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P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 72. Zwei Hauptmänner

„, auch wenn es immer noch allen möglichen Abschaum gibt,
wie diesen Hauptmann Michaltschenko,“ – „Überhaupt kein Abschaum,
sondern Bestarbeiter. Und ein echter Hauptmann noch dazu – einer mit
vier Sternen, nicht bloß mit drei ...“
(aus einem Gespräch zwischen zwei „Hauptmännern“).

Also, als ich noch ein Viertel meiner Haftzeit abzusitzen hatte, hielt der Zug, zu dem auch einige beheizbare Waggons mit Häftlingen aus dem 41. Lagerpunkt gehörten, auf einem hochgelegenen Bahndamm auf freier Strecke an. Türen begannen zu schlagen, Scheinwerfer leuchteten auf und man hörte Hundegebell. Wachmänner sprangen auf die Waggons und ließen die Häftlinge aussteigen. Wer am Türdurchgang einen kurzen Moment zögerte, wurde hinausgestoßen, fiel in die Dunkelheit und rollte sogleich kopfüber die Böschung hinab. Unten angekommen wurden wir alle, und das waren 50-60 Leute, zu Dritt aufgestellt und dann tief in den Wald hineingeführt. Ich befand mich, einstweilen ganz zufällig, in der mittleren Reihe, war im folgenden jedoch bemüht, dies ganz bewußt so einzurichten. Zum ersten (aber auch zum letzten) Mal in meiner Praxis machte der Wachsoldat, genauer gesagt der kaukasische Aufseher, von seinem Stock Gebrauch. Er befaßte sich mal mit dieser, mal mit jener Seite der Kolonne, und so manch einer wurde von seinen Stockschlägen getroffen. Sie wurden zwar nicht sehr schmerzlich empfunden, da wir alle gesteppte Wattejacken trugen, aber die ganze Situation war äußerst kränkend und demütigend. Glücklicherweise wiederholte sich dieser gestapomäßige Empfang nicht. Am Morgen schauten wir uns am neuen Ort ein wenig um. Wir waren hier am Lagerpunkt 36, abseits von der Trasse, und es handelte sich um ein Holzfällerlager. Der Wald war bereits ordentlich abgeholzt worden und die Holzeinschläge befanden sich ziemlich weit entfernt: etwa 4-5 Kilometer. Das Holz wurde mit Automobilen über Bretterwege abtransportiert. Diese Wege wurden folgendermaßen gebaut: man verlegte alle 1,5 – 2 Meter Schwellen aus Rundhölzern und darüber einen 70 cm breiten Fahrbelag für jede Radseite. Die Mitte blieb frei. Der Belag wurde aus 60 mm dicken Brettern gefertigt. Man kann sich leicht ausrechnen, wieviel erstklassiges Holz sinnlos für diese Wege verschwendet wurde. Allerdings wurde nach der Räumung (relativ gesehen) der Parzelle ein Teil des Fahrweges wieder abgerissen, aber das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die meisten Bretter waren danach für eine erneute Verwendung nicht mehr geeignet, und die Schwellen blieben für immer dort liegen. Über diese Holzwege gingen (und manchmal fuhren) die Leute auch zur Arbeit, was recht angenehm war: dort ging man eben und trocken, allerdings gab es gelegentlich auch Löcher im Belag, und nicht selten stürzten die hinter einem Gehenden dann aufgrund dieser Vertiefungen und verletzten sich teilweise erheblich. Der Arbeitstag zog sich über 10 Stunden hin, und wenn man die Wegstrecke mitberücksichtigt, dann waren es mitunter auch 12. Die ganze Technologie der Holzbeschaffung und des Abtransports war dieselbe, wie die, die ich bereits beschrieben habe. Ich hatte weder unter denen, die mit mir angekommen waren, noch unter den Ureinwohnern des Lagers irgendwelche Freunde oder wenigstens einigermaßen gute Bekannte, und so mußte ich mich wieder einmal erst unter all den neuen Leuten zurechtfinden. Was das Alltagsleben betrifft, sowar es hier ein wenig besser, aber das wichtigste im Lager war der Klub mit seiner Bibliothek, die von dem ziemlich unbekannten moskauer Schriftsteller, Poeten und Publizisten Isbach geleitet