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P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 65. Das Panorama des OSERLAG

(Alle Kreaturen – paarweise)

Zur Arbeit gingen wir wohl mehr als einen Monat nicht. Ich meine damit Arbeit nach Plan. Aber es gab jede Menge Arbeit im Zusammenhang mit der Einrichtung des Lagers und den angrenzenden Territorien, dem Bau des Wirtschaftshofs u. ä. Daher marschierten gelegentlich einzelne Brigaden oder freiwillige Gruppen zur Arbeit aus. Ich war dann gern mit dabei, um ein wenig Abwechslung von der Langeweile im Lager zu bekommen, mich mit der Gegend vertraut zu machen, aber auch, um mir ein zusätzliches Stückchen Brot zu verdienen. Dieses Brot wurde übrigens in der Bäckerei hergestellt, die sich innerhalb der Arbeitszone befand – einem separaten Gebäudekomplex, in dem Werkzeuglager, ein Kraftwerk und eben jene Bäckerei untergebracht waren, d.h. Objekte, die das Wirtschaftsleben des Lagers und der ganzen Siedlung sicherstellten. Arbeits- und Wohnzone waren von einem hohen Zaun umgeben, an desen vier Ecken Türme für die Wachmannschaften standen. Der Abmarsch zur Arbeit erfolgte stets in Anwesenheit von Begleitsoldaten, es waren jedoch weniger als im WjatLag - mitunter nur ein einziger Wachmann. Neben anderen Arbeiten war da auch noch die Bedienung der Garnison, das Sauberhalten des Geländes, die Versorgung mit Wasser und Brennholz sowie gelegentliche Reparaturen. Dort hielt ich mich nicht selten in einer unveränderlichen Gruppe auf, zu der auch einige Chinesen, ein Lette und ein paar der russischen „Mandschuren“ gehörten. Stets begann die Arbeit mit der Lieferung von Wasser. Es gab eine große Tonne, die liegend auf einen Schlitten verladen worden war und über eine Öffnung zum Einfüllen und Entnehmen des Wassers verfügte. Vor diesen Schlitten waren drei Mann gespannt, während einige ihn zusätzlich von hinten schoben. Das Wasser wurde vom Pumpenhaus der nahegelegenen Bahnstation „Toreja“ etwa 500-600 m weit transportiert, wie sich später herausstellte war dies an der noch im Bau befindlichen Strecke Tajschet – Lena, dem ersten Abschnitt der berühmten BAM (Baikal-Amur-Magistrale; Anm. d. Übers.).

Diese Aufgabe war im Großen und Ganzen nicht so schwierig, dafür jedoch äußerst erniedrigend – die Rolle des Zugviehs spielen, zumal im Stall ein wohlgenährtes weißes Pferd stand. Nachdem die „Garnison“, genauer gesagt die Kaserne, mit Wasser versorgt war, fingen wir mit anderen Tätigkeiten an - dem Saubermachen, Spalten von Holz usw. Im allgemeinen befaßten sich damit die Chinesen, während der Lette und ich zum Koch kamen, um dort Küchendienste zu tätigen: Brennholz und Wasser bringen, das Spülwasser hinaustragen. Dieser Koch war von hünenhafter Gestalt, ein junger Mann mit leicht mongolischen Zügen. Er war mürrisch, wortkarg und wäre, wie es mir schien, von seiner Natur her sehr geeignet gewesen, als Henker auf einem Portrait abgebildet zu werden.

