Nachrichten
Unsere Seite
FAQ
Opferliste
Verbannung
Dokumente
Unsere Arbeit
Suche
English  Ðóññêèé

P. Sokolow. Schlaglöcher

Kapitel 76. Mit einem Häftlingstransport in die Freiheit

„Als ich über die Schwelle des Gefängnisses trat
und in die Freiheit hinüberschritt,
Da habe ich über mein Gefängnis geseufzt“.
(W.A. Schukowskij. „Der Gefangene von Chillon“)

So verging auch dieser Winter. Zum Sommer hin wurde unsere gesamte Brigade in eine andere Lageraußenstelle verlegt. Das ging ganz einfach: sie brachten uns aus einem Tor hinaus und lieferten uns beim nächsten wieder ab, das sich nur ungefähr 200 Meter entfernt befand. Anfangs arbeiteten wir im Holzverarbeitungskombinat. Hier war es interessant. Vom Weg aus hatte man eine viel breitere Übersicht über die Gegend, der Blick auf die Stadt eröffnete sich dem Betrachter, man sah neue Gebäude, die unter Hochwasser stehende Niederung des Irtysch mit dem in ihn mündenden Fluß Om. Das Holzkombinat war ziemlich groß und mit Technik nicht schlecht ausgerüstet. Hier wurde Holz nicht nur gesägt, sondern es gab auch eine hervorragende Tischler-Werkstatt, in der Rahmen, Türen und andere Einbau-Konstruktionen gefertigt wurden. Ich war zusammen mit einem weiteren Burschen einer kleineren Werkstatt zugeteilt worden, in der zwei Sägevorrichtungen standen. Eine davon zersägte Rundhölzer zu Lafetten, während die andere die zugeschobenen Lafetten zu Brettern weiterverarbeitete. Unsere Aufgabe bestand darin, die entstandenen Bretter aufzustapeln und gelegentlich auch auf Fahrzeuge zu verladen. Die Sägen waren schon alt und recht unproduktiv. In der Werkstatt war auch eine Brigade von Litauern tätig. Sie brachten es fertig, mit dieser vorsintflutlichen Arbeitsmaschine einen recht guten Produktionsausstoß zu erreichen, und die Werksleitung zweifelte am Anfang an der Rechtmäßigkeit der bestehenden Arbeitsnorm. Eines Morgens trafen wir im Kontor ein Onkelchen mit Papieren an. Wie sich herausstellte, handelte es sich um den Zeitabnehmer, welcher den gesamten Arbeitsprozeß der Brigade kontrollieren sollte. Der Brigadeführer schrie irgendetwas auf Litauisch und die Arbeit nahm mit großer Schnelligkeit ihren Lauf. Die Litauer rannten, schwitzend und schreiend, als währen sie von Sinnen, in der Werkstatt hin und her, die Sägen liefen ohne Unterbrechung, und am Ende des Tages wurde deutlich, dass sie bei dem Tempo nicht in die vorgegebene Norm hineinpaßten. Die Norm blieb unverändert, aber die Litauer, nun schon lachend, behielten auch weiterhin ihre 120%ige Normerfüllung bei.

In diesem Lager traf ich meinen altenBekannten Iwan Iwanowitsch Rjabtschunenko. Er arbeitete als Tischler und verdiente gut. Die Tischlerbrigade wohnte in einer anderen Baracke, in einer kleinen Sektion, und ich ging abends oft zu Iwan Iwanowitsch hinüber, um ein wenig mit ihm zu plaudern.

Die Tischler begaben sich fast nie in die Kantine und hatten immer viel Brot bei sich, so dass nicht nur ich mich bei ihnen richtig satt aß, sondern auch noch meinen Brigade-Kameraden etwas davon mitbringen konnte. Viele gingen nicht in die Kantine, und diejenigen, denen ihre Mahlzeit nicht reichte, konnten dann dort Suppe und Brei bekommen – so viel sie wollten. Im Großen und Ganzen war das Problem des ewig hungrigen Magens abgeschafft. Geld bekam man nun schon auf die Hand, und der Lagerkiosk war täglich geöffnet. Es gab auch eine gute Bibliothek, die mein Bekannter und Kampfgefährte aus der Laienspielgruppe, Dukmanis, leitete, ein Rußland-Lette oder Lettland-Russe, ich weiß nicht, wie ich es besser sagen soll.