wurde. Sein wahrer Name war Aleksander Abramowitsch Bachrach, aber im Lager verkehrter er unter seinem literarischen Pseudonym. Ich hatte schon viele Jahre kein Buch mehr in der Hand gehalten und wurde nun zu einem der aktiven Leser, der sich auch schon bald mit dem Schriftsteller anfreundete. Wir leisteten Schwerstarbeit, auch der lange Weg zur Arbeit entkräftete uns, und so war ich bereits nach den ersten Monaten körperlich ziemlich geschwächt; aber wenn ich ins Lager zurückgekehrt war, dann konnte ich in die Bücher versinken und sowohl den Hunger, als auch den ganzen Häftlingsalltag vergessen. Anfangs bestand meine Aufgabe im Abhacken von Ästen, eine äußerst anstrengende Tätigkeit, um so mehr, als die Holzfäller sich nicht groß darum kümmerten, ob dieser oder jener Baum überhaupt gefällt werden sollte. Sie markierten die Bäume mit ihren Kreuzen, wie es ihnen gerade in den Sinn kam. Nach einiger Zeit, es muß so im Mai gewesen sein, gab man mir ein Pferd mit Namen Olympiada. Das war eine betagte Stute, faul und kraftlos, die wohl zuverlässig zog, aber genau so gut mitten beim Gehen oder während der Beladung einschlafen konnte, und manchmal, wenn ich das Vorderrad zum besseren Verladen ein wenig anhob, fiel das Pferd sogar um, und dann mußte ich es wieder ganz neu anspannen. Diese Pferde wurden, nachdem die Arbeit beendet und sie mit Hafer versorgt worden waren, am späten Abend in den Wald getrieben, wo sie die ganze Nacht grasten; am Morgen wurden sie dann wieder in den Stall gebracht. Sie hatten keine Gelegenheit zum Ausruhen, denn man holte sie sogleich wieder zur Arbeit ab. Das allerdings war nur das halbe Elend.

Das richtige Elend kam, als eines schönen Tages mit einem Schlag schwarze Wolken von Mücken aufflogen. Derart große Schwärme hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Wir hatten uns zwar schon einigermaßen akklimatisiert, litten aber dennoch ganz gehörig. Doch am schlimmsten war es für die Pferde. Mehr oder weniger gut half Teer, mit dem wir die Pferde und uns einschmierten. Am Holzeinschlagplatz war eine Küche eingerichtet worden, aber es war nicht möglich dort auch zu essen: die Kriebelmücken fielen zu Dutzenden über Schüsseln und Suppe her, und bis du einige davon gefangen hattest, war schon der nächste Schwarm eingefallen. Irgendwie gelang es, die Schüssel mit unter den Netzhut zu schieben, und dann schlürften wir die trübe Brühe über den Rand – mit allem darin, was Gott uns geschickt hatte. Die Mücken-Hochsaison ging bald ihrem Ende zu, aber auch in der Zeit danach blieben diese Insekten noch die Hauptgeißel für Mensch und Tier. Die Hauptsehenswürdigkeit des Lagerpunktes war sein Leiter – Hauptmann Slipenko. Ich muß sogleich hinzufügen, dass es sich um einen ehemaligen Hauptmann handelte, der in jener Zeit zum Oberleutnant degradiert worden war; aber dennoch nannten ihn alle wie bisher „Hauptmann“. Es war ein kräftiger, gesunder Mann von knapp 40 Jahren, mit keck aufgedrehtem roten Schnurrbart. Er versuchte die Leute davon zu überzeugen, daß er ein Kosaken-Kavallerist war, ab man glaubte ihm nicht sonderlich, denn er war ein gehöriger Quatschkopf. Aber mag sein, daß er zu früheren Zeiten doch einmal Kavallerist gewesen war, weil er eine große Neigung zu Pferden besaß. Oft kam er morgens zum Pferdestall, wenn wir die Tiere mit Hafer versorgten, während wir sie gleichzeitig striegelten, und dann erzählte er uns immer alle möglichen Märchen, erteilte Ratschläge usw. Einen seiner Besuche habe ich noch in ganz besonders guter Erinnerung. Kurz vor diesem Zeitpunkt war eine Tierärztin bei uns aufgetaucht – ein anmutiges, junges Mädchen. Auch sie kam mitunter morgens in die Stallungen, um uns Mitteilung