Trotz allem verhielt er sich uns gegenüber menschlich, gab uns zu essen und schnitt für uns gelegentlich einen halben Laib Brot extra ab. Natürlich wurde das von der Lagerleitung nicht begrüßt, im Gegenteil – es war sogar verboten. Irgendwann erzählte ich dem Koch davon, aber er antwortete nur: „ Darauf pfeife ich! Ich werde sowieso bald entlassen!“ – Später erwähnte er, daß sein Bruder ebenfalls in Gefangenschaft wäre. Ich weiß es nicht genau, aber vielleicht saß er genauso wie wir. Dieser finstere Riese hieß Worotilow , und er stammte von hier, aus der Region Irkutsk. Im allgemeinen benahmen sich die Wachleute aus den Reihen der ehmaligen Frontsoldaten recht wohlwollend. Sie erlaubten es einem, in der Kaserne herumzulaufen und knüpften auch häufig Gespräche an. Ich sagte bereits, daß die alten Soldaten sich irgendwie sofort wiedererkannten und schnell Kontakt zueinander fanden. Unter ihnen war unter anderem auch ein Hundezüchter. Die Tierzuchtfarm befand sich etwa 100-150 m von der Kaserne entfernt und lag etwas höher am Hang. Nach dem Mittagessen kam der „Hundemann“ oft in die Küche, sammelte die Suppen-, Brei- und Brotreste ein und schickte uns dann damit zu den Hunden los, obwohl er genau wußte, daß davon nur noch wenig bei ihnen ankommen würde. Für die Hunde wurde extra eine dickflüssige Hafergrütze mit Fleisch gekocht, und nicht selten fanden sich in ihren Schüsseln auch jede Menge Übriggebliebenes, so daß sie unsere Suppen auch gar nicht wirklich brauchten. Oft schoß mir der Gedanke durch den Kopf, mit welchem Vergnügen wohl unsere WjatLag- Muselmänner sich diese Hundenäpfe hätten vorsetzen lassen mögen. Wir gingen auch los, um Brennholz für die Lagerzone zu holen und um alle möglichen Arbeiten an der Bahnstation zu verrichten. Dort begegneten wir auch freien Einwohnern. Die Wachbegleiter behinderten unsere Kontakte nicht. Aus unseren Gesprächen mit den Ortsansässigen erfuhren wir, wo wir uns befanden, man berichtete uns über die Geschichte dieser Bahnlinie, daß sich in den Nachkriegsjahren überall entlang der Trasse Lager für japanische Kriegsgefangene befunden hätten, die nun allmählich nach Hause geschickt würden, und daß man nun dabei war, die leer gewordenen Lager mit unseren Brüdern aufzufüllen.Wir sind sogar auf dem Weg zur Arbeit japanischen Brigaden begegnet. Manchmal arbeiteten wir in ihrer unmittelbaren Nähe. Unserer „Mandschurier“ wechselten mit ihnen ein paar Worte. Auch die Japaner wurden symbolisch von Wachen begleitet.; sie arbeiteten ohne großen Eifer unter dem Kommando ihrer Offiziere, wobei sie jedoch strengste Disziplin einhielten: ein kurzer Befehl – und alle ließen sich zum Rauchen nieder, ein neuer Befehl – und alle sprangen freundlich auf und machten sich wieder an die Arbeit. Sie hatten ihre Essensration, die überwiegend aus Reis bestand. Zur Arbeit und zurück zum Lager marschierten sie stets in Reih und Glied und sangen dabei, in der Regel, japanische Lieder, gelegentlich vernahm man jedoch auch japanisch angehauchte, aber bekannte Lieder und das Wort „Katjusa“ wurde zu uns herübergetragen. Einmal gingen wir in ein solches, eben erst frei gewordenes japanisches Lager, um es zur Aufnahme der Landsleute vorzubereiten. Der Lagertyp war derselbe wie unseres (dort waren früher ebenfalls Japaner gewesen), aber das ganze Territorium sah äußerst sauber aus, man hatte dort Wege angelegt und Sitzbänke aus Birkenhölzern aufgestellt. Es gab dort zahlreiche Lager, mitunter sogar in Sichtweite. Daher ist es nicht verwunderlich, daß wir gar nicht weit von uns entfernt arbeitende Gefangene aus anderen Lagern sahen, unter ihnen auch Frauen. Wieder fing mein Herz an zu schmerzen. Ich versuchte unter den Arbeitenden irgendeine mir bekannte Gestalt zu entdecken, aber wie soll man jemanden in 200-300 m Entfernung erkennen, wenn er dazu noch in dieser unförmigen Arrestantenkleidung steckt. Einmal begegnete ich auf den Gleisen unmittelbar einer Brigade aus einem anderen Lager. Auch hier hatten die begleitenden Soldaten nichts gegen ein Schwätzchen und erlaubten es, daß wir uns unter unsere Nachbarn mischten. Es stellte sich heraus, daß es sich bei ihnen ebenfalls um Inhaber des §58 handelte, die allerdings zur Zwangsarbeit verurteilt worden waren. Im Grunde genommen war der Unterschied nicht sonderlich groß. Sie hatten höhere Haftstrafen, und die meisten von ihnen waren ehemalige Angehörige der Polizeihilfstruppen oder Mitarbeiter aus dem Strafvollzug, die es in unserem Kontingent nicht gab oder die sich dort allenfalls in der absoluten Minderheit befanden. Um endgültige Parallelen zwischen dem WjatLag und unserer neuen Gemeinschaft, die die Bezeichnung „OserLag“ trug zu ziehen – einem der wenigen ähnlichen Lager für politische Häftlinge, die sich gegen Ende der 1940er Jahre formiert hatten, muß ich folgendes sagen:

