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P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 74. Die Holzstraßenbauer

Die Straße, die Straße führt uns in die Ferne,
Bis zum Glück haben wir es vielleicht nicht mehr weit,
Vielleicht gibt es eine Wende …“

Mit der Erschließung der weit abgelegenen Parzellen wuchs auch das Netz der Fahrstraßen für Automobile. Wenn auch im Winter auf den Winterwegen gefahren wurde, so mußte man im Sommer neue bauen und auch die vorhandenen hölzernen Bretterbeläge reparieren, die ich bereits hinreichend beschrieben habe. Mit diesem Ziel wurde dann auch eine Straßenbau-Brigade aus Häftlingen mit niedrigen Haftstrafen formiert. Auch ich war unter ihnen. Die Brigade arbeitete unter der Begleitung von Wachleuten, und es kam nicht selten vor, daß wir tief in den Wald vordringen mußten, um Bäume für Schwellen abzuholzen – ein Gebiet, das häufig auch in der verbotenen Zone lag, die nicht immer dementsprechend verschoben wurde,  weil wir uns einfach viel zu selten für längere Zeit an ein und demselben Ort aufhielten. Aber bevor ich zur Beschreibung meiner Kameraden und ihrer unterschiedlichen Abenteuer übergehe, will ich zuerst noch eine witzige Episode erzählen. Einmal, kurz nach Stalins Tod, kam ein Neuer zu uns. Das war zu der damaligen Zeit ein ziemlich seltenes Ereignis. Der Neue erwies sich als schon betagter, recht aufgeweckter Jude aus Moskau. Er trug noch einen wunderbaren Zivilanzug. Nachdem er erfahren hatte, wo hin er geraten war und mit wem er hier zusammen die Zeit absitzen mußte, brach er in Panik aus: Wie! Um ihn herum nichts als Volksfeinde, wo er doch ein aufrichtiger Sowjetmensch ist und nur durch ein Mißverständnis hierher geraten ist ...! Er war Fotograf im Kreml gewesen, für würdig befunden, die dortigen Führer zu fotografieren, u.a. auch „uhn höchstpersönlich“.  Mit Berija war er schon fast per „du“ und beim Händchenhalten usw.  Etwas größere Hitzköpfe waren schon bereit, dem Hof-Fotografen etwas vor die Füße zu werfen, aber die Mehrheit lachte lediglich über seine Tiraden. Schließlich begann er sich einzugewöhnen und sah selbst, daß die „Volksfeinde“ ein wohlwollendes und ordentliches Völkchen waren, und er begann, wenn auch nicht jeden, um Rat zu fragen, wie wohle die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit korrigiert werden könne. Schließlich verfaßte er eine tränenreiche Bittschrift, aber da kam das Problem auf, wie er Berija wohl am besten anreden sollte. Bürger Minister – das klang zu trocken, Genosse Nerija – entsprach nicht der Vorschrift, Lawrentij Pawlowitsch, - das war viel zu familiär. … Trotzdem schickte er irgendwann endlich seinen Brief ab. Aber er hatte noch keine Antwort erhalten, als auch schon das Unwetter vom freundlichen Himmel über ihn hereinbrach: Berija wurde zum Volksfeind erklärt. Der Arme Fotograf stand unter Schock. Und da wurde noch mehr Öl ins Feuer gegossen: „Ja-a“, meinte irgendeiner und schaute dabei mit gerunzelten Augenbrauen auf den Boden, - „das war’s dann wohl!“ – „Was war’s dann wohl?“ – rief der Jude. „Alles – großer Mist! Erschießung! Du wirst noch sehen, was du davon hast, wenn du dich an Lawrentij Pawlowitsch hältst und mit ihm „per du“ bist.....!“ Der Fotograf wurde kreidebleich, faßte sich ans Herz, und beruhigte sich erst wieder, als Isbach dem Landsmann zuflüsterte, dass sie anderen sich über ihn nur lustig machten.