über irgendwelche Verletzungen oder Erkrankungen zu machen, die sie bei dem einen oder anderen Tier entdeckt hatte. Einmal, als sie gerade einen der Verschläge betrat, kam, tauchte auch Hauptmann Slipenko dort auf und begann, ein Wort ums andere und ganz nach seiner Gewohnheit – lautstark und ausdrucksvoll - von einem seiner Lieblingsabenteur zu erzählen. Das Mädchen versteckte sich hinter dem Pferd, fest entschlossen sich nicht blicken zu lassen, während wir uns um den Hauptmann versammelten und, angespornt durch sein erzählerisches Talent, schallend lachten, obwohl wir uns gar nicht so sehr über die eigentliche Geschichte amüsierten, als vielmehr über die Situation, in der sich der Hauptmann bei seiner unfreiwilligen Begegnung mit der Ärztin befand. Er beendete seine Erzählung und begann danach mit der Begutachtung des Pferdes, und natürlich stieß er dabei auf das Mädchen, das sich stumm hinter der Trennwand des Verschlags verbarg. Der Hauptmann kam wie ein Geschoß aus dem Stall geflogen. Eine Minute später tauchte seine rote Gestalt hinter der Ecke auf und anschließened auch seine gewaltige Faust. Aber man darf nicht meinen, daß der Hauptmann ein friedfertiger, gutmütiger Bursche war, im Gegenteil – er war ein erbarmungsloser, grausamer Ausbeuter, wenn es um die Erfüllung des Plansolls ging. Es machte ihm überhaupt nichts aus, von der Arbeit Freigestellte in den Wald zu jagen, Leute an den freien Tagen zum Arbeiten zu zwingen, er war sehrwohl der Herrschsucht fähig, konnte aber auch ganz gut Demokratie spielen. Von solcher Art waren wohl auch unsere vorrevolutionären Kaufleute, die mit ihren Arbeitern Wodka tranken und sie dann bis aufs letzte Hemd auszogen.

Es gab häufig irgendwelche Geschichten mit dem Hauptmann. Einmal brachten sie weißes Mehl, und der Koch machte daraus Nudeln, und dann wurde in der Zone und im Produktionsbereich eine leckere, dicke Suppe daraus gekocht. Einmal jedoch, offensichtlich während des Transports, war einer der Säcke mit Ölfirniß in Berüfrung gekommen. Ausgerechnet dieser Sack geriet in unsere Sommerkücke. Die Nudeln wurden ausgezeichnet, aber die Suppe stank nach Firniß, so daß viele sie nicht essen mochten. Ich gehörte leider zu denjenigen, die sie aufaßen. Die übriggebliebene Suppe, insgesamt zwei Eimer voll, wurde in den Pferdetrog gekippt. Zu der Zeit tauchte Hauptmann Slipenko im Areal des Holzeinschlags auf und natürlich beschwerte man sich bei ihm. Er ging in die Küche, in der sich bereits niemand mehr befand, mit Ausnahme der Pferdepfleger, die ihre Pferde mit Hafer versorgen wollten, der immer zusammen mit den Lebensmitteln für die hier lebenden Menschen gebracht wurde. Der Hauptmann bat darum, ihn die unglückselige Suppe einmal probieren zu lassen. Die Kochkessel waren leer, aber nach kurzer Überlegung stieß jemand die Pferdeschnauze beiseite, tauchte eine Schüssel in den Trog und reichte sie dem Hauptmann. Der hatte keine Ahnung, nahm den Löffel und begann zu essen Mit ernsten Mienen schauten wir auf den Mund des Hauptmanns. Der aß alles auf, wischte sich den Schnurrbart sauber und entschied: „Sie stinkt!“, und mit diesen Worten versprach er, es dem Schuldigen schon noch zu zeigen. Alle waren äußerst zufrieden, daß sie den Hauptmann mit diesem Spülwasser gefüttert hatten. Ich weiß nicht, was weiter geschah, aber jedenfalls wurde uns kein übelriechendes Mehl mehr geliefert. Und hier noch ein Fakt, welcher den Hauptmann von einer ganz anderen Seite charakterisiert. Es gab bei uns ein Männlein, das ganz und gar unauffällig arbeitete. Hier in der Lagerzone bemerkte man ihn oft zusammen mit einem alten Sabbatianer, der irgendwo innerhalb des Lagers tätig war. Entsprechend seinem Glauben arbeitete