In Norilsk bedeutet der April immer noch – Winter: Schnee, Schneesturm, Wind, der einen von den Füßen wirft. Da kann man nichts machen. „Norilsk – das sind zwölf Monate Winter, der Rest – Sommer“, so scherzten die Gefangenen. Mitunter weht im Juli aus der Richtung des Nördlichen Eismeers ein kalter Wind und es flattern weiße Fliegen. Aber trotzdem – April ist April und nicht Dezember oder Januar. Im April sind die Tage lang: zur Arbeit und auch wieder zurück gehst du bei Tageslicht, das stimmt die Gefangenen ein wenig fröhlicher. Die Sonne beeilt sich, denn in den gerade einmal zwei Monaten des Nordsommers muss sie die Tundra einkleiden: sie muss sie grün einfärben und ihr, wie einer Braut, Blumen schenken. Und unseren Brüdern wird es leichter ums Herz: sie brauchen nicht mehr frieren, Schnee liegt nur noch auf den Gipfeln der Berge, in den Schluchten. Aber welche Kleidung hatte der Häftling denn?! Einen wohlgenährten Menschen hätte sie möglicherweise warm gehalten und vor Kälte geschützt. Aber wenn der Gefangene Hunger hatte? Die Lagerverpflegung vermochte sein Leben lediglich zu erhalten. Wenn du fleißig arbeitest, dann kommst du damit nicht weit, höchstens vielleicht bis zur Baracke der Dahinsiechenden oder bis zum Schmidticha-Berg….
April 1949. Unser Lager N° 1 – „Ugolnij rutschej“ („Kohlen-Bach“;Anm. d. Übers.) – liegt zwischen dem Schmidt- und dem Rudnoj-Berg. Der Fuß des Rudnoj-Berges beherbergte ungefähr hundert Baracken und annähernd zehntausend Unfreie. Es waren nur wenige politische Häftlinge, die Mehrheit war wegen unterschiedlicher Kriminaldelikte verurteilt worden, also sogenannte Alltagskriminelle. Es gibt auch Diebe, Wiederholungstäter, Kriminelle, die inzwischen nicht mehr nach dem üblichen Verbrecherkodex lebten. Sie arbeiteten in den Kohlegruben und Kupferbergwerken. Dort existierte auch eine kleine Zementfabrik, in der ich als Laborant tätig war.
An einem der Apriltage, bei der Rückkehr in die Lagerzone, bemerkten wir am Wachhäuschen etwas Ungewöhnliches. Die Alteingesessenen Lagerhäftlinge begriffen ziemlich schnell, was hier los war.
- Ja, irgendeiner ist abgehauen, - sagte Sascha langsam und gedehnt, der von uns Schauspieler Schmyg genannt wurde.
Als klar geworden war, dass insgesamt zwei Gefangene abhandengekommen waren, entschied man sogleich: die sind geflohen. In diesem Lager befand ich mich seit 1948. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie etwas von einem Fluchtversuch gehört. Wie konnten sie sich nur zu so einer Jahreszeit zur Flucht entschlossen haben… Ringsumher nichts als Schnee, der Hafen von Dudinka ist bis zum Einsetzen der schiffbaren Saison geschlossen, überall Tundra, nackte, zum Hungerdasein verurteilende Tundra… Wo sollte der Mensch denn hin: nachts herrschen doch immer noch 20-30 Grad Frost. Im Sommer hätten sie fortlaufen sollen, dann wären sie bis nach Dudinka gekommen; um die Zeit läuft die Arbeit im Hafen auf Hochtouren, es gibt jede Menge See- und Flussschiffe. Es ging das Gerücht, dass es irgendwann einmal einem gelungen war, über den Hafen abzuhauen. Aber jetzt fliehen … sich aus der Lagerzone zu entfernen – das stellt keine so große Schwierigkeit dar. Man muss nur in der Stadt Freunde haben, zuverlässige Freunde. Bei ihnen kann man sich verstecken. Ein, zwei Monate verstreichen, alles wird ruhig, die Aufregung legt sich, und dann organisiert der Freund vielleicht irgendein Schriftstückchen. Das Wichtigste ist – nicht wieder den Tschekisten seines Lagers in die Hände zu fallen: dann gibt es kaum Chancen am Leben zu bleiben, aber selbst wenn du Glück hast, wirst du trotzdem nicht mehr lange leben – den Rest wirst du im Kalargoner Gefängnis bekommen, das auch den Namen „Todesgrube“ trägt.
… Die Zeit verging, das Gerede über die Flucht verstummte. Und eine Woche später hörte man plötzlich: sie haben die Flüchtigen gefunden, die Jungs hatten lein Glück.
