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P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 71. Überlegungen zur Vereinbarkeit von Genie und Verbrechen

"Ach wie schwer! Gebt mir Wein!
Im Suff ich hoffentlich vergesse
Ihr Narren wisset also nicht,
Ob es Scham ist oder Ruhm! "
(P. Jaworow, bulgarischer Poet zur Zeit der Befreiung
von der türkischen Gewaltherrschaft)

Aber dieses im allgemeinen ungebundene Leben glättete sich nicht, sondern verschärfte bald darauf nur das Bewußtsein der eigenen Machtlosigkeit vor der herzlosen Repressions-maschinerie, welche das Schicksal von Millionen Menschen unter ihren Raupenketten zerquetschte, sie physisch und moralisch zu Krüppeln machte, und zwar nicht nur uns, die Gefangenen, sondern auch die Freien – solche wie Hauptmann Kopalkin, die Familie Pawlow oder den Kultur- und Erziehungsleiter, die in dieser Abgeschiedenheit lebten, unter Bedingungen, die sich kaum von denen der Häftlinge unterschieden und die dazu aufgerufen waren, uns in Ausübung ihrer Dienstpflicht zu unterdrücken – uns, die wir ebenso einfache Menschen waren wie sie, und gegenüber denen sie im allgemeinen weder Haß noch Feindschaft empfanden. Diese meine Gedanken teilte ich mit Schadrin, und in unseren Seelen keimten Wut und Rachedurst auf. Der Krieg in Korea, der mit einem undeutlichen Echo bis zu uns herübergedrungen war, ließ die Hoffnung auf Veränderungen und ein Schleifen dieses Zarenreichs der Unterdrückung aufkeimen, das, wie es schien, ohne einen Impuls, einen Stoß von außen nicht zusammenstürzen würde.

Unser Lager wurde weiter evakuiert, und an einem schon beinahe frühlingshaften Tag begannen sie mit der Formierung einer Häftlingsetappe. Ich weiß nicht mehr, wer von uns als erster abfahren sollte, ich oder Schadrin, aber wie dem auch sei, irgendwann kam für uns die Zeit des Abschieds. Zuvor hatten wir noch lange und offenherzig über alles geredet, und plötzlich befiel mich wieder eine Eingebung, die mich in jenen Minuten die Zeilen eines Gedichts zusammenfügen ließ, von dem ein Teil auch zum Motto dieses Teils meiner Erzählung wurde. Später war ich mit meinen eigenen maximalistischen Schlußfolgerungen in vielen Punkten nicht einverstanden und versuchte die Akzente zu enthärten, aber da fingen die Verse an unaufrichtig zu klingen; und jetzt werde ich sie wohl besser in ihrer ursprünglichen Fassung zitieren – als Widerspruch zu meiner Stimmung in der damaligen Zeit.

Wir sind viele, unterdrückte Sklaven,
Gejagt vom Gewehrkolben des Tschekisten,
Zwischen unseren unbekannten Gräbern,
Verläuft der siegreiche Feldzug der Kommunisten.
Die Taiga graben wir auf, bei Hitze und bei Frost,
Wir graben uns hinein in Felsen und Berge,
Über unsere Knochen eilt die Lokomotive hinweg –
Hin zum entfernten, blauen Meer.
Später sollen auch wir mit unserem Blut
Die Macht der Sowjeträte stärken,
Bei lebendigem Leibe wollen sie uns hier begraben
Um des Glücks, des Lebens und der Welt willen.
Vergebliche Bosheit, grausamer Tyrann,
Umsonst die blunde Wut,
Der große Sturm der Volksrache
Wird die Kreml-Festung durchbrechen.
Ja, wir sind nicht allein. Mit uns werden all diejenigen sein,
Der seit seiner Kindheit noch kein Glück gesehen hat,
Der aufgewachsen ist, der hungrig war, im Elend umgekommen ist –
Unter den Fesseln eurer Macht.
Für uns, unsere Brüder, die in fremdem Lande
Schwere Jahre durchgemacht haben,
Für uns wird jeder sein, egal auf welcher Seite,
Der die Freiheit liebt und will.
Bösewicht, ja zitter nur! Deine Stunde naht.
Nun winde dich im Todeskampf vor Schmerzen.
Von der Stimme der Vergeltung wird dein Wehgeschrei erstickt,
Mit lautem Krachen wird der Ausbruch der Gerechtigkeit erfolgen.
Werde erwachsen, Genosse! Soll dein Blick unter
Den finsteren Brauen sich schärfen –
Für unsere Leiden, die Tränen der Familien
Bezahlen wir mit Eisen und mit Blut!

