„Diese Arbeit, Walja, war furchtbar schwer,
Allein konnte man sie nicht achaffen.
Es gibt auf der Welt einen Zaren, er ist erbarmungslos,
Sein Name ist Hunger.“
(Nekrasow. „Die Eisenbahnlinie“)
Wie ich bereits sagte, begegneten wir mehrfach Ortseinwohnern – in der Hauptsache waren dies Bahnarbeiter, und dann unterhielten wir uns mit ihnen auch. Während dieser Gespräche hörte ich zum ersten Mal das Wort „moschka“ (Schwärme von Kriebelmücken; Anm. d. Übers.). Zuvor hatte ich nur den Begriff „moschki“ gekannt und einige Male gesehen, wie sie sich in ihren Reigentänzen ausgelassen im Abendrot , irgendwo über einem Teich oder Flüßchen tummelten und das poetische Abbild eines stillen Sommerabends vermittelten. Daher hatte ich das Wort „Moschka“ als interessantes Wörtchen aus dem sibirischen Dialekt aufgefaßt, aber es vergingen einige Wochen, bis ich verstand, daß es sich hierbei keineswegs um ein philologisches Phänomen handelte, daß die lockende Freiheit, die grenzenlosen Weiten der Taiga, die sich um unser Lager herum eröffneten, daß die in der Seele geweckten bekannten Motive aus dem Lied, „wie ein Vagabund auf einem engen Wildtierpfad von der Insel Sachalin flüchtete – fest und viel zuverlässiger und sicher, als Wachtürme mit Soldaten oder Begleitsoldeaten mit Hunden es sein können, von diesen winzig kleinen, aber blutsaugenden Kreaturen, die auf den lustigen Namen „moschka“ hören. Aber da war die Migration ins Lager schließlich beendet. Und die Gespräche über eine Versetzung in den Status verbannter Umsiedler ebenfalls. Es wurden dauerhafte Brigaden zusammengestellt und ihr Ausmarsch zur denjeweiligen Arbeitsplätzen organisiert. Alle Arbeiten hingen in irgendeiner Form mit dem Bau der Eisenbahnlinie zusammen. Der Eine beschäftigte sich mit der Planung von Böschungen und Bodenvertiefungen, andere mit der Aufschüttung und Beschwerung des Bahndamms, und wieder andere verlegten die zweiten und dritten Gleise an der Bahnstation. Bald hatte ich mir einen für mich neuen Beruf angeeignet. Ich lernte wie man mit einem einzigen Schlag Haken in die Eisenbahnschwellen hineintreibt und mit Hilfe einer Spitzehacke mit stumpfem Ende Schotter unter die Schwellen schiebt; außerdem begann ich die kraftlosen „Schäfchen“ („Owetschki“, Lokomotiven der Serie OW; Anm. d. Übers.) von den mächtigen namens „Helenas“ und Eleonoras“ zu unterscheiden, und eignete mir auch noch andere Geschicklichkeiten an, welche für Fußgänger und sogar für Passagiere von Schnellzügen geheimnisvoll und unerklärlich bleiben. Alle Arbeiten wurden mit der Hand ausgeführt. Die gesamte „Technik“ bestand aus Schubkarren, Schaufeln und anderen manuellen Werkzeugen, wie zu jenen fernen Zeiten, als Nekrasow überzeugt davon war, daß das russische Volk es schon ertragen würde“… Und die Eisenbahnlinie wird alles aushalten, was Gott ihr schickt und auf ihr fahren läßt“. Und auch wir mußten unsere Bahnstrecke aushalten und ertragen.