Am Morgen gingen die Brigaden zum Appell. Es wehte ein kalter Wind, minus 20 Grad. Oh Gott! Was sahen sie da bei den Toren der Wache! An der Durchgangsstelle – die beiden Burschen, bis zur Gürtellinie entblößt, übersät mit blauen Flecken von den Schlägen, mit Stacheldraht an einen Pfahl gebunden. An ihnen waren noch schwache Lebenszeichen zu bemerken. Vieles musste man im Lager durchmachen und ertragen: Hunger, Erniedrigungen, immer wieder Balanceakte am Rande des Todes. Aber solche Misshandlungen am Menschen erschütterten alle! Wir sollten begreifen, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, aus dem Lager zu fliehen. So jedenfalls dachten die Tschekisten. Nicht nur einmal stand jeder einzelne von uns an der Schwelle des Todes, näherte sich ihr Tag für Tag aufs Neue, wo bei er tropfenweise sein Leben verlor und schließlich, weit entfernt von seinen lieben Angehörigen, starb. Denn wir schrieben bereits das Jahr 1949… Nicht 1942, als durch Hunger, Kälte und Krankheiten 50 Prozent der Häftlinge umkamen. Und auch nicht 1944-1945, als sie im Lager am Ende jeder Nacht mehrere Leichen hinaustrugen …
Die Tschekisten sollten uns nicht einschüchtern! Wir begriffen sehr wohl, wer hier wer war und worin der Unterschied zwischen uns und ihnen lag, bei denen lediglich das Äußere an ein menschliches Wesen erinnerte.
… Wir gingen an den Unglückseligen vorüber, wobei unsere Herzen hasserfüllt waren gegenüber dieser Meute, die an den Wachtoren stand.
Die Abendschicht machte sich auf den Weg zur Fabrik. Sie erzählten, dass man die Geflohenen mit Wasser übergossenen hätte; sie wären erfroren und lägen nun unweit des Wachhäuschens.
- Wir brauchen nicht dort hingehen und uns das anschauen, wir brauchen das nicht, - sagte unser Laborleiter, der Lette Merwald Lasdinsch, Häftling, Chemiker und Dozent, langsam.
Ich hatte alles verstanden.
Als technischer Leiter der Zementfabrik arbeitete ein Lette, Ingenieur, ehemaliger Offizier. Mit einer Etappe war er im Herbst 1941 ins Norillag gekommen. Er hieß Keksis Awgujesch. Im Lager bekam er eine zweite Haftstrafe nach § 58-10, wegen antisowjetischer Äußerungen, aufgebrummt. Unsere Zementfabrik produziert pro Monat etwa 400 Tonnen Zement, ein Baustoff, an dem in Norilsk ein großes Defizit herrschte.
Im Sommer 1949 führten wir an den Kalkstollen, Klinkeröfen und Zementmühlen Reparaturen durch. Ich befand mich in der Abendschicht. Es war nur die Mühle in Betrieb, die den Zement produzierte. Keksis schaute mit einem Landsmann, der als Meister im Kupferschacht tätig war, ins Labor herein. Beide waren ein wenig beschwipst und hatten ein paar Sachen zum Essen dabei. Im Labor wurde Alkohol verwendet, den man für chemische Analysen benötigte, genauer gesagt, unter Beimischung von Phenolphtalein, oder noch einfacher – Purgen (Abführmittel; Anm. d. Übers.). Es diente als Indikator zum Nachweis von alkalischen Substanzen: es verfärbte sich dann nämlich in einen leuchtend violett-roten Ton. Im Monat sparten wir damit bis zu 1,5 Liter Alkohol ein. Bei Einnahme einer großen Menge wirkte es als Abführmittel.
Keksis bat darum, den Alkohol ein wenig zu verdünnen und in einen Kolben zu füllen. Ich brachte ihn in den Raum, indem die beiden saßen. Beim Eintreten vergaß Keksis offensichtlich die Tür zum Labor abzuschließen. Und da kam plötzlich der Aufseher herein und sah sich ausgiebig in dem Raum um, in dem die zwei saßen. Die Situation war ziemlich unangenehm: auf dem Tisch lagen die Esswaren, und dort stand auch der Kolben mit der Flüssigkeit. Er begriff, welche Produktionsfragen hier geklärt wurden. Er nahm den Kolben und verlangte, dass sie mit ihm zur Wache kommen sollten. Keksis versuchte als Leiter die missliche Lage zu retten.
- Bronjus, warum hast du betriebsfremde Personen ins Labor gelassen? Bitte sie zu gehen, und stell den Reagenzkolben in den Schrank.
Der Aufseher war gekränkt. Er hatte bemerkt, dass die beiden beschwipst waren. Anhand des Geruchs war ihm klar, um was für ein Reaktionsgemisch es sich im Kolben handelte. Keksis hätte die Situation geradebiegen können, indem er dem Aufseher einen oder zwei Sack defizitären Zements angeboten hätte, aber er entschied die Angelegenheit auf seine Weise: er wollte mit dem Aufseher nichts zu tun haben.
Mit schoss ein Gedanke durch den Kopf, wie ich den Freunden helfen könnte. In dem anderen Raum nahm ich den Kolben, füllt mehr als die Hälfte destilliertes Wasser hinein, gab einige Tropfen Kalilauge hinzu. Ich ging zu ihnen hinüber und trat auf den Aufseher zu:
- Ich bitte Sie den Kolben mit den Chemikalien herauszugeben.
Der Aufseher aber presste die Glasflasche nur noch kräftiger in seiner Hand zusammen:
- Willst wohl den Alkohol verbergen? Ihr trinkt doch alle, ihr Faschisten! Euch sollte man in den Karzer sperren! – Der Aufseher war furchtbar böse.
