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P. Sokolow. Schlaglöcher

Teil VIII. “KamyschLag”

Kapitel 75. Notizen aus der Totenstadt

„Steppe, nichts als Steppe ringsumher,
Wir haben einen weiten Weg vor uns ...“

Unerwartet, wie immer, begannen sie mit der Formierung einer Etappe; es gelang mir noch nicht einmal, mich vernünftig von meiner Brigade und den anderen Freunden zu verabschieden, als ich mich auch schon wieder auf einer der Pritschen in einem beheizbaren Eisenbahnwaggon befand. Diesmal war es weder eine warme, noch eine kalte Fahrt, und auch die Stimmung war besser: irgendwie trugen die Leute ein Gefühl der Überzeugung und der eigenen Menschenwürde in sich.

Wir fuhren gen Westen, und schon bald lag auch Tajschet hinter uns. Es wurde klar, dass wir die Republik „Oserlag“ verließen. Wir fuhren ziemlich schnell, und nach ein paar Tagen wurden wir irgendwo inmitten der grenzenlosen Steppe ausgeladen. Eine recht große Kolonne bewegte sich zufuß zum angegeben Ziel, und es dauerte gar nicht lange, als wir uns auch schon hinter dem Stacheldrahtzaun des nächsten Lagers befanden. Hier erfuhren wir, dass wir in die Nähe von Omsk geraten waren, ebenfalls in ein Lager für politische Gefangene, allerdings mit der Bezeichnung „KamyschLag“. Ich kann mich nicht mehr an die Nummer des Lagerpunktes erinnern, es mag der zweite oder vierte gewesen sein. Auch hier standen eine Reihe von Baracken; sie waren von leichterer Bauart, mit ungewöhnlich flachen Dächern. Später begriff ich den Sinn einer solchen Konstruktion. Man teilte uns in Brigaden auf. Hier arbeiteten praktisch alle, und es gab im Lager etwa 1500-2000 Insassen, am Bau. Zu jener Zeit wurden hier eine Menge großer Objekte gebaut, darunter auch ein Kraftwerk, dessen Inbetriebnahme den Grundstein für die Elektrifizierung der transsibirischen Eisenbahnlinie bildete. Ich kam zu einem gewissen Goworuch in die Brigade, dem ehemaligen Vorsitzenden einer Kolchose in der Ukraine. Er wurde seinem Namen gerecht, war hektisch, verstand es nicht, irgendeine Arbeit ordentlich zu organisieren, und die Brigade respektierte ihn nicht. Wir waren beim Bau einer ganzen Siedlung aus Fertigbau-Häuschen mit zwei oder vier Wohnungen, aber auch mit nicht bewohnbaren Objekten, beschäftigt.

Die Brigade war recht groß und komplex. Es gab darin sowohl Zimmerleute und Verputzer, als auch Maurer. Die am meisten defizitäre Berufsgruppe war die der Ofensetzer. Ich hatte, wie ich bereits sagte, eine gewisse Erfahrung in diesem Geschäft und wurde also zum Ofensetzer ernannt. Auf diese Weise wurden vier Mann gewählt: ich, zwei Litauer – Mizkus und Matikjunas -, sowie der alte Baptist Karpenko. Jeder bekam einen Gehilfen zur Seite gestellt. Auch ein Tschuktsche kam in die Brigade. Er sprach überhaupt kein Russisch und war ganz und gar ein Kind der Natur; kein Mensch weiß, was ihn ins Lager verschlagen hatte, und dann noch aufgrund des § 58. Im Lager werden gerne Legenden in Umlauf gebracht. Ich weiß nicht aus welcher Quelle es kam, aber jedenfalls ging das Gerücht um, dass der Tschuktschenstamm beschlossen hätte, nach Alaska zu ziehen. Die Grenzsoldaten hätten versucht, ihnen den Weg zu versperren, in dem sie ein Feuergefecht begannen. Natürlich hätte es Opfer gegeben, und die Tschuktschen wären schließlich nach §58-8 (Terror) zur Verbüßung einer Haftstrafe verurteilt worden. Unser Tschuktsche namens Rulkynteu hatte 10 Jahre aufgebrummt bekommen. Der arme Kerl konnte weder die Sprache, noch hatte er einen Beruf erlernt; keiner wollte mit ihm arbeiten, und weil ich Mitleid mit ihm hatte, holte ich ihn schließlich als Gehilfen zu mir. Aber wie sollte ich ihm erklären, was er zu tun hatte? „Ich brauche Steine“, versuchte ich ihm klarzumachen. „St-ei-ne“, wiederholte der Tschuktsche, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Da nahm ich ihn beim Ärmel, nahm einen Ziegelstein auf und trug ihn an meinen Arbeitsplatz. Der Tschuktsche begriff und fing an, die Steine heranzuschleppen. Meine Arbeit mußte unter der Decke verrichtet werden - ich stand auf einem Baugerüst und mauerte das Sims. Als ich ein verdächtiges Knacken hörte, unterbrach ich meine Tätigkeit, sah mich um und erstarrte: „Der Tschuktsche hatte etwa 200 Steine um mich herum abgelegt, das Gerüst knirschte, und er schleppte immer noch mehr Steine heran. „Halt!“, schrie ich. Danach zeigte ich ihm, wo er Lehm herholen sollte  (die Mischung wurde zentral in einem Betonmischer hergestellt), und bald darauf hatte ich aus dem Tschuktschen einen mustergültigen Gehilfen gemacht. Er war körperlich stark, willig, und man mußte seine Handlungen nur richtig dirigieren, um seinen Übereifer ein wenig im Zaum zu halten.

