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P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 69. Das letzte Inselchen des Archipel „OserLag“

„O-o, Sibiru-go, schtarku schurecht, schtarku karut!“
(O, Sibirien, sehr schlecht, sehr kalt!“; Anm. d. Übers.)
(Meinung meines japanischen Nachbarn Ogawa-san)

Es handelte sich um die 41. Lageraußenstelle eben jenes „OserLag“, welches sich irgendwo an den letzten Kilometern der Trasse befand. Früher waren hier mal Japaner, mal Kriminelle aus dem AngarLag gewesen, aber jetzt war die Einrichtung leer. Wir ließen uns darin nieder und fingen an es mit Leben zu erfüllen. Die Eisenbahnlinie war gerade erst verlegt worden. Hier spielte auch die in meiner Personenakte vermerkte Berufserfahrung als Erdvermesser eine Rolle. Man gliederte mich in die Topo-Gruppe ein. Eigentlich bestand die ganze Gruppe lediglich aus zwei Mann – aus mir und einem schon älteren Major, einem Fachmann für Geodäsie – sehr still und ordentlich. Zu unseren Pflichten gehörte die Nivellierung unseres Trassenabschnitts und ein Profilvergleich mit den Projekt-Vermerken, sowie die exakte Bestimmung, wieviel und wo genau Schotter für den Bahndamm aufgeschüttet und der Bahnkörper angehoben werden mußte. Mit dieser Aufgabe kamen wir schnell zurecht, während die Hauptbrigaden sich mit dem Ballastieren und der Ausrichtung der Gleise befaßten und noch ein paar andere mit Bauarbeiten entlang der Trasse; wir beide wurden dem Bestand der Baubrigade zugerechnet, die an Objekten arbeiteten, die sich sowohl innerhalb der Lagerzone, als auch in der freien Siedlung, in der etwa ein Dutzend einstöckige Häuser standen, befanden. Auf der anderen Seite der Lagerzone befand sich die Kaserne der Wachleute, und jenseits dieser Insel des Lebens erstreckte sich auf dutzende und hunderte Werst die Taiga. Alle Lebensmittel brachten wir uns mit, einschließlich Gemüse in getrockneter Form und von ziemlich guter Qualität. Eine Ausnahme bildete nur eine Art Kartoffelmehl. Daraus wurde ein klebriger Brei gekocht, von dem einem die Kehle brannte; außerdem wurden daraus „Pfannkuchen-Klößchen“ gebacken, ähnlich wie Semmel, die unter normalen Gegebenheiten ebenfalls ungenießbar und selbst unter Lagerbedingungen nicht sonderlich appetitlich waren. Als Köche waren Chinesen eingesetzt, der betagte und würdevoll wirkende Chefkoch Wan, oder auf Russisch Wanja, und sein Gehilfe Tschzhan, ein junger Bursche und Student. Beide sprachen schlecht Russisch, aber sie waren aufrichtige und erfinderische Köche. Die Zusammensetzung des Lagers war äußerst vielseitig: es ist schwer zu sagen, wieviele und welche Nationalitäten man hier eigentlich vereint fand. Es gab eine komplette Maler-Brigade mit lauter Japanern. In anderen Arbeitsgruppen waren Chinesen und Koreaner, Ukrainer, Letten und Litauer, Sowjet- und Auslandsrussen durcheinandergemischt. An der Spitze unserer Brigade stand der Ober-Ingenieur Lisogor. Er stammte aus den Reihen der in den 1930er, 1940er Jahren „Einberufenen“. Ich hatte immer schon ein gewisses Interesse und einen gewissen Respekt für diese Kategorie von Menschen gehabt. Es waren in der Regel ehrliche und überzeugte Leute, die klare Positionen vertraten. Lisogor dagegen war ein unzuverlässiger Typ, glatt wie ein Aal, der sich immer seinen Teil dachte und bei mir eher Antipathien als Sympathie hervorrief. Mit dem Major stand ich in einer guten, aber nicht engen Beziehung. Am Anfang war ich dort sehr einsam. Den restlichen Sommer über waren wir mit dem Abdichten der Baracke beschäftigt, erledigten Renovierungsarbeiten in der Kantine und im Kontor. Es herrschte eine schlechte Stimmung. Die Abgeschiedenheit, die miserable Verpflegung und die Einsamkeit waren deprimierend. Auch Gerüchte darüber, dass in vielen Lagerpunkten entlang der Trasse Häftlinge umgebracht wurden, waren nicht dazu geeignet, größeren Optimismus aufkommen zu lassen. Gefangene wurden dort tatsächlich einfach umgebracht - als etwas anderes kann man das Tun der Wachen nicht bezeichnen, die sich keine Möglichkeit entgehen ließen, von ihren Waffen Gebrauch zu machen, wenn jemand die Grenzlinie der verbotenen Zone überschritt. Es hieß, dass die Lagerleitung das Ganze auch noch förderte: „Wachsamkeit“ wurde mit Urlaub und wertvollen Geschenken belohnt.

