“Wir sind viele unterdrückte, hungrige Sklaven,
Gejagt von den Gewehrkolben des Tschekisten.
Zwischen unseren unbekannten Gräbern
Vollzieht sich das siegreiche Voranschreiten der Kommunisten.
Wir graben die Taiga um – in glühender Hitze und bei Frost,
Wir beißen uns in Felsen und auf Berghängen fest.
Über unsere Knochen rattert die Lok
Zum fernen blauen Meer.
(Aus einem Gedicht, das auf dem Höhepunkt der seelischen
Depression und kurz vor Stalins Tod geschrieben wurde).
Ich hatte die letzten Seiten des vorangehenden Kapitels bereits zu fortgeschrittener Nachstunde verfaßt, aber auch als ich mich dann hinlegte, konnte ich keinen Schlaf finden. Die Gespenster und bösen Geister der Vergangenheit lebten wieder auf, umringten mich, als ob die vierzig Jahre nicht gewesen wären, die seit jener Zeit vergangen sind; immer und immer wieder durchlebte und überdachte ich meinen dornenreichen Lebensweg. Ungefähr in einer solchen Verfassung und Insichgekehrtheit befand ich mich in jenen Tagen, als der über die Schienenstücke ratternde Zug unsere Waggons in unbekannte Weiten entführte. Ich lag, bis über den Kopf zugedeckt, auf den nackten Brettern einer der unteren Pritschen, teilnahmslos gegenüber all den kleinen geschäftigen Regungen, die im Waggon vor sich gingen. Einer war angestrengt dabei, sich wie ein Kleinkrimineller aufzuführen, indem er sich bemühte, eine der oberen Pritschenplätze zu ergattern, ein anderer schlich sich in dessen Nähe herum, einer aus der niederen Kaste versuchte sich zu wärmen, wobei er sich notdürftig in seine Lumpen hüllte, während die etwas Aktiveren in dem kleinen Ofen ein Feuer entfachten.
Nun, da der Kampf um das Hier und Heute in den Hintergrund gerückt war, da nichts mehr von mir abhängig war, konnte ich mich mit dem Erfassen und Begreifen all dessen beschäftigen, was sich innerhalb und außerhalb meiner Person ereignet hatte. Als ich im Lager gewesen war, hatte ich immer irgendeine Arbeit gehabt, so daß ich dabei überhaupt nicht über die demütigende und rechtlose Lage nachgedacht hatte, in der wir alle uns befanden. Nun, da sie uns wie Vieh in diese zugigen Waggons gesteckt hatten und wer weiß wohin brachten, während nebenan, vielleicht im Nachbarabteil, mein Freund Kuwschinow saß, und vielleicht auch Walja Aleksejewa, und uns nur um wenige Meter ein unüberwindlicher Abgrund trennte, da erfüllten mich das Bewußtsein ein Sklave zu sein, meine dahingeschmolzene menschliche Würde und grenzenlose Ausweglosigkeit bis an die äußerste Grenze mit Bitterkeit. Und nicht nur bei uns handelte es sich um solche Aussätzige. Durch die Ritzen der vergitterten Fensteröffnungen konnte man immer wieder neue Züge sehen, zusammengestellt aus ebensolchen beheizbaren waggons, von denen manche uns überholten, andere auf Abstellgleisen standen, die in westliche Richtung führten. Was für eine gewaltige Völker-Umsiedlung. Wieviele „Volksfeinde“ mochten das wohl sein, woher kamen sie und wer waren sie? Ich etwa, der seit Kindertagen davon träumte, meine Heimat zu finden und ihr zu dienen, der eine ganze Reihe von Jahren gefährliche Verbindungen zum kommunistischen Untergrund unterhalten hatte, oder etwa Kuwschinow, ein Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, oder Walja, welche als sechzehnjähries Mädchen die Okkupation unmittelbar miterlebt hatte, oder mein Freund Junda, der fast im gleichen Alter wie ich gewesen war, Major, Kommandeur des vernichtend geschlagenen und in den Fluß getriebenen Bataillons, der gezwungen gewesen war, sich nach mehrstündigem Aufenthalt im Wasser der Gnade des Feindes zu ergeben, oder sogar jene finsteren ukrainischen Bauern, gute Arbeiter und fürsorgliche Familienväter, die von unterschiedlichen Karrieremachern und Demagogen zum bereits von vornherein vom Schicksal vorherbestimmten Fiasko des Widerstands gegen die Sowjetmacht angetrieben worden waren, ….? Sollten das etwa alles FEINDE sein?
