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Erinnerungen an Sibirien

Ketsija Sisask (Rannut). Auf dem Weg nach Sibirien führte ich Tagebuch

28.03.1949
Wir fahren von der Station Legedi los. Nach all den geweinten Tränen ist uns nun leichter ums Herz. Der Kopf ist müde.

29.03.1949
Der Zug schaukelt stark. Mami konnte nicht einschlafen. Ich habe lange geschlafen. Um halb elf haben wir die Narwa-Brücke passiert. Um halb zwölf entschlossen wir uns, die hölzernen Fensterläden abzunehmen. Wieviel Freude einem das Tageslicht geben kann! Wir befinden uns in irgendeiner kleinen Ortschaft. Die Waggon-Türen öffneten sich, und wir stiegen aus, um heißes Wasser zu holen. Wir sind bei guter Gesundheit. Es ist zwei Ihr fünfzig. Wir stehen am Bahnhof Gatschina. Wir aßen uns satt und tranken Wasser. Die Stimmung ist gut.

30.03.1949
In der Nacht sind wir aus Leningrad abgefahren. Jetzt stehen wir am Bahnhof Tichwin. Wir haben uns in den Bahnhof begeben. Zum ersten Mal hat man uns Suppe, Grütze und Brot gegeben. Sie haben uns empfohlen, ein Weißbrot und etwas zum Rauchen für unterwegs zu kaufen. Wir haben nichts gekauft, wir haben noch zu essen.

31,03,1949
Um halb neun befinden wir uns in Wologda. Sie gaben uns wieder Brot, Suppe und Hirsebrei. Der Bauch ist voll, die Stimmung ein wenig besser. Wir haben eine Postkarte nach Arukjula geschickt. Zum ersten Mal haben wir Ochsen gesehen. Wir kauften einen halben Liter Milch.

01.04.1949
Wir befinden uns 45 km von Kirow entfernt. Es ist jetzt 15 Uhr. Hier stehen zwei Züge mit Menschen, die aus Lettland ausgewiesen wurden. Heute haben sie uns noch kein Wasser und auch nichts zu essen gegeben. Einige haben sich Wasser zu 5 Rubel den Eimer gekauft. Die Letten sagen, dass wir noch weitere zehn Tage fahren müssen. Um zwölf Uhr nachts sind wir in Kirow angekommen. Hier gaben sie uns Wasser, Brot, Kohlsuppe und Kartoffelbrei. Zuvor hatten die Kinder sehr geweint, weil sie solchen Durst hatten.

02.04.1949
Wir fahren weiter und weiter. Mit Mami haben wir Wasser geholt. Und es gab Streit in der Schlage, in der die Leute nach Wasser anstanden, bis der Eimer schließlich gefüllt war! Das Wetter war bis jetzt klar und sonnig. Heute ist es trüb. Wir sind durch Glassow (Glasow – Anm. d. Red.). Die Stimmung ist gedrückt, alle Fünkchen der Hoffnung sind dahin. Mit unseren Nachbarn haben wir auch kein Glück, es sieht so aus, als ob ihre Kinder uns Süßigkeiten und Wurst gestohlen haben.

03.04.1949
Heute verbringen wir schon den zweiten Sonntag in diesem Waggon. Wir sind ungewaschen und schmutzig. Gestern haben sie uns weder Wasser noch Essen gegeben. Jetzt ist es neun Uhr morgens. Wir stehen jetzt schon seit mehreren Stunden an einer Bahnstation nahe Perm. In der Nacht sind wir mit sehr hoher Geschwindigkeit gefahren. Die Landschaft ist bergiger geworden. Um elf Uhr befinden wir uns in Perm. Sie haben uns eine Brotration für zwei Tage gegeben, Graupensuppe Grütze und Lachsfisch. Der Magen ist verstimmt. Der Leiter kam in den Waggon und sagte, dass wir uns auf dem Weg nach Krasnojarsk befänden.

