten treffen einen finstere Blicke,
Und der Hungertod löscht überall das Leben aus…“
(alles aus demselben Lager-Repertoire)

All das geschah Ende 1948, als die freie Welt sich anschickte, wieder einmal ein neues Jahr zu begrüßen. Im Lager vollzieht sich dieses Ereignis ganz unmerklich: die Häftlinge führen ihren eigenen Jahreskalender, indem sie darin den Ablauf eines weiteren Jahres ihrer Haftstrafe seit Beginn der Haftverbüßung vermerken, und das stets mit der dahinschmelzenden Hoffnung, daß sie es vielleicht schaffen werden, auch noch das nächste Jahr zu überleben.

Ich kam zum 18. Lagerpunkt, einem Ort, an den zu gelangen ich mir am allerwenigsten gewünscht hätte, und zwar aus folgendem Grund: Nachdem die Frauen an unserem 9. Lagerpunkt konzentriert worden waren, wurden ihre ehemaligen „Ehemänner“, natürlich nur diejenigen, die dazu die Möglichkeit hatten, telefonisch angerufen und gebeten, ihre Freundinnen zu einer Unterredung herzuholen. Sämtliche Telefonate liefen über die Vermittlungsstelle, in der Freie, Nichtgefangene, ihren Dienst versahen, und es ist nur verständlich, daß mir bei der Erfüllung solcher Bitten Unannehmlichkeiten drohten. Dennoch führte ich derartige Befehle so gut es ging aus, aber einer der beharrlichsten Männer war der Arbeitsanweiser vom 18. Lagerpunkt. Er rief jede Nacht an. Die Vermittlungsstelle hatte mir bereits damit gedroht, sich bei der Lagerleitung zu beschweren, und so versagte ich ihm seinen Wunsch. Er beschimpfte mich nach allen Regeln der Kunst und drohte, ich würde meinen Segen schon noch abbekommen. Diese Drohungen waren mir damals schnurzegal, aber jetzt gewannen sie irgendwie an Realität. Dieser Arbeitsanweiser, mit Nachnamen Alikperow, seiner Herkunft nach Kaukasier, der übrigens auch wegen des Paragraphen 58 einsaß, verkündete mir nun also, daß ich jetzt nur noch mit den Füßen voran dieses Lager verlassen würde. Ich hatte nur die eine Hoffnung, daß Kurowskij mir helfen würde. Er versprach, den Verladeleiter des 18. Lagerpunktes Anzurufen, damit der mich zu sich holte und mir Protektion gewährte. Kurowskij hielt sein Versprechen, und der Verladeleiter hielt es ebenfalls, ein schon betagter Jude, der Abram oder Abramowitsch hieß. Trotz des Widerstands des Arbeitsanweisers holte er mich zu sich, brachte mich dort in der Baracke unter und war nach Kräften bemüht, mir Beistand zu leisten. Aber viel konnte er nicht tun. Trotzdem mußte ich zur Arbeit gehen. Die Arbeit der Holzverlader war mit eine der schwersten – die Leute kannten weder Tag noch Nacht. Aber bei uns, am 9. Lagerpunkt, gab es immer noch eine Chance zum Ausruhen. Unsere Bahnstation „Ima“ bediente insgesamt drei Lagerpunkte. Unter ihnen wurden die freien, leeren Waggons aufgeteilt. Manchmal traf stundenlang keine Lokomotive ein, und auf diese Weise kam es mitunter zu halb- oder gar ganztägigen Stockungen bei der Verladung. Die hiesige Station „Brusnitschnaja“ bediente lediglich den 18. Lagerpunkt. Die Lok stand ständig für den Abtransport der beladenen Waggons bereit und brachte gleichzeitig auf dem Rückweg wieder leere Wagen mit. Manchmal kehrten wir einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, oder sogar noch länger, nicht ins Lager zurück. Dann aßen wir an der Holzbörse und schliefen wenigstens in den wenigen Minuten, in denen die Waggons gewechselt wurden, nebeneinanderliegend in der kleinen Holzhütte. Die Verpflegung war etwas besser als am 9. Lagerpunkt, aber ebenso wertlos, und auch sie konnte den Energieverlust auch nicht annähernd ersetzen. Verschärft wurde die Lage noch durch die schlechte Bekleidung. Die Filzstiefel waren durchlöchert.