Über die Anzahl und Lage solcher Lager gibt es keine glaubwürdigen Angaben, nicht einmal in unserer Epoche des „Glasnost“, aber damals zählte ich auf Grundlage diverser Gerüchte insgesamt 7 solcher Gebilde. Das „OserLag“ bestand zur Zeit meines Aufenthalts dort aus mehr als 40 Lagerpunkten (ich befand mich eine Zeit lang im 41.), und in jedem dieser Lagerpunkte lebten 600-800 Mann. Diese Lageraußenstellen waren entlang der gesamten Bahntrasse verstreut und zogen sich über eine Länge von ungefähr 500 km hin. In ihrer Mehrheit standen sie alle irgendwie im Zusammenhang mit dem Bau der Bahnlinie und wurden später als Holzbeschaffungslager an dieser Magistrale genutzt. Das Arbeitsregime, das System des Verpflegungsanreizes sowie die
Innere Lagerordnung unterschieden sich im Prinzip nicht von denen des WjatLag, aber die seelische Verfassung, die dort herrschte, war grundlegend anders. Wenn es unter uns auch Leute gab, die „den Kleinkriminellen zugetan“ waren, so war dies doch nur vereinzelt der Fall, und sie spielten auch keine erwähnenswerte Rolle. Dennoch ist es hier angebracht, bestimmte Zwischenschichten nichtantagonistischen Charakters hervorzuheben, die friedlich nebeneinander existierten, aber dennoch ihr eigenes Gesicht besaßen und wahrten. Der bedeutend kleinere Teil, etwa 10-15%, waren ältere Häftlinge aus den 1930er Jahren und solche, die erst später nach dem § 58-10 verurteilt worden waren, die also wegen antisowjetischer Äußerungen einsaßen. Es handelte sich hauptsächlich um sowjetische Menschen, die der Intelligenz zuzuordnen waren und im Prinzip auf der sowjetischen politischen Plattform standen. Obwohl es sich bei ihnen nur um eine kleine Gruppe handelte, spielte sie eine bedeutende Rolle, weil sie in unsere buntgewürfelte Gesellschaft eine gewisse, veredelnde Strömung einbrachte, die dem allgemeinen Benehmen und den gegenseitigen Beziehungen einen kulturvollen Stempel aufdrückte. Die zweitgrößte Gruppierung waren die Kriegsgefangenen: Wlassow-Anhänger und andere, die nach § 58-1a und 58-1b verurteilt worden waren. Bei ihnen handelte es sich ebenfalls um Sowjetbürger unterschiedlicher Nationalitäten, die in Bezug auf ihr kulturelles Niveau und ihre Entwicklung voneinander völlig verschieden, aber untereinander durch ihren gemeinsamen Weg verbunden waren, der sie zu diesem traurigen Endresultat geführt hatte. Ihre Einstellung zur Sowjetmacht war recht widersprüchlich, was man mit dem Grad ihrer persönlich erfahrenen Kränkung erklären konnte. Und dann war da noch die zahlenmäßig große Gruppe von Banderow-Anhängern und ihnen ähnlichen baltischen Mitgliedern antisowjetischer Banden (dieses Wort scheint mir am geeignetsten), die bis zu 40% aller Verurteilten ausmachten. Unter ihnen waren auch gewöhnliche „Großväterchen“ - halbe Analphabeten, sowie Ideologen irgendwelcher rowdyhaften Staatsgebilde aus den Reihen der Intelligenz, aber mir scheint es, also ob weder die Einen noch die Anderen überhaupt eine annähernd deutliche Vorstellung von den endgültigen Zielen ihres „Kampfes“ hatten, von denen man wohl am klarsten die Idee „Das ist mens!“ hervorheben konnte, d.h. das gierige Festklammern an seinem Eigentum, sofern es eines gab, oder zumindest die Hoffnung, daß es bald eins geben würde, und dann würde „jeder sein eigener Herr sein“. Die Mehrheit der Leute, die hinter Stacheldraht geraten war, hatten ihr Interesse an der Politik verloren und sich, entsprechend den von Zuhause erhaltenen Nachrichten über die Versöhnung und das Eintreten des Wohlstandes, mit dem Gedanken an die Sowjetmacht abgefunden.