Einmal, als ich Bücher umtauschte, betrat ein Chinese, ein ehemaliger Journalist, die Bibliothek. Er trug eine Brille, sah würdevoll aus und machte ein ganz furchtloses Gesicht. „Seien Sie doch so liebenswürdig“ – begann er, während er mit äußerster Sorgfalt die russischen Worte wählte und aussprach, - „Haben Sie hier keine Werke von Mister Mao Tse-Tung?“ – In den Augen des Bibliothekars leuchteten fröhliche Funken. „Leider nein“, antwortete er dem Gesprächspartner mit gesenktem Tonfall. „Aber wir haben hier Werke von Mister Stalin“. – „Vielen Dank, nicht nötig“, meinte der Chinese und entfernte sich aufrecht und furchtlos – wie Buddha.

Mit dem Beginn des Wohlgenährtseins tauchten auch Probleme auf, die uns bis dahin nicht bekannt gewesen waren. Plötzlich keimten nämlich nationale Streitigkeiten auf. Ihre Initiatoren waren die West-Ukrainer. Irgendwo begannen sie Konflikte und sogar Zusammenstöße heraufzubeschwören. Auch bei uns in der Brigade kamen die Chochols (wörtl. „Haarschöpfe“; russischer Spottname für die Ukrainer; Anm. d. Übers.) in Bewegung. Ich mußte sie zur Vernunft ermahnen, sie davon überzeugen, dass diese Konflikte allenfalls der Lagerleitung gelegen kämen, die sich, wie dies schon mehrfach der Fall gewesen war, vor Solidaritätsbekundungen fürchtete und die daher bestrebt war, unter den Häftlingen eine Spaltung zu bewirken. Ich weiß nicht, ob meine Agitation Wirkung zeigte oder ob es der Tatbestand war, dass ihre antisowjetischen Schritte bei den Litauern und anderen kein Echo fanden – im Großen und Ganzen jedenfalls legte sich ihre Leidenschaft wieder, und danach kamen in unserer Brigade auch keine nationalen Reibereien mehr auf. Es gab auch noch eine weitere Neuerung: ab Juni-Juli hatten sie irgendwo angefangen „Anrechnungen“ einzuführen, d.h. die Anrechnung guter Arbeitsleistungen auf die Haftzeit, mit dem Ziel diese zu verkürzen. Einmal, es war in der zweiten Hälfte August, ging ich, nachdem ich mir ein Buch aus der Bibliothek geholt hatte, zum Kiosk hinüber, und reihte mich in die Schlange ein, um ein paar Pastetchen zu ergattern. Während ich mich also in der Schlange befand, setzte ich mich auf den danebenliegenden Erdaufwurf und begann zu lesen. Plötzlich kam der Gehilfe des Arbeitseinteilers angerannt. „Und ich such’ dich schon überall!“ – schrie er – „Geh schnell, laß deine Entlassungspapiere fertigmachen!“ – Versteht sich von selbst, dass ich meine Pastetchen Pastetchen sein ließ und schnurstracks zum Kontor rannte. Dort erklärte man mir, dass meine Haftzeit unter Berücksichtigung der von mir erworbenen Arbeitsanrechnungen morgen zuende wäre, also 16 Tage früher, als ich vermutet hatte. Ich sollte ihnen einen Ort nennen, an den ich danach gern abreisen wollte. Mehrere Varianten standen dabei zur Wahl. Es war gerade eine Zeit der Erschließung von Neuland, und wir konnten, nun schon als (bedingt) freie Menschen, in diese Bewegung einbezogen werden. Unter den vorgeschlagenen Orten befanden sich auch das Gebiet Omsk, Kasachstan und die Region Krasnojarsk.

Im vergangenen Jahr war mir die Steppe mit ihrer sengend heißten Sonne im Winter und den winterlichen Schneestürmen zuwider geworden, und so entschied ich mich ohne große Bedenken für die Region Krasnojarsk. Ich dachte überhaupt nicht daran, dass sich das zu erschließende Neuland in der Region Krasnojarsk in den Steppen Chakassiens befand, die ebenso flach und kahl waren wie jene, die sich hier über hunderte von Werst erstreckten.