- Wenn Sie glauben, dass es hier Schnaps gibt anstatt Chemikalien, bitte sehr, dann werde ich es Ihnen beweisen, und anschließend können sie vorgehen, wie sie es für richtig halten, - erwiderte ich. Ich füllte aus dem mitgebrachten Kolben Wasser in ein Glas, probierte. Dann gab ich es dem Aufseher zum Probieren. Er war ziemlich verlegen, nahm aber trotzdem einen Schluck und bestätigte, dass es sich um Wasser handelte.
- Und nun kippen sie das Wasser aus dem Glas in den Kolben, den sie in den Händen halten; und dann bestätigen Sie, dass es Alkohol ist.
Der Aufseher zögerte, füllte das Wasser jedoch um. Im selben Augenblick verfärbte sich der Inhalt in eine violett-rote Flüssigkeit. Der Aufseher erstarrte, hätte beinahe den Kolben fallen lassen. Keksis hatte alles begriffen.
- Siehst Du, Aus Wodka haben wir Wein gemacht, - meinte er ironisch. – Nimm doch, trink den Wein, aber die Verantwortung werde ich für Dich nicht übernehmen. Und pass nur gut auf: wenn es auf die Hand kommt, brennt es durch bis auf die Knochen.
Der Aufseher verließ den Raum und ich schloss die Tür mit dem Schlüssel hinter ihm zu.
Frühjahr 1952. Gorlag, 1. Abteilung, Medweschka. Ich arbeitete in der Konvoi-Brigade und war mit der Reparatur, Installation und Wartung der Eisenbahnstrecken auf der Halde beschäftigt, auf die sie aus dem Bergwerk „Bärenbach“ wertlos Gestein brachten. Wenn wir in der zweiten Schicht Dienst hatten, waren wir verpflichtet, die Seitenwände der Kipp-Waggons zu säubern, sofern sie von Steinklumpen zusammengedrückt worden waren und die Gesteinsmasse nicht ungehindert nach unten rollen konnte. Die Maschinisten der Lokomotive gaben uns Kohle, entfachten ein Feuer, wärmten uns, während wir auf den nächsten Zug warteten. Es hatten immer 6-7 Mann Dienst. Bewacht wurden wir von zwei Soldaten.
Tiefe Eindrücke aus jener Zeit haben die Nordlichter bei uns hinterlassen. Der Winterhimmel leuchtete in verschiedenen Farben. Das farbige Licht veränderte sich, es formte sich zu Strahlen und flatternden Bändern zusammen. All das vermischte sich am Himmel zu unterschiedlichen Formen. Wir, die weit von Zuhause entfernt war, die wir nicht wussten, ob wir jemals zurückkehren würden, lagen auf den durchgewärmten Steinen, betrachteten den Himmel, staunten über die Großartigkeit der Natur. Und über unsere Wangen rannen ganz ungebetene Tränen …
Eine dieser Dienstschichten wäre um ein Haar meine allerletzte gewesen. Ein Zug war eingetroffen. Beim Abladen verkeilte ich in einem der Kipp-Waggons Gesteinsmasse mit einem Gewicht von ungefähr 5-6 Tonnen. Sie rollte nicht hinab, sondern war sehr unglücklich verrutscht. Zu dritt kletterten wir nach oben, setzten uns auf den Boden des Waggons und versuchten das Gestein frei zu bekommen. Aber die Seitenwand des Waggons schlug jäh nach oben und warf mich wie einen Korken durch die Gesteinsbrocken, die ich gerade erst freibekommen hatte. Ich rollte abwärts, und hinter mir kam auch der Stein ins Rollen. Jedes Mal beim Kippen der Gesteinsmasse fehlten nur wenige Zentimeter – und mein Kopf wäre zusammengequetscht worden. Ich begriff, dass mein Tod unvermeidlich war. Innerhalb von einer Sekunde liefe mein ganzes Leben wie ein Film vor meinen Augen ab. Mit ganzer Kraft, mich mit den Beinen auf die Steine stützend, versuchte ich, ein Stück vorwärts zu rücken und aus der Gefahrenzone herauszukommen, damit nur mein Kopf nicht unter die Steine kam. Der Steinblock rutschte beim Drehen hinter mir her, drückte jedoch lediglich die Ohrenklappe meiner Mütze nieder und riss sie mit dabei vom Kopf. Ich hörte den Schrei der anderen Burschen in der Brigade. Ich sah, wie die Kugeln aus einem Automatikgewehr neben meinem Kopf in den Stein schlugen. Mein Freund, der Balkarier Bakujew, brüllt aus Leibeskräften zu den Wachmannschaften hinüber:
- Du Scheißkerl, was machst du da, wir bringen dich um!
Ich stand auf, kroch heraus. Mein Kopf war ganz voll Blut. Offensichtlich hatte eine Kugel oberhalb der Stirn den Kopf gestreift. Der Knochen war unverletzt, aber die Haut war aufgeplatzt. Glück gehabt! Der Begleitsoldat, ein junges Soldatenbürschchen rechtfertigte sich: er habe gedacht, das sei ein Fluchtversuch. Sie brachten mich in die Lagerzone. In der Sanitätsabteilung wurde meine Wunde gesäubert und verbunden.