Ich kann nicht garantieren, ober das alles auch wirklich so war, aber schon vorher wäre beinahe direkt vor meinen Augen einer unserer Fuhrleute erschossen worden, ein junger Bursche, der, als er mit seiner Ladung den Waldweg entlang der Eingrenzung befuhr, beim Wenden des Pferdes die Grenze der Verbotszone übertrat. Die Tat und die Absicht des Fuhrmanns waren eindeutig, aber trotzdem fiel ein Schuß, und allein der Umstand, dass es sich um einen Fehlschuß handelte, rettete dem Häftling das Leben. Der nächste sibirische Winter setzte ein und brachte völlige Windstille und Frost über – 50 Grad mit sich. Die Arbeiten an der Trasse waren beendet, andere Tätigkeiten gab es im Lager nicht, und ein großer Teil der Gefangenen wurde in ein oder zwei Gruppen in andere Lageraußenstellen verschickt. Am Lagerpunkt 41 blieb lediglich das Kontingent zurück, das zur Aufrechterhaltung des Lebens im Lager und in der Siedlung notwendig war oder eine Beschäftigung in den beheizten Räumen gefunden hatte, wie beispielsweise die Japaner-Brigade, welche in einem speziell dafür hergerichteten beheizten Waggon Betonarbeiten ausführte. Ich blieb im Lager, aber ohne vollständige Brigade. Insgesamt waren wir nur noch drei: ein Ofensetzer – der Westukrainer namens Chrobykin oder Chrobatin, wie er sich selber nannte, ein Verputzer und Maler – das war ich, und der Knstler Schadrin, ein junger Bursche und ehemaliger Wlassow-Anhänger. Im Grunde genommen erledigten wir alle laufenden Arbeiten gemeinsam. Wir unterstanden unmittelbar dem Arbeitsanweiser. Das war ein düster dreinblickender sowjetischer Ukrainer mit Nachnamen Monarch. Ich weiß nicht, weswegen er einsaß, aber sein Äußeres erinnerte stark an einen Polizeiangehörigen oder einen Dorfschulzen. Des weiteren lag in Monarchs Zuständigkeitsbereich noch der Barackenstubendienst sowie verschiedene Schneider und Schuhmacher. Viele aus diesen Berufsgruppen bildeten den Grundstock für die künstlerische Laientätigkeit im Lager, wofür sie auch warme Plätzchen erhielten, wenngleich die Amateuraktivitäten nicht über das Proben hinausgingen. Ein Großteil dieser „Artisten“ waren Juden. Es gab nur wenige Reparatur- und Bauarbeiten, und so konnte man uns ohne große Umstände für andere Tätigkeiten innerhalb des Lagers verwenden, aber Monarch war uns irgendwie gewogen und ließ uns nicht an ungelernte Arbeiten heran, sondern trommelte dafür die „Judenkapelle“ zusammen. Wir lebten zuusammen mit der japanischen Brigade in der Baracke. Hier begegnete ich diesem Volk zum ersten Mal, und konnte ganz intensiv ihr Alltagsleben, ihre Beziehungen zueinander usw. beobachten, und ich muß sagen – ich bracht ihnen großen Respekt entgegen. In der Brigade befanden sich Leute,die sich in Alter, Berufsausbildung und Bildungsniveau stark unterschieden, und dennoch hatten sie irgendetwas Gemeinsames: das war die Kultur ihres Auftretens, ihres ganzen Benehmens, das sie nicht nur von den Russen, sondern auch von Vertretern anderer europäischer Nationen ganz erheblich unterschied. Hier nur einige wenige Charakterzüge zum kollektiven Bild dieses Volkes. Der Brigadeführer war ein noch junger Hauptmann der japanischen Armee namens Usujima. Er war wohl der einzige von allen Brigadeleitern, welcher der ganzen Brigade die gleiche Essensration zuschrieb. Die Lagerleitung und sogar die Buchhalter aus den Reihen der Häftlinge, hatten ihm bereits mehrmals ihre Meinung gesagt, dass er Gleichmacherei betreibe: denn ein alter Mann konnte doch schließlich nicht so viel arbeiten, wie ein junger, kräftiger Bursche. Aber Usujima bestand eisern auf seinem Willen: „Jeder arbeitet aufrichtig so gut wie er kann, und ich kann nicht einen Menschen mit Hunger bestrafen, nur weil er alt und schwächlich ist“. In der Brigade hatten sie auch einen Wirtschaftsleiter, der das gesamte Brot und den Zucker erhielt und dann aufteilte, der aber auch andere Verpflegungsfragen entschied. Ich weiß nicht, was sich dieser Wirtschaftsleiter hatte zuschulden kommen lassen, aber nach einigen lebhaften Debatten beschloß die Brigade ihn zu ersetzen.