Wir Ofensetzer erfüllten unsere Norm, aber die anderen Berufsgruppen, insbesondere die Verputzer, machten uns unsere ganze Produktivität zunichte, und infolgedessen erhielten wir alle nur einen Hungerlohn. Der Tschuktsche kannte sich natürlich in buchhalterischen Dingen nicht aus, er konnte noch nicht einmal die einzelnen Geldstücke voneinander unterscheiden. Schließlich wurde er mit einem unserer Zimmerleute mitgeschickt, einem schon betagten, soliden Mann. Der ging mit ihm zum Lagerladen und kaufte ihm Piroggen oder auch etwas anderes, aber vor allen Dingen Tabak, denn er rauchte pausenlos an einem kleinen Pfeifchen. Als das Geld zuende war, konnte der Tschuktsche das überhaupt nicht begreifen; er zerrte seinen Patron auch weiter hin zum Lagerkiosk und wies dabei immer wieder auf seine kleine Pfeife.

Der Winter brach herein, aber nicht so, wie es im östlichen Sibirien der Fall gewesen war. Es gab nur wenig Schnee, und er wurde durch den ständigen Wind davongeweht, und die kahle Steppe war durch den Frost von zahlreichen Spalten und Rissen übersät. Hier herrschte kein ganz so grimmiger Frost, minus 30-35 Grad, der jedoch aufgrund des Windes unerträglich schien. Jetzt verstand ich auch den Sinn der flachen Dächer: sie sollten der Windlast widerstehen, und der Schnee hielt sich auf ihnen sowieso nicht. Abends gesellte sich ein anderer Tschuktsche zu unserem, der in einer anderen Brigade arbeitete. Nachdem die beiden ein wenig in der Baracke beisammen gesessen hatten, begaben sie sich nach draußen, setzten sich mit gekreuzten Beinen in den Schnee, nahmen ihre Mützen ab und saßen so stundenlang pfeiferauchend in der Hundekälte. Ich versuchte zu erfahren, weshalb sie nicht in der Baracke saßen, und aus ihren Erklärungen verstand ich, dass es ihnen innerhalb des Raumes „zu viel heiß“ war. Unsere Brigade war wahrhaftig international. Außer dem Tschuktschen und den Litauern gab es noch Ukrainer und Letten, natürlich auch Russen, Kaukasier und Moldawier, im allgemeinen waren von jeder dieser Kreaturen zwei vorhanden. Aber wir lebten einträchtig miteinander, und es gab keinerlei nationale Probleme. Mein Bettstellen-Nachbar, Matikjunas, hatte einen ähnlichen Charakter wie „Hauptmann“ Michaltschenko, er war konfliktbereit, ließ seine Aggressivität aber hauptsächlich an seinem Landsmann Mizkus aus. Mit mir lebte er friedlich zusammen, und mitunter setzten wir auch gemeinsam einen Ofen.

Wir hatten etwa das gleiche Arbeitstempo und die gleiche Arbeitsweise. d.h. wir waren recht schlampig. Der fromme Karpenko war ein Meister der höchsten Klasse, aber er arbeitete langsam. Das beschwor ab und an Konflikte herauf. Allerdings kam man danach mit dem Vorarbeiter überein, Karpenko vorübergehend als Lehrmeister einzusetzen, so dass das Problem mit der erbrachten Arbeitsleistung entfiel. Einmal kame Karpenko, der in einer der Nachbarwohnung arbeitete, zu mir und beklagte sich über die Pfuscharbeit. Er geriet unter meine „heiße Hand“ und ich schickte ihn verbal zum Teufel. Nachdem Karpenko fortgegangen war und ich mich wieder beruhigt hatte, begann der Wurm der Reue an mir zu nagen, wegen der Grobheiten, die ich diesem harmlosen Mann ins Gesicht geschleudert hatte. Nach einem gewissen inneren Kampf mit mir selbst stieg ich vom Gerüst und ging los, um mich zu entschuldigen. Aber ich hatte noch nicht einmal meinen Mund geöffnet, als Karpenko sich vor mir verbeugte und mich um Verzeihung bat. „Weswegen?“ – wunderte ich mich, „ich muß mich vielmehr bei Ihnen entschuldigen“. – „Wieso denn?“ – erwiderte er, „dafür, dass ich dich zum Sündigen verführt habe“.  Ich war von dieser Argumentation gerührt, wir umarmten uns und schlossen Frieden.