Heute, wenn ich mit der Hand über diese Stelle streiche, finde ich eine längliche Beule und muss an Norilsk zurückdenken. An jenem Tag war mir von Gott ein langes Leben befohlen worden.
Häufig keimt die Frage auf, wie es wohl gelungen sein mag, Ereignisse von so einem Umfang und Maßstabs im Gorlag zu organisieren. Geschah alles ganz spontan und war vielleicht überhaupt nicht organisiert? Die Antwort lautet so: ganz von selbst wäre überhaupt nichts passiert, schon gar nicht unter Lagerbedingungen. Dem Aufstand gingen nicht wenige Vorbereitungsmaßnahmen voran.
Das Häftlingskontingent des Gorlag bestand aus Teilnehmern an der nationalen Widerstandsbewegung der baltischen Staaten, der Ukraine, besonders dem Westteil und dem westlichen Weißrussland sowie Ländern, die nach dem Krieg unter die Kontrolle der UdSSR geraten waren. Unter ihnen befanden sich Offiziere und Soldaten, die an der Front gewesen waren, ehemalige Kriegsgefangene, Leute, die während des Krieges von den Deutschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht worden waren, aber auch Vertreter der deportierten Völker der UdSSR: Wolga-Deutsche, Tataren, Tschetschenen und andere.
Ins Gorlag geriet ich im Dezember 1951, musste der lange in der Baracke mit verschärftem Regime bleiben. Hier diskutierten wir darüber, wieso die Masse der Gefangenen nicht bereit war, für ihre Rechte zu schützen und zu verteidigen, sondern die Erniedrigungen zu ertragen,, dass sie nicht in entscheidendem Maße handlungsbereit waren und gegen die Sklaverei keinen Widerstand leisteten. Herr der Ordnung war die Lager-Verwaltung, also die Kolonnen-Leiter, verschiedene Alltagsgehilfen, Arbeitshelfer, Kommandanten, Arbeitsanweiser, Meister, Brigadeführer und andere „pridurki“ (privilegierte Gefangene, die in der Lager-Verwaltung tätig waren; Anm. d. Übers.). Solche Ämter wurden Gefangenen übertragen, die blindlings die Befehle der Administration ausführten und nicht selten über sadistische Neigungen verfügten.
Die operative Abteilung warb in breitem Maße um Denunzianten – die einen mit Hilfe von Einschüchterungen und Drohungen sie in der Baracke mit Verschärftem Regime unterzubringen, die anderen mit einem Extra-Stückchen Brot. Man kann nicht sagen, dass alle Häftling folgsam waren: es gab Fälle von Fluchtversuchen, Nichtverlassen der Baracke zur Arbeit mit der gesamten Brigade usw. Aber dazu entschlossen sich nur Wenige, denn man wurde dafür unbarmherzig bestraft; sie versuchten einen moralisch und physisch zu zerbrechen. In Spezialzellen wurden die unglücklichen Kriminellen „bearbeitet“. Bis 1952 gab es keine Möglichkeit diesen Bearbeitungsmechanismus zu überwinden – es fehlte die Kraft und die Unterstützung der breiten Massen: sie waren dazu einfach nicht bereit.
Im September 1952 traf in Norilsk eine Etappe aus den Lagern von Karaganda ein, mehr als 1000 Mann. Dort in den Lagern herrschten Unruhen, und die widerspenstigen Anstifter und Aktivisten hatte man nach Norilsk geschickt – zur Umerziehung oder zum Aussterben, wie die Tschekisten es nannten. Nach Medweschka kamen etwa 400 Männer, ins Gorstroi, in die 4. Lageraußenstelle des Gorlag – alle übrigen. Ab dieser Zeit muss man die Geschichte des Lagerlebens auf einem sauberen Blatt Papier schreiben. Ich werde die Ereignisse in Medweschka, in der 1. Lagerabteilung des Gorlag beschreiben, insbesondere den Widerstand der Litauer gegen das Lager-Regime.
In dem Augenblick gab es1339 Litauer unter den insgesamt 19545 Gefangenen, in Medweschka – ungefähr 400. Es handelte sich bei ihnen hauptsächlich um junge Leute im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Mit der Etappe waren etwa 25 Litauer eingetroffen, verwegene, widerspenstige junge Burschen, zahlreiche West-Ukrainer, russische Frontkämpfer, Vertreter anderer Nationalitäten. Schon bald stellten wir Kontakt mit den Mitgliedern der kämpferischen Fünfergruppen für Selbstverteidigung in den Lagern von Karaganda her. Alles wurde besprochen. Die Leute begriffen, dass der Zeitpunkt mehr als günstig war, endlich mit dem aktiven Widerstand gegen das Lager-Regime zu beginnen. Man musste unverzüglich in allen Lagern des Gorlag handeln. Mit Hilfe in Freiheit lebender Mitarbeiter stellten wir Verbindungen mit den anderen Gorlag-Abteilungen her, nahmen Kontakt mit den Ukrainern auf, überredeten sie dazu, wenn nötig, gemeinsam, im Verbund mit den anderen, zu agieren.