Papier und Bleistift wurden besorgt und dann in einer geheimen Abstimmung ein Neuer gewählt. Der hielt eine Rede und dankte für das entgegengebrachte Vertrauen. Bei uns wurden solche „Wirtschaftsleiter“ durch den Brigadeleiter selbst ernannt, gewöhnlich aus den Reihen derer, die ab und an Pakete erhielten und den Inhalt mit ihm teilten. An den Abenden versammelte sich die Brigade an der Schlafstelle des „Schauspielers“. Der setzte sich im Schneidersitz hin,umwickelte seinen Kopf mit einem Handtuch und sang japanische Lieder, die für unsere Ohren ganz ungewohnt waren, aber sehr melodisch. Die Zuhörer saßen still da, ohne den Vortrag durch Zwischenrufe zu unterbrechen, und belohnten den Sänger nach jedem Lied mit freundlichem Beifall. Es gab auch Konflikte, aber sie wurden ohne Schlägereien, Beschimpfungen und Beleidigungen entschieden. Nach einigen Sätzen mit erhobenem Tonfall begaben die Gegner sich nach draußen und fingen an zu kämpfen. Die Anwesenden beobachteten schweigend den Zweikampf, und wenn dann jemand die Oberhand gewann, kehrten alle in die Baracke zurück, und der Konflikt galt als erledigt. Im Umgang mit anderen und untereinander verhielten sie sich höflich, was manchmal auch etwas übertrieben wirkte.

Unsere Gesellschaft mußte sich ständig mit irgendwelchen Reparaturen sowie dem Weißen des Ofens und der Kessel in der Küche befassen, und nach der Essensausgabe fiel uns dann immer etwas von den Überresten zu. Normalerweise teilte der Koch sie aus – unter der Beobachtung des in der Küche diensthabenden Brigadiers. Wenn Usujima dort seinen Dienst versah, dann füllte er die Schüssel höchstpersönlich, brachte sie mir, hockte sich nieder, machte eine Verbeugung, die beinahe bis zu seinem Gürtel reichte, und auf seinem Gesicht erschien ein so strahlendes Lächeln, als ob ich ihn für den Rest seines Lebens glücklich gemacht hätte, indem ich von ihm die Schüssel mit Kartoffelsuppe und Mehlklößchen entgegen genommen hatte. Ich beteiligte mich an diesem Spiel, indem ich mich ebenfalls lächelnd verbeugte, und dann führten wir diese gegenseitige Verbeugungszeremonie noch eine ganze Weile fort, wie ein paar vornehme Adelige aus dem Gefolge Ludwigs VIII. Mitunter kamen in der Küche Mißverstädnisse auf. Die Chinesen haben in ihrem Alphabet nicht den Buchstabenklang „R“, während den Japanern das „L“ fehlt. Die Diensthabenden und die Leute aus dem Werkstattbereich erhielten ihre Portionen individuell, und der Koch notierte sie in einer Liste, und zwar die Einen als WLD (Wirtschaftslagerdienst), die Anderen als PRD (Produktionsbereichsdienst). Da tauchte ein Japaner auf. Uschan füllte ihm das Essen, was ihm zustand, auf und fragte:

„Bist du WLD oder PRD?“ – Ich bin nicht WRD, sondern PRD“ antwortete der Japaner. Und so kamen sie lange Zeit nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Schließlich machte Uschan eine abwertende Handbewegung: „ Deine Leute keine Lussen, meine auch keine Lussen – nicht verstehen“. Und nun ein paar Worte in puncto Lagerleitung: den Lagerleiter bemerkte man kaum. Er lief immer schweigend durch die Lagerzone, begab sich in sein Kabinett, traf hier und da ein paar Entscheidungen und ging ebenso unbemerkt wieder fort. Ich weiß noch nicht einmal seinen Nachnamen und kann mich auch nur undeutlich an seine große, plumpe Gestalt erinnern.