Als ich in die Baracke zurückkehrte, wußten bereits alle von meiner Freilassung und erwarteten mit Ungeduld meinen Bericht. Ich runzelte die Stirn: „Irgendwie riecht es hier nicht gut“, sagte ich, „wahrscheinlich wohnen hier Gefangene...“. – „Ach, du freier Mensch!“ – schrie Matikjunas und schlug mir dabei mit aller Kraft auf den Rücken. Er sprang an mir hoch, andere folgten seinem Beispiel, und schon lagen und wälzten wir uns auf dem Boden herum. Ich freute mich, dass meine Kamerdaen meine Gefühle in so aufrichtiger Weise teilten und mit mir gemeinsam meine Freilassung feierten, an die ich noch gar nicht glauben konnte.

An dieser Stelle sollte ich nun wohl berichten, dass ich die ganze Nacht, die mir endlos vorkam, nicht schlafen konnte, weil ich mir in Gedanken verschiedene rosige Bilder von meiner Zukunft ausmalte. Weit gefehlt, denn es war überhaupt nicht so. Ich schlief – wie immer. Ich träumte nichts Übernatürliches, und am nächsten Tag verspürte ich nicht diesen innerlichen Auftrieb, den ich am Vorabend empfunden hatte. Manche Autoren, die das Verlassen der Haftanstalt schildern, bestätigen, dass .....

„Als ich über die Schwelle des Gefängnisses trat
und in die Freiheit hinüberschritt,
Da habe ich über mein Gefängnis geseufzt“.

Einen Seufzer gab es ebenfalls nicht. Warmherzig, aber ohne Bedauern, verabschiedete ich mich von meinen Kameraden, die zur Arbeit gingen, und machte mich dann hektisch daran, meine Sachen abzugeben und die Dokumente ausstellen zu lassen. Um zwei Uhr war alles erledigt.Die Zahl der freien Bürger der Sowjetunion war inzwischen auf zehn angestiegen. Wir saßen mit unseren Siebensachen neben dem Wachhäuschen. Auch ich hatte „Sachen“ dabei: einen kleinen Sperrholzkoffer, angefertigt und geschenkt von Iwan Iwanowitsch, und darin befanden sich ein paar Rationen Brot und in der Jackentasche 42 Rubel, mein gesamtes Kapital, das ich mir in 10 Jahren rechtschaffener Arbeit verdient hatte. Übrigens wäre es unrichtig sich vorzustellen, dass sich alle in einer derartigen „lumpenproletarischen“ Lage befunden hätten. Einige waren wie Modepuppen gekleidet und trugen zuvor von Zuhause gespendete Zivilanzüge; sie besaßen solide Koffer und Bündel und hatten sich ebenfalls Moneten zurückgelegt. Ich besaß nichts als meine Arrestantenrobe und die 42 Rubel. Ich kann mich noch erinnern, dass man mit damaligen 42 Rubeln für 70 ebenfalls damalige, mit Marmelade gefüllte, Pastetchen auskam.

Allerdings ließ ich den Mut nicht sinken, und als der Aufruf ertönte: „Freigelassene fertig zum Abmarsch!“, da war ich einer der Ersten, welche „die Schwelle des Gefängnisses überschritten“. Nur gut, dass ich es nicht rechtzeitig schaffte, die farbenprächtigen Varianten meiner ersten Schritte in Freiheit aufzuzeichnen, denn ich hätte es kaum vermocht, mir die reale Seite auszumalen.

Auf der anderen Seite des Wachhäuschens stand der gewohnte „schwarze Rabe“. Man ließ uns einsteigen; dann fuhren wir los. Wir fuhren nur wenige Minuten, dann hielten wir an. Aussteigen – Gefängnis! Ja, ja, ein ganz richtiges – noch zu Zeiten von Väterchen Zar ganz solide gebaut. Als ob ein bereits gesehener Kinofilm nun noch einmal von vorne abgespult wurde. Wir wurden in einer der Zellen mit deicken Wänden und gewölbten Fenstern untergebracht, die mit Metallschirmen abgedeckt waren. Alles war uns nur allzu schmerzlich bekannt, sowohl diese „Maulkörbe“ vor den Fenstern, als auch die durchgehenden Pritschen und der Abortkübel in der Ecke. In dieser Einrichtung blieben wir zwei Tage, und dann brachte man uns mit demselben „Taxi“ zum Bahnhof, wo wir auf e uns ebenfalls bereits bekannte „Stolypinwaggons“ verladen wurden. Übrigens war die Reise hinreichend bequem, es gab genügend Platz und mankonnte durch die Fenster die Umgegend sehen. Der Waggon war an einen Passagierzug angehängt , der ziemlich schnell fuhr.