Anfang Oktober wurden die Ankömmlinge zu Brigaden eingeteilt. In unsere Abraumhalden-Brigade kamen als Neulinge K. Wesbjargas und G. Rupis. Wir machten uns miteinander bekannt. Sie berichteten, wie sie in den karagandinsker Lagern vorgegangen waren. Aus alteingesessenen Litauern und Neuankömmlingen wurde eine Aktiv-Gruppe gegründet. Sie bestand aus: W. Subkjawitschus, B. Slatkus, M. Misjurjawitschus, B. Ramanuskas, Josas Lukschis, K. Wesbjargas, A. Waschkewitschus, K. Schalkauskas, A. Schewelinskas, A. Sinkjawitschus und I. Lenikas. Sie organisierten die ersten kämpferischen Fünfergruppen zur Selbstverteidigung. Die Ältesten waren: Lukschis (er koordinierte die Aktivitäten aller Fünfereinheiten, unterhielt die Verbindung mit den westukrainischen Aktionsgruppen), K. Wesbjargas, A. Sinkjawitschus und K. Schalkauskas. Es wurde beschlossen, nicht eigenmächtig Vergeltungsmaßnahmen durch zu führen. Die Aktivitäten wurden mit dem Widerstandskomitee des Lagers abgestimmt. Sie hielten sich an das Prinzip: Häftlinge, die sich etwas haben zuschulden kommen lassen, werden von der nationalen Gruppe bestraft; ein Gefangener soll nicht auf Kosten eines anderen leben, sondern gezwungen sein, aus eigener Kraft zu arbeiten; ferner sollten Informationen über offenkundige Helfershelfer der Lager-Verwaltung gesammelt werden.
Ich erhielt den Auftrag, mit den kaukasischen Völkern, den Muselmanen in Verbindung zu treten. In Medweschka wurde die Parade der privilegierten Gefangenen, die in der Lager-Verwaltung arbeiteten, von dem Litauer I. Misjawitschus kommandiert. Alteingesessene berichteten, dass er in den Jahren 1948-1949, während er als oberster Arbeitsanweiser tätig gewesen war, nicht selten vom Stock Gebrauch gemacht hatte. Er bekam den Spitznamen Würgeschlange, Stinktier. Der Widerstand verurteilte ihn, man sagte ihm: „Zeig‘ Reue, lass diese Arbeit sein, dann wirst Du Dein Leben erhalten“. Er antwortete, dass wir es wären, die aus diesem Leben hinweg geweht, dass wir umkommen würden. Ende Oktober wurde das gegen ihn verhängte Urteil vollstreckt…Bis zum neuen Jahr 1953 wurde das Lager von den sadistisch veranlagten Lagerleitern, grimmigen Gesinnungsgenossen der Tscheka und gewichtigen Denunzianten gesäubert. Die Atmosphäre im Lager veränderte sich , über vieles fing man an ganz offen zu sprechen, ohne Angst zu haben. Die Denunzianten-Tätigkeit unter uns war also gefährlich geworden. Durch Strafmaßnahmen verängstigt, hörten die Spitzel auf den „Gevattern“ Informationen zu liefern. Es kam vor, dass nach Ablauf einer Nacht bei den Toren der Lagerwachen die Leichen von offenkundigen Helfershelfern der Tscheka lagen. Nach Stalins Tod keimte die Hoffnung auf, dass nun die Möglichkeit bestand, auch ohne Kampf die Freiheit zu erlangen. Die Russen hofften, dass es auf friedlichem Wege gelingen würde, die Maschinerie der Gewalt zu beseitigen und das System zu demokratisieren. Wir, die Westler, glaubten nicht daran, dass sich das Regime so leicht ändern würde.
Die erwartete Amnestie betraf lediglich Kriminelle, und im Gorlag wurde das Regime verschärft, ohne Gründe wurde einfach auf die Häftlinge geschossen. Im Produktionsbereich der Erzgrube gab es Tischler-Werkstätten, die von Bronjus Ramanauskas geleitet wurden. Hier bildete sich der Widerstandsstab der Litauer. Hier wurden alle Fragen und Probleme diskutiert, hier traf man Freunde – Vertreter der Ukrainer und Russen. Dort arbeiteten sehr aktiv M. Misjurjawitschus, K. Wesbjargas. A. Sinkjawitschus und K. Schalkauskas. Da Josas Lukschis ständig in der Baracke mit verschärftem Regime festgehalten wurde, ich selber unter ständiger Wachbegleitung arbeitete und W. Subkjawitschus sich als Invalide innerhalb der Lagerzone befand, erhielten wir von ihnen Informationen in der Zone.
Die Disziplin im Lager geriet jäh ins Wanken, die Zahl der Arbeitsverweiger stieg an. Die Leute, die bei den ungelernten Hilfsarbeiten eingesetzt waren, arbeiteten ungern - wie sie sagten „nicht mit unseren eigenen Händen“; häufig beschädigten sie Werkzeug und Ausrüstungsgegenstände oder liefen untätig an den Arbeitsplätzen herum. Es wurde mehr aufgeschrieben, als sie tatsächlich an Arbeit leisteten.