er samstags nicht, aber das war noch niemandem unangenehm aufgefallen und wurde als ganz normal aufgefaßt. Aber eines schönen Samstags weigerte sich ein neuer Lehrling des Alten zur Arbeit zu gehen. Das löste eine Sensation aus und wurde von allen mit großer Ablehnung aufgenommen. Slipenko gab unverzüglich den Befehl, den sich neu bekennenden Sabbatianer in den Karzer zu stecken – bei Wasser und Brot. Am Montag machte sich dieser wieder auf den Weg zur Arbeit, und der Vorfall war schon beinahe vergessen, als sich das Ganze am nachfolgenden Samstag wiederholte. Und sogleich entbrannte ein abscheulicher und unwürdiger Kampf der Prinzipien zwischen rechtlosen Gefangenen und den allmächtigen Machthabern im Lager. Den armen Sabbatianer zerrte man an den Armen zum Tor hinaus, band ihn an ein Pferd und brachte ihn in den Wald. Dort angekommen luden ihm die Aufseher einen Baumstamm auf die Schultern und wollten ihn zwingen diesen zu tragen. Als er das nicht schaffte, stellten sie ihr Opfer auf einen Ameisenhaufen, aber auch damit konnten sie nichts erreichen. In dieser Geschichte zeigte sich das gesamte Kontingent nicht gerade von seiner besten Seite. Wenn allesamt sogleich den Streik erklärt (es gab solche Stimmen, und meine war ebenfalls unter ihnen) oder unmißverständlich Protest angemeldet hätten, hätte man all das Geschehene gar nicht erst zulassen müssen, aber die Mehrheit , offen oder auch stillschweigend, standen auf Slipenkos Seite und wurden somit bis zu einem gewissen Maße Mitwirkende an dieser gemeinen Aktion.

Das Ganze endete damit, daß man den Armen, der sich zu seinem Glauben bekannt hatte, zum Arbeiten innerhalb der Lagerzone versetzte und alle das ganze Drumherum bald vergessen hatten. Mein neuer Freund Isbach war mit einer intensiven Aufklärungsarbeit beschäftigt. Abends organisierte er im Klub Lesungen – in erster Linie für die ganz besonders Rückständigen. Und von denen gab es nicht gerade wenige, besonders unter den Ukrainern (Banderow-Anhängern). Für sie las Isbach „Taras Bulba“. Allerdings hob er im Text immer wieder das Wort „Jidd“ hervor und schrieb mit dem Bleistift das Wort „Jude“ darüber, aber ich glaube, daß der verstorbene Gogol wegen dieser Korrektur nicht gekränkt gewesen wäre. Außerdem organisierte Aleksander Abramowitsch noch eine Laienspielgruppe. Eine kleine Gruppe kam zusammen, unter ihnen auch ich, welche einige „Konzerte“ vorbereitete, genauer gesagt – literarische Abende, auf denen Gedichte gelesen und kleinere Inszenierungen aufgeführt wurden, zumeist Erzählungen von Tschechow. Ich wirkte an diesen Aufführungen mit uns spielte dabei sowohl männliche, als auch weibliche Rollen. Unter anderem gab es bei uns noch ein weiteres Phänomen – „Hauptmann“ Michalenko. Er war ein noch junger Bursche (von etwa 30 Jahren), schien aufgrund seines Schnurrbarts aber älter zu sein. Er war plump, hysterisch und gab oft Anlaß zu Konflikten; er arbeitete unter aller Kritik, und manchmal, wenn sie ihn beleidigten und kränkten, weinte er heiße Tränen und stand dann in dem Ruf, ein Simulant und Psychopath zu sein. Inwieweit er Hauptmann war, ist nicht bekannt. Mehrfach wurde er von einer Brigade in eine andere versetzt, niemand mochte ihn, und schließlich verlegte man ihn zum Arbeiten in die Arbeitszone, wo er Birkenholz zu Klötzchen zersägte, mit denen der Gasgenerator in unserem Lager-Kraftwerk, sowie einige Holztransport-Fahrzeuge beheizt wurden. Einmal mußte ich mit ihm zu zweit diese Arbeit erledigen; im Großen und Ganzen kamen wir gut miteinander aus, und er erwies sich als gar nicht so schlechter, aufmerksamer Mann mit spitzer Zunge. Aber davon später; kehren wir jetzt erst einmal zu unserer Laiengruppe zurück.