Und nun zur Brigade. Sie war klein – bestand lediglich aus 12-13 Mann. Geführt wurde sie von einem gewissen Nikolajew, der von der Wolga kam – aus Gorkij oder Kujbyschew. Er war etwas über vierzig, hochewachsen, mit hervorstehenden knochen und ein wenig gebeugt. Seine Hände steckten fast immer in den Jackentaschen oder waren auf dem Rücken zusammengelegt, und seine langen Beine schleiften, als wären sie übermüdet, stets über den Boden. Er bewegte sich langsam vorwärts, aber mit großen Schritten. Auch sein Gesicht sah irgendwie müde und schwerfällig aus. Die Augen blickten schläfrig umher. Er sprach nur wenig. Als Brigadeführer fiel er kaum auf. Wir kannten und verstanden unsere Arbeit und die Leitung verlangte keine Besonderheiten von uns. Der Brigadeleiter selbst nahm nur selten ein Werkzeug in die Hand; er döste viel mehr ein wenig abseits vor sich hin oder diskutierte mit den Begleitsoldaten. Insgesamt hatten wir zwei davon, und sie waren auch ständig anwesend – noch junge Kerle. Sie hatten sich an uns gewöhnt und kannten viele mit ihrem Nachnamen. Mitunter, wenn wir auf ein wildes Erdbeerfeld stießen, dann krochen sie mit uns zusammen über den Boden, um die Früchte zu pflücken. Nikolajew war ein wenig den Kriminellen zugetan, was sich in seinen Manieren und seinem Jargon äußerte. Die übrigen Brigademitglieder verhielten sich unauffällig, und ich kann mich kaum an einen von ihnen erinnern, weder an seinen Nachnamen, noch an sein Gesicht. Viele hatten den § 58-10, d.h. „meine Zunge (oder die meines Freundes) ist mein Feind“.  Vor diesem trüben Hintergrund war „Batjuschka“ eine helle Gestalt - der jugendliche Pope, Vater Nikolaj Jaworskij. Er stammte von irgendwoher aus dem Westen, sprach jedoch ein tadelloses Russisch. Er trug lange Haare und ein Bärtchen.  Ob dies nach den agerregeln so vorgesehen war oder ob es sich dabei um eine liberale Geste Hauptmann Slipenkos handelte, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls hatte er Verstand, war spitzfindig, war nicht abgeneigt zu lästern und zu intrigieren, aber vom Aussehen her machte er einen gutmütigen und gottesfürchtigen Eindruck. In der Brigade mochte man ihn nicht, aber gegenüber seinem würdigen Rang hatte man Respekt, und alle rühmten den Batjuschka, sogar die Wachen. Nur ein intelligentes Jüdlein aus Moskau nannte ihn ausschließlich bei seinem Vor- und Vatersnamen: Nikolaj Aleksandrowitsch, entweder um seinen Atheismus zu unterstreichen, oder aus Nichtachtung vor der Person des Popen. Brigadier Nikolajew schätzte das Väterchen mehr als alle anderen. Wie ich bereits sagte, griff der Brigadeleiter nie in den Arbeitsprozeß ein; höchstens, wenn es eine eilig zu erledigende Arbeit gab und man möglichst schnell ein Fahrzeug durchlassen mußte, wurde Nikolajew lenhaft, lief geschäftig hin und her und trieb die Leute an: „Nun macht schon, macht schon, verfluchte Hunde! Batjuschka!“ – hob er hervor, wobei er den besonderen Status Vater Jaworskijs betonen wollte, und den Tatbestand, dass man ihn nicht zur Kategorie der verfluchten Hunde zählte. Einmal übrigens änderte er diese Regel. Es war ein freundlicher Tag, bei der Arbeit gab es keinen Streß. Wir trödelten alle gelassen herum, und Nikolajew, der auf einem Baumstumpf saß, war eingenickt. In der Nähe sägte Batjuschka, aus unbekanntem Grund, an einer kleinen Tanne. Das Tännchen fiel um und peitschte mit seinen Ästen am Gesicht des Brigadiers vorbei. Der sprang schlaftrunken, aber wie von einer Tarantel gestochen, auf: „ Batjuschka, verfluchter Hund...!“ schrie er. Alle brachen in Lachen aus, angefangen von den Begleitsoldaten, bis hin zu dem Schuldigen des ganzen Vorfalls, der, um nicht seine Würde zu verlieren, leicht zitternd hinter seinen vorgehaltenen Händen kicherte. Manchmal gab es auch überhaupt keine Arbeit, und wir lagen dann in der Sonne oder gingen Beeren sammeln. Einmal erfuhren wir, dass Mohrrüben ins Vorratslager gebracht worden waren, und die Brigade arbeitete bei der Sortierung. Wie Batjuschka es ihn gelehrt hatte, besprach sich Nikolajew in zuckersüßer Weise mit dem Wachsoldaten. Wir näherten uns den Mohrrübensortierern, stürzten uns mit der vereinbarten Taktik auf die Gemüsehaufen und begannen die Mohrrüben einzusammeln. Der Lagerleiter begann zu brüllen, die Wachsoldaten ebenfalls, aber in all diesem Lärm ergatterten wir dennoch eine ganz schöne Menge Rüben, und nachdem wir auf unsere Straße zurückgekehrt waren, kauten und knabberten wir noch bis zum Abend, wobei wir den Soldaten einen gebührenden Anteil abgaben. Bald darauf geschah etwas, was erneut alle aufwühlte und neue Hoffnungen weckte. Es gab eine vorgeuogene Freilassung vieler sogenannter „Schwätzer“. Freigelassen wurde auch unser Jüdlein. Und obwohl es nicht viele gab, die den § 58-10 hatten, fühlten doch alle, dass die Zeit reif für Veränderungen war. Ich hatte nur noch ein Jahr meiner Haftstrafe nach, und ich hatte nur eine Sorge: wie sollte ich noch einen weiteren Winter überstehen, der bereits unmittelbar vor der Tür stand. Aber nichts kam so, wie ich es vermutet hatte. 


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