Wir erörterten die Lage und fühlten dabei, dass die Tscheka einen Ausweg aus der entstandenen Situation suchte. Wir wussten, dass außer uns, den Gorlag-Insassen, im Norillag auch noch etwa 120.000 bis 140.000 Kriminelle gehalten wurden. Ihre Position bei den ganzen Widerstandsaktionen war uns nicht klar. Die Gorlag-Gefangenen arbeiteten an strategisch wichtigen Objekten. Das geförderte Erz wurde in den Aufbereitungsfabriken abgeladen, von dort kam es ins Nickelkombinat. Der Erz-Vorrat reichte für 20-25 Tage. Im Bergwerk schufteten 95% der Häftlinge, mit Ausnahme der Sprengmeister, der für die Bagger zuständigen Spezialisten und anderer. Eine Massenvernichtung von Gefangenen durfte hier nicht stattfinden: wenn hier am Bergwerk die Arbeit stillsteht, dann werden auch die Köpfe der Tschekisten rollen. So dachten und diskutierten unsere Widerstandsstrategen. Sie vermuteten, dass die Wiederholungsstraftäter im Lager versuchen würden eine Revolte heraufbeschwören, um die Aktivisten des Widerstands „zur Ader zu lassen“. Die dazu bereiten Russen, Ukrainer und Litauer könnten 100 oder mehr Kämpfer organisieren und man würde eine Reserve an kalten Waffen beschaffen. Diese Methode wandten sie im 2. Gorlag, in Kajerkan, im Kohlenschacht N° 18, an. Es kam zu einem Handgemenge, unsere Jungs erteilten den Kriminellen eine Abfuhr und jagten sie aus dem Lager. Es gab Opfer.
Am 26. Mai 1952 versuchte die Tscheka eine Opposition zwischen Kuban-Bewohnern und Tschetschen, Osseten und Awaren anzuzetteln. Zu ihrer Verteidigung erhoben sich die Muslime im Lager. Praktisch hätte es zu dem Gemetzel zwischen Westlern und Muslimen kommen sollen. Bei den Verhandlungen begriffen dann aber alle das wahre Wesen dieser Provokation und es fand keine Auseinandersetzung statt. Zwischen dem 15. und 20. Mai 1953 wurde über in Freiheit lebende Mitarbeiter der Erzgrube eine ständige Verbindung mit den anderen Gorlag-Außenstellen eingerichtet.
1991-1992 bestand die Möglichkeit, Einblick in die Dokumente des staatlichen Archiv-Fonds zu nehmen, in die Akte über die Niederschlagung des Massengehorsams der Häftlinge im Gorlag. Der operative Teil der Tscheka verfügte über ein Schema, wie man Aktivisten, Anführer und Aufwiegler entfernen und bestrafen konnte. Gleichzeitig sollte es in allen Gorlag-Außenstellen massenhaft zu Unruhen mit Blutvergießen kommen, allerdings nur für kurze Zeit, und sie sollten von Gefangenen, die geachtet waren und denen man Vertrauen schenkte, selbst organisiert werden. Davon zeugen die in der Beschwerde von I. Kasilow, Mitglied der Zweigniederlassung des Aufstandskomitees in Medweschka, gemachten Angaben.Über die in Vorbereitung befindliche „provokative Meuterei“ berichtete ihm sein Freund Stawr Woljano. Am 9. Mai 1953 wurde Woljano in den Strafisolator der 1. Lageraußenstelle gesperrt. Er erfuhr, dass im Strafisolationsgefängnis eine Gruppe Gefangener von Offizieren der operativen Abteilung und der Lagerverwaltung darüber instruiert wurden, wie und wann die Massenunruhen organisiert und die Aktion „Wolynki“ (der Eigenwilligen, Dreisten, die die Arbeitsverzögerung durchsetzen wollten; Anm. d. Übers.) beginnen würden. *
Am 22. Mai 1953 kehrte Woljano aus dem Isolator zurück. Zwischen dem 22. Und 24. Mai wurden aus der Baracke mit verschärftem Regime und dem Strafisolator des Gorlag alle Häftlinge entlassen und in die Wohnzonen des Lagers geschickt. Offensichtlich wurden im Isolationsgefängnis von Medweschka Anweisungen von Vertretern der anderen Lager umgesetzt. Im Folgenden stelle ich das dar, was ich selber gesehen habe. Am 23. Mai 1953 wurde aus Medweschka eine Etappe zur 5. Lageraußenstelle vorbereitet, etwa 40-50 Mann, zwei Fahrzeuge. Hinter den Lagertoren erschoss Oberleutnant Schirjajew einen Gefangenen, einen Baptisten, und verletzte dessen Freund schwer. Sie schossen nur auf eines der Fahrzeuge. All das sahen wir und fingen an zu toben. Unter den auf Gefangenenetappe Geschickten befand sich auch Mikas Misjupjawitschus, Aktivist des Widerstands, ein fröhlicher Bursche, hervorragender Gesprächspartner, der besondere Autorität unter den jungen Leuten genoss. Ich arbeitete mit ihm lange Zeit in der Regime-Baracke zusammen. Er hatte die Militärschule beendet, wurde 1944 nach Deutschland abtransportiert und geriet später nach Litauen. Wir alle sahen also, was sich an den Toren der 1. Lagerabteilung ereignete; die Tscheka hoffte, dass wir von den Geschehnissen in der 5. Lageraußenstelle erzählen würden. Merkwürdiger Zufall. Zum gegründeten Komitee – zu der Vertretung im 1. Gorlag gehörten S. Woljano, sein Freund A. Bykowskij und I. Kasilow. 1954 gab es an der Kolyma, im Susumansker Gefängnis, zu diesem Thema eine Unterhaltung mit dem Oberstleutnant des Ermittlungsverfahrens. Er gab zu, dass ihm die Kontrolle über die Ereignisse im Norillag entglitten wäre: „Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, dass ihr derart organisiert wart und sofort die Initiative ergreifen würdet“.