Es mochte wohl kurz vor dem Oktoberfeiertag gewesen sein. Im Klub hatten sich jede Menge Menschen versammelt. Auch Hauptmann Slipenko war gekommen. Vor Beginn der Aufführung hielt der Lagerleiter noch eine Rede darüber, wie man das Plansoll erfüllt, er sprach über Produktionsbestarbeiter, die diesen Plan gewährleisteten, „ … wenngleich es natürlich auch allen möglichen Abschaum gäbe, wie beispielsweise den „Hauptmann“ (das sagte er äußerst sarkastisch) Michaltschenko. Daraufhin murmelte Michaltschenko, der zu jener Zeit das Plansoll um 150% erfüllte, aus einer der hinteren Reihen, aber so, daß man es im ganzen Saal hören konnte: „Gar kein Abschaum, sondern Bestarbeiter. Und dazu noch ein echter Hauptmann mit vier Sternen, nicht nur mit drei …“ – Ich glaubte, nun würde ein Sturm losbrechen, aber der Dreisterne-Hauptmann zeigte sich weise und reagierte überhaupt nicht, und das „Konzert“ nahm seinen Gang. Hier empfand ich zum ersten Mal jene Gefühle, jenen Auftrieb, den ein Schauspieler bei einer wohlwollenden Reaktion der Zuschauerschaft erfährt, und wir spielten, von Fesseln befreit, improvisierend, viel besser, als bei den Proben. Ich erwähnte sogleich den „Hauptmann“ Michaltschenko und versprach zu erzählen, wie es dazu gekommen war, daß ich mit ihm arbeiten mußte. Und das war so. Ich hatte mir irgendwie ziemlich heftig ins Bein gehackt. Das war noch im Herbst oder zu Beginn des Winters gewesen, denn ich erinnere mich noch, daß ich Schnürschuhe trug. Eine Zeit lang war ich von der Arbeit freigestellt und hielt mich viel in der Bibliothek bei Isbach auf; dann wurde ich wieder gesund geschrieben, aber da das viele Kilometer lange Gehen mit einem Verband ums Bein nicht möglich war, schickte man mich in eine Brigade, die in der Arbeitszone tätig war, die unmittelbar an die Wohnzone angrenzte und nur durch eine kleine Pforte von ihr getrennt war, welche vom Wachhäuschen aus geöffnet werden konnte. In der neuen Brigade setzte man mich für die Beschaffung von Holzgassklötzchen (Anlasser für Fahrzeugmotoren; Anm. d. Übers.). In dieser Gruppe watren wir drei Mann: ich, Hauptmann Michaltschenko und ein gewisser Jusuf – ein Usbeke oder Afghane.

Der Stapel mit dem Birkenholz befand sich in einer Ecke der Zone, direkt unter dem Wachturm, und wie waren in unserer Arbeit vollkommen selbständig. Die Birkenstämme wurden mittels einer Quersäge in Stücke von etwa 5 cm Stärke zersägt; anschließend wurden die Rundhölzer mit einer Axt in Würfelchen zerteilt und in einer tragbaren Kiste aufgestapelt. Die vollen Kisten wurden im Trockenraum abgegeben. Nach dem Trocknen war das Holz bereits als Heizmaterial für den Generator geeignet. Bei den einzelnen Arbeitsgängen wechselten wir uns ab; die Arbeit ging gut voran, und das Pensum war auch einigermaßen gut zu schaffen. Der Hauptmann hatte entweder ständig etwas zu knurren oder gab sich, ganz im Gegenteil, philosophischen Überlegungen hin. Er war streitsüchtig und jähzornig, geriet häufig mit Jusuf aneinander, aber ich brachte eine gewisse Ruhe in dieses kleine Kollektiv, und wir arbeiteten recht friedlich weiter. Der Usbeke betete vier- bis fünfmal am Tag, aber wir lernten diese Arbeitsunterbrechungen, die früher den Anlaß zu Streitereien gegeben hatten, zu respektieren, und unsere Beziehungen wurden ganz freundlich und freundschaftlich. Der Hauptmann stammte aus einem kleinen Städtchen im Gebiet Tschita, aus Petrowsk-Sabajkalskij. Dort wohnte seine greise Mutter, die ihm gelegentlich Päckchen schickte, die sich auffallend von den schwergewichtigen Paketsendungen aus der Ukraine oder dem Baltikum unterschieden. Der Hauptmann teilte mit mir