Charakteristisch für unser Lager war vielleicht nur die Tatsache, dass es dort eine zahlenmäßig ziemlich große Zwischenschicht von „Mandschuriern“ gab. Diese waren, ähnlich unseren jugoslawischen Kadetten, in den Traditionen des Weißgardistentuns erzogen worden. Sie hatten so wohl vor dem Krieg als auch in dessen Verlauf aktiv gegen due UdSSR agiert, indem sie in verschiedenen antisowjetischen Organisationen mitgewirkt und auch aktiv mit den Japanern zusammengearbeitet hatten. Letztere hielten große Stücke auf sie – sowohl bei der Anwerbung in ihre Spionagenetzte, als auch bei der Unterdrückung des Widerstandes seitens der chinesischen Bevölkerung. Aus den Reihen dieser Russen, von denen viele Sprößlinge von Mitgliedern der Kosakentruppen von Ataman Semjonow und den Banden des Barons von Ungern waren, bildeten sich bewaffnete Formationen, in denen der Geist ihrer weißgardistischen Wegbereiter herrschte. Ich hörte Berichte, wie sich diese jungen Kerle amüsierten, indem sie Wettkämpfe darüber veranstalteten, wer wohl am saubersten und geschicktesten den Kopf eines „Honghuzi“ (chines. „Rotbart“; einst Bezeichnung für bewaffnete Räuber und Banditen an der russisch-chinesischen Grenze; Anm. d. Übers.) abhauen könnte, der gezwungen wurde so zu laufen, dass der nächste Wettbewerbsteilnehmer ihm im Galopp mit dem Säbel den Kopf entweder abhauen oder in der Mitte durchschlagen konnte. Verfeinert wurden solche Spiele in den japanischen Folterkammern, wo man all diese „Honghuzi“ verhörte. Natürlich wirkten nicht alle an solchen Gewalttaten mit, es gab auch äußerst friedfertige und intelligente Leute, aber dennoch vereinte sie alle eine gewisse geistige Gemeinsamkeit, durch die sie sich von der allgemeinen Masse unterschieden. Ferner gab es eine kleinere Gruppe ausländischer „Spione“ aus den westlichen Ländern. Man kann sie eigentlich noch nicht einmal als Gruppe bezeichnen – jeder war für sich. Dasselbe kann man auch nicht von den „Spionen“ aus den Ländern des Ostens sagen – den Chinesen und Koreanern. Sie klammerten sich an ihre Nation, zeichneten sich durch Solidarität, eine gewisse Isoliertheit und eine dem Europäer geheimnisvoll und unverständlich erscheinende Psychologie von der allgemeinen Masse aus. Zwischen Chinesen und Koreanern herrschte trotz der scheinbaren Gemeinsamkeiten im Schicksal, in der Geographie und Kultur, ein kühles Verhältnis. Im Charakter beider Nationen gab es übrigens zahlreiche Unterschiede. Die Chinesen waren einfacher, aufrichtige Arbeiter, während die Koreaner lebhafter waren, bereit zu planvollem Zusammenspiel und zum Nichtstun und sich gern an einem warmen Plätzchen einrichteten. Auf die Frage, ob es in Korea eigentlich Juden gäbe, antwortete einer von ihnen: „ Dort gibt es für sie nichts zu tun; die Koreaner sind selbst wie Juden“.

Die wenigen Japaner hielten sich von den anderen abgesondert und bildeten vor dem allgemeinen Hintergrund einen scharfen Kontrast. Aber davon will ich später erzählen. Schwierig ist es von den gegenseitigen Beziehungen mit der Lagerleitung zu sprechen. Wenn Menschen uneingeschränkte Macht über andere erhalten, dann nutzen sie diesen Umstand in Abhängigkeit von ihren persönlichen Qualitäten. Deswegen muß ich, wenn ich nun schon über die Lagerleitung reden soll, über ganz konkrete Individualitäten sprechen. Insgesamt gesehen charakterisierten diese Wechselbeziehungen hauptsächlich die Einhaltung des gesetzlichen Rahmens und der existierenden Anweisungen im Zusammenhang mit der Lagerordnung. Was die Verpflegung betrifft, so waren die Lebensmittel hier vollwertiger und sortimentsreicher, obwohl es zeitweise Schwankungen bei der Versorgung gab; aber das Hungergefühl verließ mich trotz allem auch in den folgenden Jahren nicht. Doch ein Todgeweihter war ich nicht. Es gab auch keine Krankenstationen, die mit Patienten vollgestopft waren. Und das lag weder an der guten Verpflegung, noch an einem schonenden Arbeitsregime, sondern vielmehr an dem gesunden sibirischen Klima. Auch die ständigen Schwellungen in den Beinen verschwanden, und ich dachte auch nicht mehr an meinen tatsächlichen oder fiktiven Herzanfall.


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