Ich schlief unweit von Karpenko und beobachtete, wie sich abends die Baptisten versammelten und sich über Dinge unterhielten, die zu ihrem Seelenheil beitragen sollten. Den Ton gab dabei ein junger, knochiger Bursche mit Namen Plotskij, der früher bei ihnen Experte für die Interpretation und Kommentierung der Heiligen Schrift gewesen war. Im Großen und Ganzen war das Leben erträglich, aber trotzdem war die ganze Lage irgendwie deprimierend. Im „Oserlag“ hatten die Lagerpunkte isoliert voneinander gestanden, ringsherum die Natur; aber hier waren wir sogleich zwischen etlichen Reihen Stacheldraht eingeklemmt, sobald wir aus der Tür traten. Hier standen die Lagerpunkte zu Dutzenden ganz dicht beieinander. Manchmal stellte ich mir in meinen Gedanken vor, wie es wohl wäre, wenn sie einen Film über alles drehen würden, was ich gesehen und erlebt hatte und worüber ich nun schreibe. Ich würde diesen Film mit einem Panorama dieser endlosen Zäune beginnen, oben mit Stacheldraht und mit Wachtürmen an den Ecken. Das war schon kein „Totenhaus“ mehr, das war schon eine ganze „Totenstadt“. Wenn  wir dann endlich aus dem Zaunlabyrinth herausgelangt waren, befanden wir uns sogleich in der kahlen, furchtbar trostlosen Steppe, wo der Wind mit pfeifendem Geräusch den mit Schnee vermischten Sand über den Boden fortblies und die vertrockneten Wermutbüsche hin- und her pendelten.
 
Die Lagerleitung kannten wir nicht; wir sahen sie höchstens beim Zählappell. Sie hatte mit der Produktion nichts zu tun, sondern lieh nur die Arbeitskrääfte an sie aus; an den einzelnen Bauobjeten hatten wir lediglich Kontakt zu den Vorarbeitern der Zehnerbrigaden, die von der Bauorganisation kamen.

Hier gab es auch noch eine weitere Neuheit, eine Folge der Liberalisierung des Haftregimes. Manch einer durfte hier ohne Wachbegleitung herumlaufen, für den dies früher als § 58-Verurteilter nicht möglich gewesen war. Unter ihnen befand sich auch mein Bekannter aus dem Wjatlag – Stukkert, dem ich hier also wiederbegegnete, allerdings ohne große Begeisterung darüber. Es wurde sogar verkündet, dass diejenigen mit geringer Haftstrafe, in erster Linie Chauffeure und ein paar andere Spezialisten, sich an die 2. Abteilung wenden sollten, damit man auch bei ihnen die Wachbegleitung abschaffte. Auch ich ging dorthin, erhielt jedoch eine Absage, und diesmal deswegen, weil ich nur noch eine ganz geringe Haftstrafe abzusitzen hatte:  bis mein Antrag durch alle Instanzen gegangen wäre, hätte sich meine Haftzeit sowieso schon erledigt.

Leuchtende Ereignisse gab es hier nicht. Aber ich erinnere mich an eine Episode, als die Lagerobrigkeit sich mal wieder zankte. Leiter der Sanitätsabteilung war ein jüdischer Oberleutnant, der Sacharow, oder so ähnlich, hieß. Eigentlich legte er keine besonderen Verhaltensweisen an den Tag, außer dass er ununterbrochen Flüche hervorsprudelte. Einmal entdeckte der Lagerleiter, als er seinen morgendlichen Rundgang machte, viele, die von der Arbeit freigestellt worden waren, , was natürlich für das Lager von Nachteil war, das seine Zahlungen aus dem Produktionsbereich danach erhielt, wieviele Arbeitskräfte zur Arbeit ausgeschickt worden waren. Wir waren bereits auf dem Weg zum Tor, als der Leiter der Sanitätsabteilung buchstäblich aus dem Durchgangszimmer stürmte und, über das ganze Lager fluchend, ins Kontor rannte. Das Ende der Szene bekam ich schon nicht mehr mit, aber als ich von der Arbeit zurückkehrte, bemerkte ich eine gewisse ungewöhnliche Bewegung – alle liefen irgendwo hin. Es stellte sich heraus, dass der Sanitätsleiter selber Sprechstunde abhielt und alle, ohne Ausnahme, von der Arbeit freigestellt hatte.

Ich hielt es auch nicht mehr aus, aber mehr aus Neugier. Als ich zur Sanitätsabteilung eilte, stand dort eine kleine Schlange, die jedoch schnell dahinschmolz; als ich an die Reihe kam, war es schon zu spät, sich noch eine geeignete Krankheit auszudenken. „Nachname!“ – brüllte der Leiter. „Ja, aber ich..., also ...“, begann ich meine Beschwerden zu begründen. „Nachname, Brigade, f.... deine Mutter!“, schrie der Leiter erneut. „Freigestellt. Der nächste!“

Am Morgen ging das halbe Lager nicht zur Arbeit, und seitdem versuchte niemand mehr, die Autorität der Medizin in Abrede zu stellen.


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