Von irgendwoher kamen auch eine gewisse Geschicklichkeit und Routine. Eine intelligente Gruppe zog eine schwere Schiene, während ein ehemaliger Dozent oder Literat ihre Bewegungen mit Hilfe eines Liedes dirigierte: „Eins-zwei, heben! Eins-zwei, jetzt! Eins-zwei, mit Schwung!“ Danach kamen unschöne Worte über Schwiegermutter und Brautwerberin, und die Intelligenten, sich immer dem Rhythmus des Gesangs unterwerfend, stießen das Schienenstück einträchtig und mit gleichmäßigem Rucken voran, oder auch die ganze Gruppe – bis zu einem halben oder einem Meter weit. Es ging auch nicht ohne „außergewöhnliche Ereignisse“ ab. Aufgrund der Demobilisierung der Frontkämpfer kamen Grünschnäbel, um an ihre Stelle zu treten, und die Lagerleitung war nach Kräften bemüht, die Neuen gegen uns einzustimmen. Wenn die Wachleute früher eine solide Ähnlichkeit mit Wachhunden hatten, die ganz ruhig dalagen, stillschweigend die unter ihrer Vormundschaft stehende Herde beobachteten und sich lediglich im Notfall erhoben, um für Ordnung zu sorgen, so waren sie jetzt wie bösartige und begriffsstutzige Welpen, die fortwährend kläfften und einem hinterrannten, was natürlich seine Auswirkungen auf die Arbeitenden hatte. Früher war die Arbeitszone auch mit Schildern mit der Aufschrift „Verbotene Zone“ ausgestattet, aber kaum jemand hatte dieser Tatsache Beachtung geschenkt; aber jetzt war es gefährlich sich den Tafeln zu nähern – es ertönte ein Schrei, und schon griff der Wachmann nach dem Gewehr. Und das Unausweichliche geschah. Einer aus der Chinesen-Brigade begab sich hinter die verbotene Linie und wurde erschossen. Tödlich getroffen sprang der Chinese gleichwohl in die Arbeitszone zurück, wo er zusammenbrach. Ich habe keine Ahnung, wie die Russen vorgegangen wäre - die Chinesen jedenfalls waren sich einig: sie muckten auf und erlaubten der Wache nicht, den Toten hinter die Linie der Verbotszone zu ziehen, sondern verlangten nach dem Staatsanwalt. Sie rührten sich nicht von der Stelle, bis einige Stunden später der Staatsanwalt eintraf und ihnen versicherte, daß die Angelegenheit sorgfältig untersucht würde und der Schuldige, sofern man ihn ermitteln könne, seine Strafe bekommen würde. Aber auch nachdem sie ins Lager zurückgekehrt waren, weigerten sich die Chinesen noch ein-zwei Tage lang zur Arbeit zu gehen. Ich weiß nicht, ob der Soldat bestraft wurde, das ist wohl erher unwahrscheinlich, aber uns war jedenfalls eine heilsame Lehre in Sachen Solidarität erteilt worden. Die einzige Maschine in unserem Revier war eine riesiger Dampfbagger, der in dem Steinbruch arbeitete, aus dem wir unsere Steine bekamen. Der Steinbruch befand sich einen Kilometer weiter entlang der Trasse. Das zersplitterte Gestein wurde vom Bagger auf Güterwagen geladen, die nach ihrer Entladung, die manuell erfolgte, erneut in den Steinbruch zurückkehrten. Und dann verlegten sie unsere Brigade in diesen Steinbruch. Die Arbeit war unkompliziert: die einen sägten und spalteten Brennholz, mit dem der Kessel des Baggers beheizt wurde, andere säuberten den Schienenbereich von Gestein, das bei der Verladung verschüttet worden war. Zwei Mann meißelten ein enges Schlupfloch in den Felsen, das im folgenden in einer breiten Höhle endete, wo sie Sprengstoff zur Schaffung eines Vorrats an Schottersteinchen lagern sollten. Eine hatte die Rolle des Heizers auf dem Bagger eingenommen. Die Brigade war bunt zusammengewürfelt und keiner darin war sonderlich intellektuell veranlagert. Offensichtlich schien ich dem Leiter des Steinbruchs am kundigsten von allen zu sein, und so setzte er mich für die Kontrolle und Registratur des verladenen Untergrundes ein. Mit Hilfe des leicht zu handhabenden Werkzeugs maß ich die Höhe und Länge des auf der Verladeplattform des Waggons zusammengekommenen Steinhaufens und errechnete den Rauminhalt anhand einer Formel.