Über die Ereignisse in Medweschka erfuhren sie im Gorlag am 27. Mai. Sie diskutierten, wie sie im Folgenden mit den Vertretern aller Nationen vorgehen sollten. Aus diesem Anlass sprachen P. Frenkel und andere. Es wurde beschlossen: „ Am 1. Juli 1953 geht die erste Schicht zur Arbeit, stellt um 12 Uhr die Arbeit ein, besetzt den Produktionsbereich, stellt Wachposten auf, sorgt für Ordnung und bewacht die Räumlichkeiten sowie deren Ausstattung. Nach dem Ertönen der Sirene, erheben sich diejenigen, die sich zu dem Zeitpunkt dort befinden und komplimentieren die Aufseher und Vertreter der Verwaltung hinaus. Eine Gruppe stellt die Forderungen, mit Hinweis auf die Gründe für die Arbeitsniederlegungen, zusammen, um sie anschließend der Lager-Verwaltung auszuhändigen.
In diese Gruppe schickten die Litauer den Advokaten W. Subkjawitschus und den Geistlichen Tsch. Kawanjauskas. Um 12 Uhr, am 1. Juni 1953, heulten die Bergwerkssirenen – das war das Signal für das Einstellen der Arbeit. Die Brigaden gaben das Werkzeug zurück, stoppten die Bagger und Bohrmaschinen. Im Raum des Minen-Dispatchers richtete sich der Stab der Aufständischen ein, an dessen Spitze Michail Ismajlow stand, ein ehemaliger Frontsoldat und Offizier. In der Mine blieben etwa 1200 Mann zurück. Mehrere hundert Gefangene, Schurfgräber und Angehörige der Brigaden für ungelernte Hilfsarbeiten, kehrten in die Wohnzone des Lagers zurück. Die Mine war vom Wohnbereich durch einen Stacheldrahtzaun abgeteilt. Es bestand die Möglichkeit hier Informationen auszutauschen.
Die in der Bergwerkszone zurückgebliebenen Litauer suchten in der Werkstatt-Kantine Zuflucht. Von den Aktivisten blieben dort B. Ramanauskas, A. Sinkjawitschus und W. Wodsinskas. Am 3. Juli wurde in Medweschka die Vertretung eine Aufstands- und Streikkomitees gegründet. Für den Vorsitz des Komitees wurde P. Frenkel vorgeschlagen. Eben falls dazu gehörten M. Michajlow und B. Galema, die unser Vertrauen genossen und der Widerstandsbewegung bekannt waren. Die übrigen, I. Kowalenko (ehemaliger Arbeitsanweiser), Woljano, Bykowskij und noch ein paar weitere Vertreter aus den Baracken waren als nicht so vertrauenswürdig eingestuft. Es wurde beschlossen, dass sie im Hinblick auf Konspiration nicht an der Arbeit im Komitee beteiligt werden sollten. Es wurden Forderungen gestellt – Entscheidungen getroffen. Um deren Ausführung zu kontrollieren, die Wachen zu lenken und die Ordnung im Lager zu wahren, zog der Widerstand etwa 300 aktive Burschen aus ihren Reihen heran. Nach den provokativen Versuchen, am 4. Juni das Lager-Krankenhaus in Brand zu stecken, übertrug man mir die Verantwortung für den Brandschutz und die allgemeine Ordnung im Lager.
Das Arbeitszimmer des operativen Bevollmächtigten der Tscheka wurde geöffnet. Dort fand man ein Telefonkabel, welches Norilsk mit der Garnison verband. Unsere gefangenen Telefon-Spezialisten besaßen ein besonderes Hörrohr; sie schlossen es an, hörten die Gespräche ab und zeichneten sie auf. Bei uns versahen den Dienst Josas Lukschis und K. Schalkauskas. Wir erfuhren, dass zusätzliche Truppen eintreffen würden; in der Fabrik war man in Sorge darüber, dass die Erzvorräte zur Neige gehen könnten und die Nickelfabrik möglicherweise den Betrieb einstellen müsste.