Schön und gut! Mögen im Wirrwarr der ersten Nachkriegsjahre auch Grausamkeiten und Mißtrauen gegenüber diesen Leuten gerechtfertigt gewesen sein, die sich direkt oder indirekt vor der Staatsmacht mit Schmutz besudelt hatten, aber jetzt, fünf Jahre nach dem Ende des Krieges – ist jetzt nicht endlich die Zeit gekommen, alles in Ordnung zu bringen? Sind nicht fünf Jahre Hunger und die alle menschlichen Kräfte übersteigende Zwangsarbeit bereits Strafe genug? Oder waren diejenigen im Recht, die davon überzeugt waren, daß Sklavenarbeit und die Unterdrückung von Menschen ebenfalls zum realen Sozialismus gehören? Oder hatten trotz allem Semjonow und Sysojew recht, diese beiden redlichen, rechtschaffenen Männer, die ungeachtet aller Ungerechtigkeiten und schweren Schicksalsprüfungen ihren Glauben an den Triumph des Kommunismus bewahrt hatten? Wer hatte den nun letztendlich recht, Walch und ich, die beiden Wendehälse in Gestalt des Feindes? Oder der Kosaken-Oberst, der sich auch im Gefängnis nicht mit seiner Niederlage hatte abfinden können? Solche Gedanken also fieberten, wie ein neuerlicher Malaria-Anfall, in meinem Gehirn herum Und dennoch konnte ich mich nicht vollständig aus der Realität ausschließen und das ignorieren, was um mich herum geschah. Und das war folgendes: der Zug fuhr irgendwie nicht vernünftig – er blieb lange Zeit irgendwo stehen, um andere, fahrplanabhängige Züge passieren zu lassen, befand sich hauptsächlich auf irgendwelchen Abstellgleisen oder Ausweichschienen, aber aufgrund der Bezeichnungen der Bahnstationen und Städte, an denen wir vorbeifuhren, war klar, daß wir uns in Richtung Osten bewegten, nach Sibirien. Dieses Wort lockte einen, Dank der Erzählungen eines unserer Bekannten aus der Zeit in Bulgarien – Worotynskij, einem Sibirjaken aus Irkutsk, aber es versetzte manch einen auch in Angst und Schrecken, wenn man jenen Vorstellungen Glauben schenken konnte, die allgemein in Europa von diesem Gebiet herumgeisterten. Morgens wurde die Tür weit aufgerissen, der Zugleiter kam herein und führte eine Kontrolle durch; anschließend wurden in Portionen geschnittenes vereistes Brot, kochendes Wasser und Kohle für den Ofen ausgeteilt. Danach bekamen wir noch zweimal pro Schüssel eine Kelle nicht besonders warmer Suppe, und damit waren unsere Verbindungen zur Freiheit dann auch schon beendet. Nach und nach fing auch ein anfangs gleichartig scheinendes Kollektiv politischer Häftlinge an, uns in scoziale Schichten zu spalten. Es zeichnete sich eine Oberschicht ab, die in ziemlich plumper Weise die Manieren und Verhaltensweisen von „gesetzmäßigen Dieben“ kopierte; es gab eine Mittelschicht, welche in liebedinerischer Weis um sie herumscharwenzelte, und wer „ganz unten“ stand – der gehörte zu der grauen, vielschichtigen und gleichzeitig gesichtslosen Mehrheit. Im Unterschied zu der Gaunerwelt war das Hauptkriterium für die Wertstellung der einen oder anderen Person, der Zustand, in dem sich seine Koffer befanden. Gute Klamotten und ein gediegener Vorrat an Delikatessen aus irgendwelchen erhaltenen Paketen garantierten einem der oberen Pritschenplätze, anerkennende Aufmerksamkeit seitens der Zuhörer und