In den kurzen Pausen, wenn wir uns in den Baracken aufhielten, nähten sie irgendwie Teile von alten, zerfetzten Wattejacken daran. Aber das hielt auch nur ein-zwei Tage, und dann liefen sie faktisch wieder mit bloßen Füßen durch den Schnee. Handschuhe gab es ebenfalls nicht. Nur gelegentlich wurden welche ausgegeben, die aus dicken Baumwollfäden gestrickt waren. Sie hielten nicht einmal einem einzigen Verladevorgang stand, die Finger ragten aus den Löchern heraus und manchmal, wenn wir gerade einen Baumstamm nach oben gewälzt hatten, bemerkte ich plötzlich, wie weiß meine Finger waren und daß ich den Stamm schon gar nicht mehr loslassen konnte. Im allgemeinen wurde ich nach und nach immer schwächer, und die Perspektive, daß ich eines Tages mit den Füßen voran hier herausgetragen würde, nahm immer mehr Gestalt an. Einmal, während einer kurzen Pause, als ich gerade einen zusammengeschnürten Draht um eine Haspel wickelte, wurde ich plötzlich zum Telefon gerufen. Kurowskij war am Apparat. Er wollte wissen, wie es mir ginge. Was sollte ich schon antworten? Wir laden“ – meinte ich mit freudloser Stimme. „Ununterbrochen, volle Beladung, ohne kommerzielle Verluste, ohne Ausschußware …“. (Während ich das sagte, kam schon wieder der Befehl zum Beladen). Als Antwort hörte ich nur ein Lachen. Warte mal, ich gebe den Hörer weiter“, sagte Kurowskij, und sogleich vernahm ich Waljas Stimme. Ihm wurde ganz heiß ums Herz, seine Stimme versagte. Sie hatte mir etwas Liebes zugeflüstert, und ich konnte nur ein Murmeln zustande bringen. „Walja“, - so brachte ich endlich hervor. „Du weißt selber, was ich dir gern sagen möchte, aber jetzt kann ich es nicht. Ich werde dich nie vergessen!“. Dann wurde die Verbindung getrennt. Aber dies sollte nicht die letzte Nachricht von ihr sein. Einige Zeit später sah ich, wie ein Wachmann in weißem Halbmantel über die Gleise auf uns zukam. Als ich etwas genauer hinsah, erkannte ich in ihm einen der Wachleiter vom 9. Lagerpunkt. „Choroschew!“ – stieß ich unfreiwillig hervor. Er kam näher, und dann begrüßten wir unszur größten Verwunderung der Umstehenden mit kräftigen Handschlag. „Dich suche ich auch gerade“, meinte der Wachmann. „Ich habe hier eine Notiz für dich!“ – Er zog aus seiner Brusttasche ein Blatt Papier, das mit einem Bleistift vollgeschrieben war. Es war ein Brief von Walja. Ich hatte keine Ahnung, wie sie erfahren hatte, daß Choroschow sich zu unserem Lagerpunkt aufmachen wollte, und wie es ihr gelungen war, den Wachsoldaten zur Mitnahme ihres Briefchens zu überreden; aber aller Wahrscheinlichkeit nach war es auch hier nicht ohne Kurowskij abgegangen. Der Brief war kurz, aber herzlich. Außer ihren persönlichen Gefühlen brachte sie mir darin die Meinung ihrer Kameradinnen mir gegenüber zum Ausdruck, daß alle an mich denken und mich bedauern und daß sie von vielen beneidet würde. Es ist schwer zu sagen, was diese Zeilen und lieben Grüße in der Situation, als ich ganz allein auf dieser Welt auf mein Grab zutrieb, für mich bedeuteten. Wahrscheinlich trieben sie mir die Tränen in die Augen. „Willst du ihr eine Antwort schreiben?“ – fragte Choroschew. „Ich habe kein Papier und keinen Bleistift. Übermittele ihr alles, alles Gute, was du in Worten zu sagen vermagst“, meinte ich zu ihm, und dann verabschiedeten wir uns voneinander. Ihre Briefchen hob ich noch für lange Zeit auf, bis es schließlich völlig schäbig und abgegriffen aussah. Der Winter war bereits zur Hälfte vergangen, und es ging mir immer schlechter. Sich an die Sanitätsabteilung zu wende war zwecklos: es lag bei mir keine offenkundige Erkrankung vor, sogar die Beine waren nicht mehr geschwollen, und an Ruhrkranken gab es auch ohne mich schon mehr als genug. Wieder kam mir hier ein Zufall zur Hilfe. Einmal stieß ich an jener Holzbörse, die gleichzeitig auch als Bahnstation diente, auf Andrejew – genau den, der seinerzeit meine Pläne zum Wegebau gutgeheißen hatte. „Was machen Sie denn hier?