Der Leiter verlangte, daß ich nicht zu freizügig sein, nicht allzu viel durchgehen lassen sollte, während der Baggerführer mich darum bat, bloß nicht zu knauserig mit meinen Angaben zu sein. Obwohl ich mich nun also zwischen zwei Feuern befand, stellte ich mir dennoch aufgrund der an meinem vorherigen Arbeitsplatz erworbenen Erfahrungen vor, daß sich der Bahndamm, der auf schwankendem Untergrund verlegt worden war, ständig senkte, und daß es keinen einzigen Spezialisten geben würde, der die Menge des andauernd neu aufgefüllten Schüttgutes exakt berechnen konnte. Daher entschied ich mich, ohne mich weiter nach den Vorstellungen der Baggerbesatzung zu richten aus dem zugelassen Plus / Minus trotzdem unverändert weiter für das Plus. Diese Arbeit dauerte mehr als einen Monat, vielleicht auch zwei. Endlich war der Schurf fertig. Ein Waggon mit Sprengstoff war eingetroffen; wir schleppten auf allen Vieren 20 kg schwere Säcke mit Trinitrotoluol durch das enge Einstiegsloch, um es in der Kammer zu stapeln. Insgesamt legten wir dort ungefähr 3 Tonnen aus. Anschließend, nach dem Verlegen der Drähte verschlossen wir den Einstieg mit Steinen, und die gesamte Brigade wurde von den Objekten entfernt und ins Lager zurückgebracht. Um drei Uhr nachmittags begann die Erde zu wackeln und zu zittern, auf das Lager prasselten kleinere, aber auch größere Steine herab, aber alles lief ohne irgendwelche Schäden ab. Am nächsten Morgen begaben wir uns wieder in den Steinbruch. Der hohe Berg mit seinen steilen, fast senkrechten Schnittkanten hatte sich gesenkt und in einen Haufen Schotter verwandelt. Bald darauf wurde der dampfbetriebene Bagger gegen einen mit Dieselantrieb ausgetauscht, und wir hatten keine Arbeit mehr. Wir waren noch ein paar Tage mit dem Stapeln von Brennholzresten beschäftigt, ich führte die Inventarisierung durch, und dann war die Arbeit an diesem Projekt beendet. Ich habe nicht beschrieben, wie zu Beginn des Sommers die unheilbringenden Kriebelmücken auftauchten. Obwohl auf dem von der Sonne erwärmten und mit Öl bespritzten Bahndamm entsprechend wenige von ihnen saßen, haben sie trotz allem auch hier die Menschen förmlich aufgefressen. Die winzigen Mücken drangen in die Innenseiten der Ärmel und Hosenbeine ein, besonders, wenn man sie zuvor zugeschnürt hatte, und zerbissen den Körper bis aufs Blut. Die geschwollenen Augen ließen sich nicht öffnen. Es war wirklich die Hölle. Viele wurden aufgrund von Fieber durch den Arzt von der Arbeit freigestellt. Interessant auch, daß die Kriebelmücken wählerisch waren. Hagere und Schwarze quälten sie weitaus weniger, so daß Koreaner und Chinesen unter ihnen nicht allzu sehr zu leiden hatten; dafür brachten sie die weißhäutigen Europäer fast bis zum Stumpfsinn. Auch ich litt in der ersten Zeit unter diesen unbarmherzigen Kreaturen, aber die Verlegung in den Steinbruch war meine Rettung. Die heiße, trockene Luft, der Geruch von Rauch und Maschinenöl schreckten die kleinen Insekten ab, und wenn sie uns zeitweise auch belästigten, so geschah dies lediglich auf dem Weg zur Arbeit oder zurück ins Lager. Zum Glück waren die Mücken in den Baracken machtlos. Sie strebten in Richtung Fenster und verendeten