diese Krümelchen, und diese Brösel lösten bei mir immer ein Kribbeln in der Nase und schwere Gedanken über meine Mutter und die freudlose Einsamkeit ihres Lebensabends aus. Der Hauptmann schwatzte unaufhörlich. Sein Gerede war schrecklich: er stotterte zwar nicht, aber dennoch wurde sein Redefluß gelegentlich von einer Pause unterbrochen, und es schien, als ob der Hauptmann nur mit Mühe eine Fortsetzung seiner Sätze hervorbringen konnte. In seinem „Redetalent“ kam er oft auf, für die damalige Zeit, ziemlich heikle Themen zu sprechen und kritisierte in hinreichend bissiger und scharfsinniger Weise sowohl die betreffende Person, als auch die herrschende Ordnung. Gelegentlich mahnte ich ihn mit Hilfe einer Geste oder eines Blicks zur Vorsicht, denn alles, was dort gesagt wurde, konnte der Wachmann hören, aber es half meist nur wenig. Einmal, als er mweine Andeutung aufgegriffen hatte, drehte er sich sogar zum Wachmann um und platzte heraus: „Ist es nicht so, Pope?“ – Der Wachmann gab einen grunzenden laut von sich und begab sich auf seinen Turm.

In diesem Zeitraum trug sich mit unserer Obrigkeit noch etwas Witziges zu. Unser Lagerleiter Slipenko hatte einen „Stellvertreter“ – den riesigen Major. Er tauchte oft in der Zone auf, aber irgendwie bemerkte man ihn nie. Voller Energie und mit lauter Stimme füllte Slipenko alle Sphären des Lagerlebens hinreichend aus, und der unbedeutende Major ging vor dem Hintergrund dieser schillernden Figur kläglich unter. Ob es gerade deswegen oder aus ganz anderen Gründen war – jedenfalls herrschte Feindseligkeit zwischen ihnen, die allerdings bis zu einem gewissen Zeitpunkt nicht nach außen drang. Aber da ereignete sich ein neuerlicher organisatorischer „Umbau“, wie er bei uns so populär war, beginnend mit der Zeit des Krylow-Quartetts und bis hin zu unseren Tagen. Die Bereiche des Alltags und der Produktion wurden voneinander getrennt. Dem Produktionsbereich stand Slipenko voran, der Lagerbereich blieb unter der Leitung des Majors. Der Besitz wurde geteilt. Wenn die Wohnzone vollständig in den Einzugsbereich des Majors überging, dann wurde die Arbeitszone zwischen Lager und Produktion aufgeteilt. So ging en das gesamte Werkzeug und alle Ausrüstungsgegenstände für Reparaturen usw. an Slipenko über, ebenso das Ktraftwerk und eine Reihe anderer Objekte. Allerdings blieb bei der Bestandsaufnahme der Besitztümer irgendetwas unberücksichtigt, und genau das war es, was auch die Feindschaft untereinander auslöste: der zersägte Brennholz-Vorrat und die kleingehackten Gasanzünder gehörten offenbar niemandem, und der Major hielt die Hand darauf, so daß er damit dem Kraftwerk das Brennmaterial vorenthielt. Slipenko hingegen bemerkte einen herrenlosen Brunnen, trug ihn bei sich mit ein und brachte sogar ein Schloß an, wodurch das gesamte Lager kein Wasser bekam. Der Major befahl das Schloß zu zertrümmern und verschloß im Gegenzug das Vorratslager mit den getrockneten Holzklötzchen. Und auch der Hauptmann versah den Brunnen erneut mit einem Schloß. Infolgedessen versank das gesamte Lager in Dunkelheit, und auch in der Küche gingen die Lichter aus. Verständlich, daß schließlich der Major niemanden mehr zur Arbeit gehen ließ. Und ebenso klar ist auch, daß ein derart außerordentlicher Vorfall von der obersten Leitung nicht unbemerkt blieb. Offensichtlich bekamen beide ihren Teil weg, und letztendlich kam es zu einem Frieden auf noch etwas wackeligen Füßen, der immer wieder durch das Aufflackern gegenseitiger Vorwürfe erschüttert wurde, zu denen übrigens auch die Geschichte mit den Nudeln gehörte.


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