Abgeladen wurden wir auf irgendeinem Abstellgleis hinter Krasnojarsk; von dort brachten sie uns mit einem Auto ins Lager, wo sich bereits ca. 200 ebensolcher „Freigelassener“ aufhielt. Über dem Lager erhob sich eine steile, große Bergkuppe. Bis heute konnte ich nicht genau herausfinden, wo das war. Dies war jedenfalls das schlimmste Lager von allen, in denen ich mich hatte aufhalten müssen. Es gab kein Bettzeug, kein Waschbecken, keine Küche. Essen und Geschirr wurde in Fässern von Gott weiß woher gebracht. Hier blieb ich weitere zwei Tage. In dieser Zeit wurden wir mehrmals anhand der Listen überprüft, und die aufgerufenen Gruppen entschwanden dann durch das große Tor. Am 6. Tag meiner „Freiheit“ wurde auch ich endlich aufgerufen, zusammen mit weiteren 8-10 „Neuland-Erschließern“. Hinter dem Tor stand ein Wagenmit offener Ladefläche, daneben ein junger Bursche in Zivil, der jedoch die blaue Schirmmütze eines NKWD-Mitarbeiters trug. Er stellte sich uns als Kommandant vor und sagte, dass er uns zu einer Sowchose bringen würde – an unseren neuen Wohnort. Über Berg und Tal, über schlechte Feldwege, eine Pontonbrücke über den Jenisej durchquerten wir die Stadt und fuhren dann über eine einigermaßen gut ausgebaute Chaussee davon. Es war bereits gegen Abend und dunkelte schon. Endlich kamen wir in ein großes Dorf. Auf der Hauptstarße wurde gerade ein Dorffest gefeiert. Eine Menge Mädchen spazierte dort singend, unter der musikalischen Begleitung eines Akkordeonspielers in Soldatenuniform, herum, und hinter ihnen gingen ein paar Burschen.

Das Fahrzeug bog vom Weg ab und hielt nach etwa zehn Minuten an. Wir krochen heraus und fanden uns in einem Badehaus wieder. Hier konnten wir uns nicht nur waschen, sondern hier sollten wir auch übernachten. Am nächsten Tag begannen die Arbeitseinstellungen, das Bekanntmachen mit der Sowchose. Das war (zum Glück) überhaupt keine Neuland-Wirtschaft, sondern eine Hilfswirtschaft der Krasnojarsker KGB-Behörde. Dort liefen große Bauprojekte, und das KGB wähltedie Bauarbeiter dafür aus. Die Hauptbevölkerung in der Sowchose wurde ebenfalls von Verbannten verschiedener Jahrgänge gestellt. Manche von ihnen waren direkt in die Verbannung geschickt worden, andere, wie wir, trafen hier erst nach beendeter Lagerhaft ein. Es gab Gemeinschaftswohnungen, aber dort reichte der Platz nicht, und so suchten unsere zukünftigen Brigadeleiter und Vorarbeiter für uns, die Übriggebliebenen, Privatunterkünfte. In einem dieser Häuser wurde ich bei einem älteren Paar untergebracht. Hier kam es wieder zu Schwierigkeiten. Im Lager, unter Wachbegleitung, hatten wir es uns abgewöhnt selbst unseren Weg zu wählen und ihn uns auch zu merken. Nachdem man mich also mit meinen neuen Wirten zusammengeführt hatte, begab ich mich ins Zentrum der Sowchose, in der sich die Kantine befand. Nach dem Abendessen stellte ich besorgt fest, dass ich nicht mehr wußte, welchen Heimweg ich einschlagen mußte. Ich hatte auch keine Zeit gefunden, den Familiennamen oder die Adresse der beiden alten Leute zu erfragen. Ich weiß nicht mehr, mit welchem Spürsinn ich dann doch noch den richtigen Weg fand, aber ich ertappte mich auch danach noch mehrfach dabei, dass ich völlig verlernt hatte, wie man sich in der Umgebung orientiert, und es verging eine gewisse Zeit, bis mein visuelles Gedächtnis, meine Beobachtungsgabe und die professionelle Routine eines Aufklärers wiederhergestellt waren.


Zum Seitenanfang