eine dienstbeflissende Bereitschaft der Untertanen, sich beim ersten Zuruf des „Gebieters“ zu rühren, um ihm Feuer zu geben, seine Unterlage auf der Pritsche zurechtzurücken oder ihm einen anderen, für einen Waggonaufenthalt nicht unbedingt abwechslungsreichen „Service“ zu erweisen. Ausgehend von den weiter oben angeführten Kriterien bestand eine derartige Aristokratenschicht aus: einem Juden aus Riga, einem westukrainischen Buchhalter und einem „kaukasischen Menschen“, der ebenfalls aus den Reihen der Lager-Einfaltspinsel stammte. Jeder von ihnen besaß einen hinreichend umfangreichen „Futtersack“, und anstelle unserer bescheidenen NKWD-Mahlzeiten, organisierten sie für sich stets verschiedene kleine Mahlzeiten und den sogenannten „five o’clock tea“, indem sie sich gegenseitig mit Speck, kernlosen Rosinen und feinem Gebäck bewirteten. Jeder einzelne von ihnen, aber auch ihre Gemeinschaft als solche, hatte seinen Staat an Lakaien, die ebenfalls alle auf den höher gelegenen Pritschen untergebracht waren. Für ihre Dienste erhielten sie ebenfalls Krümel vom herrschaftlichen Tisch und Reste der abgelutschten Zigarren. Das Publikum auf der unteren Etage begnügte sich mit der staatlich zugewiesenen Ration, erwärmte seine Brotration auf dem Ofen, taute sie unter dem Hemd an der Brust auf oder knabberte so an ihr herum, wie sie ihm nach dem Willen der Lagerleitung und unter Berücksichtigung der sibirischen Märzfröste geliefert worden war. In Übereinstimmung mit der Rangliste war auch die Gesprächigkeit definiert. Oben wurden ständig Gespräche über einen breiten Themenkreis geführt, aber hauptsächlich ging es dabei um unterschiedliche Prognosen im Hinblick auf unsere Zukunft. Auf den unteren Pritschen wurde meist geschwiegen, und wenn auch gelegentlich einmal eine kurze Unterhaltung aufkam, dann ging es gewöhnlich um das Thema N° 1, d.h. „Wenn wir doch nur genug zu essen hätten!“ – Wenn die Nacht begann und die letzte Kohle heruntergebrannt war, erstarben die Gespräche gänzlich. Die obere Etage breitete ihre Mäntel und Decken aus, und die Menschen unten drängten sich zusammen, um nicht die allerletzten Kalorien zu verlieren und nicht an den Bolzenköpfen festzufrieren, welche gegen Morgen mit Rauhreif überzogen waren. Und so fuhren wir dahin, ruhig und friedlich, ohne Gaunerlieder, grundlose Mutterflüche, Kartenspielen und ähnliche Attribute von Kriminellentransporten. Eines schönen Morgens wurden die Türen wieder weit geöffnet und man begann mit dem Ausladen. Es war wirklich ein schöner Morgen: wolkenloser Himmel, weißer Schnee und leichter Frost. Die Luft war klar und durchsichtig, und es gab nicht die geringste Luftbewegung. Die einspurige Eisenbahnlinie verlief am Fuße eines schmalen Tals entlang. Zu beiden Seiten erhoben sich Berghänge. Zur Linken sah man den Zaun eines nicht sonderlich großen Lagers, zur Rechten öffnete sich in der Ferne eine dicht mit Wald bewachsene Gebirgskette, end irgendwo am Horizont glänzten weißverschneite Gipfel. Nach den Niederungen des WjatLags, mit ihren schwarzen spärlichen Fichtenwäldchen, verzauberte einen hier nun die Landschaft mit ihren viele Kilometer umfassenden, endlosen Weiten.