“ wunderte er sich. Ich berichtete ihm von meiner Epopöe. „Das ist ja unerhört!“ – empörte er sich. „Ich werde sie zu einer anderen Arbeit versetzen und Sie dann später zu mkir in die Verwaltung holen“. Ich dankte ihm, hegte jedoch keine großen Hoffnungen auf einen Erfolg; aber bereits am Abend kam der Gehilfe des Arbeitsanweisers angelaufen und verkündete, daß ich morgen zum Holzsortieren ins Holzeinschlagrevier gehen sollte. Einstweilen blieb ich aber in meiner Brigade und wohnte in derselben Baracke, aber meine Arbeit verrichtete ich im Wald. Ich besaß ein kleines Kästchen mit Stempel und schwarzer Farbe, und ich vermerkte auf jeder Fuhre den Durchmesser der geschnittenen Stämme und schrieb eine Ziffer und einen Buchstaben darauf, mit dem die Art des Sortiments gekennzeichnet wurde: Sägeholz, Holz für Eisenbahnschwellen, Stützholz für den Bergbau usw. Die Arbeit war nicht schwer, aber sie brachte auch nichts ein; dennoch gab sie mir eine reale Chance, bis zum Sommer durchzuhalten, denn dort war es so, daß nicht einmal der Teufel seine Späße treiben würde, und vielleicht würde sich Andrejews Versprechen bewahrheiten. Aber der Mensch plant, das NKWD befiehlt. Ich hatte noch nicht einmal einen Monat am neuen Arbeitsplatz gearbeitet, als eines Abends die Aufseher durch die Baracken liefen und anfingen, die Leute der Reihe nach „mit Sachen“ herauszurufen. Die Aufgerufenen wurden in einer Baracke versammelt und dort eingeschlossen. Es war ganz offensichtlich, daß eine Häftlingsetappe zusammengestellt werden sollte. Wohin? Was? Wie? Kein Mensch hatte auch nur die geringste Ahnung. Mir war das alles letztendlich auch ganz egal. Ich war sogar froh, daß ich meinem „Feind „ Alikperow entronnen war. Aber nachdem die lärmende, erregte, heulende Menge schließlich zur Ruhe gekommen war und sich auf den Pritschen niedergelassen hatte, da sah ich auch den Arbeitsanweiser, ebenfalls auf einer Pritsche sitzend, wobei er seine Knie mit den Armen umfaßt und seinen Kopf darauf gestützt hatte. Unsere Blicke begegneten sich sogar, aber ich las in ihnen nichts als Gleichgültigkeit. Innerhalb einer Minute regte sich in mir ein Gefühl der Schadenfreude: seine schönen Tage waren also gezählt. Sehr bald schon stellte sich heraus, daß alle hier Versammelten nach § 58 verurteilt worden waren. Dies ließ wieder die lebhafte Frage aufkommen, wozu das hier sein sollte? Die Optimisten waren sich sicher, daß endlich die langersehnte Amnestie geko0mmen wäre, die Pesssimisten fürchteten, daß sie alle zur Hölle fahren würden – zu ihrer endgültigen Vernichtung. Ich persönlich stellte keinerlei Theorien auf, obwohl ich innerlich eigentlich immer ein Optimist gewesen war und gedanklich auch eher zur Amnestie neigte. Es lohnt nicht, bei dem Thema stehenzubleiben, daß wir einige Tage unter Gefrängnis-Haftbedingungen lebten, in schrecklicher Enge und Unbequemlichkeit. Wichtig ist das Ende der Geswchichte. Nach einer Reihe von Kontrollen Überprüfungen der Listen u.ä. teilte man uns in Gruppen ein und brachte uns zu der mir bis auf die Nieren bekannten Holzbörse. Hier stand wieder ein leerer Zug, aber diesmal handelte es sich um beheizbare Waggons mit aufgebauten Wachtürmen. Der Begleitsoldat zählte uns durch, trieb uns in die Waggons, und die Türen wurden mit lautem Krachen zugeschlagen. Und irgendwann setzten wir uns dann endlich in Bewegung. Wir fuhren langsam und hielten häufig an. Anhand des Ruckens ließ sich vermuten, daß neue Waggons an den Zug angekuppelt wurden, und schließlich begannnen die Waggons, nachdem sie Fahrt aufgenommen hatten, lautüber die Verbindungsstellen zu rattern. Damit geht ein langes Kapitel meiner Erzählung zuende, daß sich tatsächlich innerhalb von 20-30 Minuten liest und das ich selber drei Jahre lang gelesen habe, ohne überzeugt gewesen zu sein, es jemals zuende gelesen zu haben.


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