ziemlich schnell, wobei sie Fensterbänke, Fensterkreuze und Rahmen mit einer dicken Schicht bedeckten. Man muß dazusagen, daß der Organismus mit der Zeit eine eigentümliche Immunität erwirbt; jedenfalls litten wir in den Folgejahren schon nicht mehzr so sehr unter diesen Kriebelmücken, obwohl es letztendlich auch nicht möglich ist, sich vollkommen an sie zu gewöhnen. Als wir uns vom Steinbruch trennten, neigte sich der Sommer bereits dem Ende zu, der Höhepunkt der Mückenaktivitäten war vorbei und man konnte wieder leichter atmen. Mit meinen noch verbleibenden 5 Jahren Haft zählte ich inzwischen zu den „Kurzinhaftierten“ und kam in eine Brigade zur Wartung und Unterhaltung der Bahnlinie, und zwar an einen Streckenabschnitt, der zwischen der Bahnstation und dem Kilometer 3-4 des Ausweichschienenstrangs gelegen war. Zu dem Zeitpunkt gab es bereits eine Innovation. Anstelle unserer Namen erhielten wir Inventarnummern. Diese Nummern, die in riesigen Ziffern, ungefähr 10 x 20 cm groß, auf weiße Stoffstreifen gedruckt waren, wurden an die Brust- und Rückenteile der Kleidung sowie an die Hosenbeine oberhalb des Knies genäht. Und so wurde ich zur Nummer I-838. Offenbar hatten diese Nummern, oder besser gesagt die ihnen voranstehenden Buchstaben, einen Sinn, den ich leider nicht so einfach erkennen konnte. Aber die Zwangsarbeiter, denen ich, wie ich bereits früher erwähnte, begegnet war, trugen die Buchstaben „GG“, die bei keinem der Unseren zu finden waren. Die Arbeit in der neuen Brigade war nicht leicht, aber verständlich – und es gab niemanden, der einen zur Arbeit antrieb. Wir untersuchten selber den Zustand der Gleise und planten dementsprechend unsere Arbeit, die wir gelegentlich auch mit dem Gleisbaumeister besprachen. Wir gerieten hier an einen guten Begleitsoldatem, den wir fast überhaupt nicht bemerkten. Es würde sehr lange dauern, die einzelnen Arbeitsgänge und die Technologie ihrer Ausführung zu beschreiben, und es würde auch kaum für den in solchen Dingen unbewanderten Leser von Interesse sein. Auch hatten wir genügend Freizeit, um uns in der Gegend umzuschauen und uns an der unberührten Schönheit dieses Fleckchens Erde zu erfreuen. Die in der Ferne verlaufende Bergkette leuchtete zum Herbst hin in bunten Farben: die Nadelwälder hoben sich mit ihrem dunklen Grün ab, die Birkenwälder waren mit einer hellen Gelbtönung überzogen, und mittendrin sah man die leuchtend roten Espenwäldchen, während auf den Bergkämmen die Lärchen in einem wunderschönen Goldton glänzten. Aber den bereits das Laub verlierenden Birken saßen unerschrockene Birkhühner, sogar im Hof des Streckenwärterhäuschens. Es herrschte die samtene Zeit des Altweibersommers, der anschließend in einen ebensolchen klaren, wolkenlosen Herbst überging, und in irgendeiner Nacht fiel dann auf den bereits gefrorenen Boden auch der allererste Schnee. Wir arbeiteten noch einige Zeit weiter, dann festigte der Frost den angelegtten Bahn körper schon von allein, und es blieb für uns nichts mehr nach, was wir hätten tun können. Eine Weile war ich dann auch noch bei Erdarbeiten tätig, und zwar in vier Meter Tiefe, wo ich einen Graben für die zukünftige Wasserleitung aushob und verlegte.