Nach der üblichen Abzählerei und erneutem Durchzählen wurden wir hinter die Einzäunung des vollkommen leeren Lagers geführt und in den großen, gediegenen Baracken untergebracht. Zu beiden Seiten der aus zwei Sektionen bestehenden Baracke befanden sich durchgehende zweigeschossige Pritschen. Unser großer WjatLag-Häftlingstransport war aufgeteilt worden, und hierher waren etwa 2-3 Waggonladungen gelangt. Vom Lager aus war die Bahnlinie zu sehen, und im Verlauf viele Tage, vielleicht auch Wochen, beobachteten wir, wie darauf täglich weitere Waggons heranratterten, die teilweise noch mit Menschen gefüllt, teilweise bereits leer waren. Aber nicht nur die Natur in der Umgebung des neuen Lagers unterschied sich von der im WjatLag. Hier wurden die Insassen merklich besser verpflegt, nicht zur Arbeit gebracht, und es gab auch kaum Aufseher. In der Baracke befanden sich etwa 100 Menschen, d.h. nicht nur unser Waggon, sondern hier hatten sich Leute in erster Linie aus den gleichen Gründen gruppiert, wie es sbereits im Waggon der Fall gewesen war. Hier gab es nur Häftlinge, die nach § 58 verurteilt worden waren – und dazu mit einer großen Vielfalt an Unterpunkten dieses Paragraphen. Mindestens ebenso groß war auch die Vielfalt in puncto Nationalität und Alter. Die Leute waren aus unterschiedlichen Lagerpunkten gesammelt worden, hatten sich noch nicht aneinander gewöhnt und blieben daher allein oder in kleineren Gruppen, aber ungeachtet der Isoliertheit und der vielen Menschen, herrschte eine ruhige und wohlwollende Atmosphäre, die mich an das Leben in der Gemeinschaftszelle im Butyrka-Gefängnis erinnerte.
Tagsüber brannte die Sonne bereits vom Himmel herunter, und manch einer setzte sich auf dem Erdaufwurf vor der Baracke nieder, um sich ein wenig bräunen zu lassen. Alle 2-3 Tage trafen wieder neue Häftlingsgruppen ein. Es entstand einer imm bunter zusammengewürfelter Haufen. Aus irgendeinem Lager im Ural kamen zahlreiche Emigranten aus der Mandschurei. Darunter befanden sich auch Alteingesessene aus der einstigen Halbkolonie des russischen Zaren sowie Veteranen der weißgardistischen Truppen von Ataman Semjonow und ihrer Nachfahren, welche treu und ergeben den Japanern und deren Schützlingen gedient hatten. Es gab auch eine ganze Menge bärtiger Altgläubiger, aber es war nicht bekannt, weshalb sie aus ihren Dörfern und Gemeinden fortgeholt worden waren. Angekommen war auch eine große Gruppe Chinesen und Koreaner. Sie allein nahmen schon eine ganze Sektion ein innerhalb der Baracke ein. Einstweilen funktionierte diese ganze Arche Noah aber noch nicht; die Sauberen und die Nichtsauberen vermischten sich nach und nach miteinander. Der Jude aus unserem Waggon stellte auch weiterhin Prognosen: sie schicken uns nicht zur Arbeit, verpflegen uns – und sie haben von allen Seiten §58er zusammengeholt; das heißt also, daß man uns in den Verbanntenstatus stellen wird, und wir werden als beinahe freie Menschen leben und arbeiten. Die Schlußfolgerungen des Juden waren ziemlich überzeugend, und selbst ich neigte dazu ihm zu glauben und konstruierte in meiner Seele4 bereits Pläne für die Zukunft, die sich auf die zahlreichen von mir gelesenen Erzählungen und Erinnerungen ehemaliger Verbannter stützen. In diesem Zeitraum hatte ich eine unerwartete Begegnung. Einst saß ich in meiner an zahlreichen Stellen verbrennten Wattejacke und geflickten Filzstiefeln da und säuberte mit Sand einen Aluminiumlöffel, den ich irgendwo ausgegraben hatte. Plötzlich hörte ich: „Guten Tag, Herr Oberscharführer!“ Ich hob die Augen und kannte sogar unter der Häftlingskleidung sogleich den Unteroffizier Tarmachanow, den Ältesten unserer Aufklärungskompanie aus Sandberg. Das platte, maßlos große Gesicht des Burjaten strahlte vor Freude. Wir begrüßten uns freundschaftlich und erzählten einander unsere Geschichte. Was Tarmachanow anging, so war es ihm bis zu einem gewissen Zeitpunkt gelungen, seine Vergangenheit zu verbergen; er war erneut in die Rote Armee geraten, hatte sogar im Rang eines Offiziers gestanden, aber er wurde trotzdem entlarvt und zu 10 Jahren verurteilt. Unsere erneute Freundschaft dauerte insgesamt nur wenige Tage, und Taramachanow fuhr während der nächsten Umgruppierung des Lagerkontingents mit einem Häftlingstransport fort.