04.04.1949
Wir fahren durch den Ural. Wie schön wäre es, alles aus dem Fenster eines Abteil-Wagens heraus anzuschauen. Aber hier muss man sich auf die Zehenspitzen stellen, um durch das Fensterchen zu schauen. Um halb zwölf sind wir in Belebej. Abends trafen wir in Swerdlowsk ein. Vergeblich warteten wir darauf, dass sie die Türen öffneten. Das Trinkwasser war alle, z Essen gaben sie uns auch nichts.

05.04.1949
In der Nacht bekamen wir an irgendeiner Bahnstation Wasser. Wir fahren durch eine flache Gegend. In der Nacht war es dermaßen kalt, dass die Schlafecke sich ganz mit Raureif überzog und das Wasser im Eimer mit einer Eisschicht bedeckt war. An einer Bahnstation kauften sie einen halben Liter Milch. Aus irgendeinem Waggon trugen sie einen Toten. Am Abend sind wir in Tjumen eingetroffen. Hier erhielten wir erneut eine Zweitage-Ration: Suppe aus sauren Gurken, Hirsebrei, Brot und Wurst.

06.04.1949
Die Landschaft wird immer spärlicher. Wir haben einen halben Liter Milch, Konfekt und drei Eimer Kartoffeln gekauft. Wir haben Makkaroni-Suppe gekocht. Die Nächte sind kalt, die Tage warm. Der Hals schmerzt, die Nase ist verstopft. Wir haben den Kommandanten gebeten, uns in den Tallinner Zug umsteigen zu lassen. Wir packten unsere Sachen zusammen – in der Hoffnung, in Omsk den Waggon verlassen zu können.

07.04.1949
Wir befinden uns in Omsk. Neben uns steht noch ein Zug, ich weiß nicht, ob es darin auch ein paar Esten gibt. Wir durchfahren Omsk, ohne dass die Türen geöffnet wurden. Jetzt haben wir an der Bahnstation Tatarskaja gehalten. Hier steht ein Zug mit Litauern. Am späten Abend gaben sie uns suppe, Brot, Wurst und Butter. Im Bahnhofsrestaurant kauften wir ein halbes Kilo Konfekt zu 8 Rubel 40 Kopeken pro Kilo sowie drei Semmel zu je 1,40.
Dort stand ein Waggon mit Esten. Wir hörten, dass ein Teil der Esten bereits ausgeladen worden war und man neue Waggons an den Zug angekuppelt hatte.

08.04.1949
Wir fahren weiter. Unterwegs begegneten wir noch Litauern, und jetzt steht neben uns ein Zug mit Bewohnern aus dem Moskauer Gebiet. Am Morgen kochten wir Kartoffeln. Nach dem Mittagessen trafen wir in Nowosibirsk ein. Die schönste aller Städte, die wir während der Fahrt gesehen hatten. Aus dem Waggon ließen sie uns nicht aussteigen.

09.04.1949
Heute stiegen wir an der Bahnstation Taiga aus, um Wasser zu holen. Man sagte uns, dass wir am Montag an unserem Bestimmungsort eintreffen würden. In einem kleinen Waschbecken wuschen wir uns Gesicht und Hände.

10.04.1949 Heute ist ein Festtagsmorgen, um halb sechs haben sie uns geweckt, damit wir unser Essen holten. Sie gaben uns Suppe, Brot, Hering und Grütze. In der Schlange, in der alle nach Wasser anstanden, traf ich eine Mutter aus dem Kindergarten – Frau Joost. Der Zug setzte sich in Bewegung, aber die Lokomotive befand sich am anderen Ende, und das verursachte ein Gefühl, als ob wir nach Hause zurück führen.

11.04.1949
Um zwei Uhr ließen sie die Menschen aus dem Zug aussteigen. Sie sagten, dass wir uns nun in den Balachtinsker Bezirk, Region Krasnojarsk, begeben würden.


Ketsia Rannut und Mutter Johanna


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