Am 8. Juni verweilte eine Kommission aus Moskau mit Kusnezow an der Spitze für zwei Stunden im Lager. Die Verhandlungen mit ihr führten P.Frenkel, M. Ismajlow und I. Kasilow. Sie machten sie mit den Forderungen der Häftlinge vertraut. Man versprach, einige davon an Ort und Stelle zu erfüllen, aber andere, wie beispielsweise die Überprüfung der Ermittlungsakten, mussten in Moskau entschieden werden. Sie verlangten, dass wir am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen sollten – und wurden ausgepfiffen. Die Gefangenen skandierten: „Freiheit oder Tod!“ – Die Kommission fuhr ab und wurde nicht mehr gesehen.
Es gab Versuche von Soldatentrupps, den Zaum um die Wohnzone zu durchtrennen und so in das Innere der Zone einzudringen. Aber unsere Wachen schlugen Alarm und versperrten den Durchlass mit ihren Körpern. Der Offizier befahl das Feuer zu eröffnen. Die Soldaten kamen ganz dicht heran. Die Gefangenen schrien:
- Soldaten, tötet uns nicht. Hier befinden sich eure Nachbarn, Verwandten und vielleicht sogar Eltern und Brüder. Begeht kein Verbrechen.
Die Soldaten ließen ihre Gewehre sinken und blickten nach unten. Der Offizier führte die Truppe fort. Vielleicht war das nur eine psychische Attacke gewesen? So etwas geschah auch an der Mine**. Dort umzingelten Soldaten etwa 200-300 Mann. Ein Offizier befahl ihnen Aufstellung zu nehmen und die Bergwerkszone zu verlassen. Sie kamen der Aufforderung nicht nach. Der Offizier trat mit seiner Nagan-Pistole in die Menge, schoss ein paar Mal in die Luft und gab dann das Kommando:
- Alle in Fünferkolonnen aufstellen.
Wir setzten uns auf den Boden.
Er brüllte:
- Aufstehen!
Schnell erhoben sich alle, umstellten den Offizier ganz eng und sagten:
- Ein Schuss, und deine Leiche wird die erste sein.
Wir näherten uns den Soldaten, um diesen nicht den notwendigen Zeitraum zum Schießen zu verschaffen. Der Offizier erteilte den Soldaten den Befehl:
- Auf der Straße Aufstellung nehmen!
Dann ließen sie den Offizier gehen. Die Freien hatten alles gesehen, drückten uns die Hände. Diese Soldaten waren alle blondhaarig; sie wurden durch Zugereiste aus den Republiken Mittel-Asiens ersetzt.
Am 12. Juni stellte man uns ein Ultimatum: wir sollten am nächsten Tag den Lagerbereich verlassen. Aus den Lautsprechern an den Pfosten redeten sie Tag und Nacht, drohten mit Haftstrafen. Auf einer nächtlichen Sitzung trafen wir die Entscheidung uns der Forderung unterzuordnen. Dafür sprachen sich fast alle Vertreter der Gruppe aus. Am 13. Juni traf Kusnezow ein; er schlug per Lautsprecher vor das Lager zu verlassen, Fenster und Türen einzutreten und die Mitglieder des Komitees zu töten. Gegen 12 Uhr verzog sich der Nebel. Wir sahen, dass das Lager von Soldaten umstellt war, es waren viele Soldaten und überall standen Geschütze. Die Anhänger des Widerstands liefen am Morgen durch alle Barackensektionen, teilten mit, dass man sich der Entscheidung nicht widersetzen sollte. Etwa gegen 13 oder 14 Uhr durchbrachen die Soldaten an zahlreichen Stellen den Stacheldrahtzaun. Gewehrschützen drangen in die Lagerzone ein. Sie schossen in die Luft und trieben alle in die Baracken. Die Soldaten kamen herein; sie waren mit kurzen Bajonetten bewaffnet und nahmen eine Baracke nach der anderen ein. Ich sagte etwas zu einem der Soldaten und bekam sogleich einen Bajonettstoß in die Seite verpasst.
Hinter den Lagertoren wurden wir zu jeweils 100 Mann in Fünferreihen aufgestellt. An den Toren stand die ganze Meute: Tschekisten, Kriminelle, die mit der Lagerleitung zusammenarbeiteten, Denunzianten, alle, die zuvor aus dem Lager fortgelaufen waren. In der Fünfergruppe stand ich neben dem mir bekannten Ukrainer Fjodor aus dem karagandinsker Häftlingstransport. Wir beiden wurden von den übrigen 4000 Häftlingen abgesondert, und es wurden noch weitere 189 Gefangene ausgesucht; dann brachten sie uns in einer erst kürzlich gebauten Baracke unter, die noch nicht vollständig eingerichtet war. Dort verbrachten wir insgesamt 12 Tage, bis man für uns ein kleines Lager-Isoliergefängnis eingerichtet hatte. So verabschiedeten wir uns von Medweschka, vom Gorlag. Mir kommen Verszeilen unseres Poeten in den Sinn:
Wir waren keine Häftlinge, sondern Kriegsgefangene,
Die Körper waren erschöpft, aber der Geist heldenmütig …
* Es war so, dass sich in der Nachbarzelle Woljano befand. Dass es Löcher in der Wand gab, so dass er beobachten und hören konnte, was dort vor sich ging, ist zeimlich unwahrscheinlich.
** W. Wodsinskas berichtete darüber.