Diesen Versen würden man jetzt wohl von verschiedenen „Volksfronten“ aus mit Applaus begegnen und offenherzig seitens der schwarzhunderter, demokratischen Vereinigungen; ich persönlich aber verurteile meine damaligen Stimmungen, welche die Gemütsverfassungen meiner engen, verschlossenen kleinen Welt auf globale Probleme der Weltpolitik und die Prozesse der gewaltigen Umgestaltung, die in unserem Lande vor sich gingen, übertragen haben. Heute, in den Tagen des Radaus um die demokratische, kriminelle Revolution, habe ich mich auch in vielen Dingen neu orientiert – sowohl im Hinblick auf die Sowjetzeit in unsere Geschichte, als auch was Stalins Persönlichkeit betrifft. Der Begriff „Volksfeinde“ wurde für mich physisch spürbar, auch wenn die Opfer der Repressionen in den 1930er Jahren im Geiste und in ihren Ideen Brüder der heutigen „Perestrojker“ waren. ... Im übrigen werde ich schweigen, schweigen. Ich sehe schon den zum Wehgeschrei des Protests aufgerissenen Mund der fest und nicht fest angestellten Menschenrechtler ... Ich kann auch nicht mit jenen vollständig einiggehen, welche die Position der Idealisierung der Stalinepoche einnehmen: wo gehobelt wird, da fallen Späne! Natürlich war Stalin eine riesige Gestalt, und riesig war auch der Maßstab der zu bewältigenden Aufgaben, die unter seiner Herrschaft gestellt und entschieden wurden; alles entsprach dem russischen Maßstab und dem geistigen Potential seines Volkes, das durch die Revolution in Bewegung geraten und durch den Willen der Partei angeheizt war, die weder sich selbst, noch den anderen eine Atempause oder Schonung gewährte. Und so nehmen wir, die Nachfolgegeneration der Oktoberrevolution, ein Teilchen dieser Last des Ruhmes und der Schande jener Jahre auf uns, selbst jene, die wie ich zu den „Spänen“ gehörten, die in einer anderen Situation wahrscheinlich ganz aufrichtige „Holzfäller“ geworden wären. Und trotzdem lassen mich die tief in meinem Herzen sitzenden Holzsplitter nicht loskommen von all dem Durchgemachten, lassen mich nicht den Verstand zur Höhe einer furchtlosen geschichtlichen Retrospektive erheben. In meinem Herzen herrscht keine Verbitterung, aber es hat auch nich nicht vollständig vergeben. Klar, dass ich Schadrin diese Verse nicht in schriftlicher Form überlassen konnte. Dafür hätte man unausweichlich eine Haftstrafe aufgebrummt bekommen, aber nichtsdestoweniger schrieb ich für ihn ein lustiges Abschiedsgedicht, in dem ich vieles erwähnte, was ich ich in den vorausgegangenen Kapiteln beschrieben habe. Es endet ebenfalls mit einem ungesetzlichen Vierervers:

„Aber wenn wir mit Truman eine Schlägerei anfangen,
Dann kehrst du in deine liebe Familie zurück,
Und unser geliebter Führer bekommt eins auf den Hin.....,
Öffne eine Halbliterflasche zur Erinnerung an mich“.

Ich weiß nicht, on Iljuscha mein Vermächtnis erfüllt hat, aber ich habe mich oft und gern an ihn zurückerinnert. Bald darauf fuhr ich, nach meiner Verladung auf einen beheizbaren Waggon, gen Westen – in neue Lager und Gefängnisse, und so weiß ich nicht, wer unseren „Komsomolzen-Aufbau“ zuende führte. Es kam der Frühling des Jahres 1952.


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