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Anastassija Stepanowna Wolkowa (Rogatschowa). Erinnerungen

Ich wurde in der Ortschaft Otrok,im Idrinsker Kreis, Region Krasnojarsk geboren. In den dreißiger Jahren war dies der Kuraginsker Kreis, Gebiet West-Sibirien. Unser Ort lag an einer malerischen und segensreichen Stelle, am Zusammenfluß des Flüßchens Syda in den Otrok, einem Nebenarm des Jenissej. Das Dorf war groß, mit einer steinernen Kirche, die bis in die heutige Zeit erhalten geblieben ist, und einer Volksschule. Wir wohnten in der Mitte, hatten ein fünfwandiges Haus und Nebengebäude im Hof: einen Getreidespeicher, ein Badehaus und einen Stall. Außerdem hielten wir eine Kuh, ein Pferd, ein Kalb und Hühner. Irgendwann im Jahre 1930 kauften wir einen Heumähmaschine. Der Hauptarbeiter in unserer Familie war mein Bruder, denn damals war der Vater schon krank. Unserer Familie bestand aus:

Arbeiter hatten wir nicht eingestellt. Unsere Wirtschaft zählte wegen der Heumähmaschine zu den großen und stellte uns vor harte Aufgaben. Jedoch im Februar 1932 entkulakisierten sie uns und entzogen uns die Rechte; im März desselben Jahres wurde unser gesamter Besitz kon-fisziert und wir auf die Straße gesetzt. Wir mußten eine Wohnung suchen; eine Witwe mit fünf Kindern nahm uns bei sich auf. Der Vater und mein Bruder begaben sich sofort zur Artjomowsker Goldgrube (heute die Stadt Artjomowsk im Kreis Kuragino). Der Vater nahm dort eine Beschäftigung in der Waldwirtschaft an, und mein Bruder in der Goldfördergenos-senschaft. Die Schwester fuhr nach Bjelij Jar in der Nähe von Artjomowsk. So fiel unsere bäuerliche Familie auseinander. Ich wurde aus der Schule ausgeschlossen; ich habe lediglich die Grundschul-Unterricht erhalten.

Nach einiger Zeit fuhr ich zum Bruder ins Bergwerk. Der Bruder lebte in einer Baracke, und war dort bei irgendeinem Bekannten untergekommen. Es war Sommer, und ich ging in den Wald: ich sammelte Himbeeren und tauschte sie gegen Brot ein. Als Vater und Bruder wegfuhren, ging ich als Kindermädchen zu Leuten und wohnte dort, und danach begab ich mich zur Schwester und besorgte mir in ihrem Namen eine Bescheinigung (sie ist vier Jahre älter als ich, und unsere Initialien sind gleich), und mit ihrer Bescheinigung ging ich in den offenen Bergwerksschacht zur Arbeit, dort wo die Loren abgekoppelt wurden. Zu jener Zeit war ich 15 Jahre alt.

Der Vater schrieb eine Beschwerde an die Kommission, wo die Angelegenheiten von Entkulakisierten untersucht wurden. Unsere Rechte wurden wiederhergestellt. Das war im August 1933. Dies teilte mir die Mutter in einem Brief mit.

Bald wurde ich an den Loren als Maschinistin eingesetzt. Zur Erfüllung der Normen erhielten wir zusätzliche Lebensmittelkarten für Brot. Im allgemeinen wurde das Brot ausgegeben, und wir aßen es in der Kantine – auf Karten.

In den Jahren 1935-1936, nachdem ich einen Paß bekommen hatte, kamen wir noch einmal für einige Zeit nach Otrok zurück: zuerst ich, danach die Schwester und der Bruder. Mama wohnte in dieser Zeit in dem leeren Haus ihres Onkels, der ins Bergwerk gefahren war.

Der Vater kehrte noch vor uns ganz krank aus Artjomowsk zurück. Seine Beine waren stark geschwollen. Die ganze Zeit über war er sehr krank und starb 1937. Der Bruder lebte bis zu seiner Mobilisierung im Jahre 1941, die mit dem Ausbruch des Krieges zusammenhing, in Otrok. Von der Front erhielten wir nicht einen einzigen Brief von ihm, offensichtlich kam er sofort ums Leben. Wie das Schicksal es so wollte, verließen wir Otrok erneut - und nun für immer.

Die Schwester heiratete in dem Dorf Salba, danach zogen sie nach Idra um, und auch Mama zog zu ihnen; sie starb dort 1950. Die Schwester lebt bis heute in Idra.

Auch ich fuhr aus Otrok fort: zuerst zur Arbeit in das Dorf Sorokino, dann heiratete ich. Und von uns ist keiner der am Leben Gebliebenen jemals mehr nach Otrok zurückgekehrt.

Unser Haus stand noch eine Zeit lang, aber das Badehaus, der Getreidespeicher und der Stall wurden sofor auseinandergenommen und vom Dorfsowjet verkauft. Und inzwischen wurde auch schon das Haus abgetragen und an einen anderen Ort gebracht.

Wir besitzen von jenen unseren Schicksalsschlägen noch ein Dokument aus dem Jahre 1933 – der Antrag des Vaters an die Kreisstaatsanwaltschaft bezüglich der Rückgabe seines ihm unrechtmäßig fortgenommenen Besitzes. In dem Antrag waren alle Umstände der Angelegenheit näher erläutert. Wie war damals die Beziehung der Behörden uns gegenüber – wir wissen es nicht, genauso wenig wir wissen, ob dieser Antrag von den Behörden angenom-men wurde oder nicht. Fast 57 Jahre ist dieser Antrag des Vaters nun alt. Und da, im Jahre 1990, schickte ich an die Staatsanwaltschaft eine Anfrage, ähnlich der des Vaters. Welche Antwort erwartet mich, falls in Bezug auf die entkulakisierten Bauern bis heute die Gesetzte der dreißiger Jahre gelten?!

In unserem Dorf wurden viele entkulakisiert und irgendwohin an den Tschulim verbannt. Ich kann mich nur an einiger Familien jener erinner, die nicht so weit von uns entfernt gewohnt hatten. Das sind Nikanor Tarassow, Filipp Tarassow und Filipp Gostewskij. Ich weiß nicht, welches Schicksal sie ereilte.

Aufgezeichnet von K.A. Isjuba, Gesellschaft „Memorial“,
Krasnojarsk, 30. März 1990


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