Dafür habe ich noch eine genaue Erinnerung an seinen Stellvertreter. Er war von mittlerer Größe, mit dem typischen äußeren eines russischen Mannes. Er trug einen schmuddeligen Halbmantel und Filzstiefel und war ein schwerer Trinker. Er lungerte im Lager herum, streunte durch die Baracken, ging mal diesem, mal jenem auf die Nerven und erzählte kleine Fabeln. Mitunter, wenn er absolut „nicht in Form“ war, ließen die Wachen ihn schlicht und ergreifend nichtins Lager herein, und dann klammerte er sich an die Gitterstäbe des großen Tores, sprach irgendeinen vorübergehenden Häftling an und forderte ihn auf, doch Mitleid mit ihm zu haben, weil die Wachen ihn in so ungerechtfertigter Weise beleidigt hatten.

Der Leiter der Kultur- und Erziehungsabteilung traf bereits im Winter ein. Er war ein vielbeschäftigter Mann: ein großer, aber gebeugter Mann, der wohl aus einem Lager in Wologda oder dem WjatLag kam, etwa 45 Jahre alt, mit langer Nase und weißem, spärlichem Haarwuchs. Er war ziemlich beschränkt, aber gutmütig. Allwissende Häftlinge meinten, dass er ebenfalls wegen eines unpassenden, in seiner Einfältigkeit ausgesprochenen Wortes in unseren abgelegenen Krähenwinkel geraten sei. Seine Frau arbeitete als Verwalterin des Vorratslagers in der Siedlung, aber die ganzen Abrechnungen wurden von unseren Buchhaltern erledigt. Der Lagerleiter war eifersüchtig; er ließ seine Frau nicht in die Lagerzone gehen, sondern brachte alle wichtigen Dokumente und die Arbeitslöhne selber her. Der operative Bevollmächtigte, der sogenannte „Kum“ war „Komiker“ (er stamte aus der ASSR Komi) und hieß mit Nachnamen Pawlow, ein junger, sportlich-adretter Mann. Seine Tätigkeiten im Lager traten überhaupt nicht zutage. Seine Mutter und zwei Schwestern lebten auf seine Kosten. Eine von ihnen arbeitete als Verkäuferin im freien Laden und war ziemlich ordentlich und tüchtig; man findet solche Menschen gelegentlich unter den mongolischen Völkerschaften. Die andere bot das typische Beispiel eines anders gearteten Volkes aus dem Hohen Norden: sie war klein, stämmig, mit breitem, flachem Gesicht. Der Leiter des Wachdienstes, ein ehemaliger Frontsoldat, meinte, dass, wenn man ihr im Dunkeln begegnete, man nicht wüßte, wo bei ihr eigentlich vorn und hinten wäre.

Es gab auch noch einige Aufseher, einer von ihnen war der Älteste – ein wichtiger Administrator im Lager. Einen besonderen Platz beim Lagerpersonal nahm der Leiter der Sanitätsabteilung ein – Hauptmann Kopalkin. Er war ein kleiner Dicker, wortkarg und sogar etwas menschenscheu. Aber er benahm sich gegenüber den Häftlingen sehr aufmerksam, war bemüht, niemandem die Freistellung von der Arbeit zu verweigern, wovon die Schwindler gern und oft Gebrauch machten. Er rauchte nicht und brachte seine gesamte ihm zustehende Tabaksration in die Lagerzone. Wenn die Japaner ihn sahen, kamen sie in Scharen in die Sanitätsabteilung gelaufen: „Hauptmann, rauchen müssen!“ – und schon gab er ihnen seinen Vorrat. Möglicherweise bekam er deswegen Ärger mit der Lagerleitung; er lebte allein, wie im Abseits. Mit diesen Leuten verbinde ich einige, recht klare und manchmal komische Erinnerungen.


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