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„Kleine“ Willkür vor dem Hintergrund des blutigen Terrors

Meine Mutter, Maria Andrejewna Gartwig (Hartwig; Mädchenname Legler) wurde 1926 in einem Dorf in der Region Saratow geboren. Ich kann mich noch erinnern, dass Mama das Dorf „Krasnaja Poljana“ („Rote Waldwiese“; Anm. d. Übers.) nannte. Die Dorfbewohner waren etwa zur Hälfte Ukrainer und Deutsche. Alle arbeiteten in der Sowchose, sie lebten friedlich und einträchtig miteinander.

Mutters Vater – mein Großvater Andrej Bogdanowitsch Legler, war Vorsitzender des Dorfrats. In der Familie gab es vier Kinder: meine Mutter war die Älteste, und dann waren da noch drei jüngere Brüder. Im Sommer 1941 arbeitete Mutter bereits als Melkerin in der Sowchose.

Nach der Verabschiedung des Ukas über die Deportation der Wolga-Deutschen im August 1941, organisierte mein Großvater Fuhrwerke zum Abtransport aller deutschen Familien bis zur Bahnstation. Seine Familie fuhr als letzte. Aber nirgends konnten sie in dem Moment ihre Tochter finden – meine Mama. Und so mußten sie sich ohne ihre Tochter auf den Weg machen. Und als die Tochter ins Dorf zurückkam, seufzten und jammerten die ukrainischen Nachbarn: „Du hättest sehen sollen, Maria, was sie mit deiner Mutter gemacht haben! Lange haben sie dich gesucht, und um nicht die ganze Familie zugrunde zu richten, sind sie schließlich ohne dich abgefahren“.

Sie erinnerten sich daran, dass der Dorfratsvorsitzende in der Eile auch sein Reisegeld nicht bekommen hatte. Sie hoben ihr das Kleid hoch und wickelten die Geldscheine um ihren Körper. Dann gaben sie ihr ein Pferd, und ohne Sattel ritt sie, zusammen mit dem Nachbarsjungen, zur Bahnstation.

Das Herz sprang ihr fast aus der Brust – vielleicht, weil sie so schnell geritten waren, oder vor lauter Angst, dass sie ihre Familie nicht wiedersehen würde. Wie sollte sie denn allein leben? Und wo?

Am Bahnhof hatte ihre Verladung auf Viehwaggons zum Glück noch nicht begonnen, so dass Mama ihre Angehörigen bald ausfindig gemacht hatte. Nach der unbeschreiblichen Freude, das von lautem Weinen und vielen Tränen begleitet war, nahm Mama den Vater ein Stück beiseite und gab ihm das Geld, was sich für die Fahrt als äußerst nützlich erweisen sollte.

Unter solchen schwierigen Bedingungen waren sie lange nach Sibirien unterwegs; von vielen wurde schon berichtet, wie viele krank wurden und starben, wie schwer sie sich in ihr neues Leben hineinfanden, wie sie an ihrem neuen Bestimmungsort wieder ganz von Null anfangen mußten, nachdem sie in ihrer Heimat alles hatten im Stich lassen müssen. Meine Aufgabe ist es darüber zu berichten, was meine Mama darüber hinaus noch alles durchmachen mußte.

Gerade erst hatten sie sich ein wenig eingelebt, als sie den Großvater in die „Trudarmee“ – die Arbeitsarmee – holten, eine Arbeitskolonne innerhalb des GULAG-Systems, die den Erziehungs- und Arbeitslagern des NKWD der UdSSR angeschlossen war. Er kam in ein Bergwerk am Fluß Petschora. Mama arbeite, so wie früher, als Melkerin, diesmal allerdings in der Region Omsk.

Am 28. Juni 1928 wurde Mama 16 Jahre, und bereits in den ersten Julitagen wurde auch sie in die Arbeitsarmee mobilisiert, genau wie zuvor der Großvater; aber man schickte sie ins Wolga-Gebiet.

(Die Regierung des Landes, welche die Zwangsumsiedlung rechtfertigte, beschuldigte im Text des Ukas über die Deportation alle Deutschen, ausnahmslos und ohne Unterschiede zu machen, des Verrats und bezeichnete sie als Handlanger des Feindes. Aber anstatt sie weiter von der Front und damit der faschistischen Armee entfernt zu halten, um eine Kontaktaufnahme mit den Faschisten zu verhindern, schickten sie Männer und junge Leute wieder zurück, Nähe an die Frontlinie heran, wobei sie die Mütter mit ihren kleinen Kindern in möglichst frontfernen Bezirken festhielten. Wo ist da die Logik?! Schon darin sieht man die Verlogenheit der grundlosen Anschuldigungen).

... Meine Mutter geriet in das Tschuwaschendorf „Ibrjaikino“ im Gebiet Kujbyschew (früher Samara), wo fast niemand Russisch sprach. In der Region Samara gibt es auch heute noch zahlreiche Dörfer, die vorwiegend von Menschen einer einzigen Nationalität besiedelt sind (Mordwinen, Tataren, Tschuwaschen und andere). Die Mutter kam als einzige hierher; man setzte sie einfach ab, und dann vergaß man sie. Einen Monat lang vagabundierte sie in dem ihr fremden Dorf herum – ohne Essen, ohne ein schützendes Dach über dem Kopf. Sie ging von Haus zu Haus und bat um Arbeit. Der eine hatte Holz, das gehackt, der andere einen Fußboden, der gewischt werden mußte, bei einem dritten war das Getreide vom Unkraut zu säubern – und dafür gab man ihr etwas zu essen. Auch wenn es Sommer war – in der Nacht, wenn sie sich zum Schlafen auf die nackte Erde legte, war es kalt und unheimlich. Manchmal erbarmte sich bei schlechtem Wetter jemand und ließ sie in seiner Scheune übernachten. Schließlich konnte sie diese Erniedrigung, dieses schmutzige Hungerdasein, nicht länger ertragen und begab sich zur Bahnstation. Ohne einen einzigen Groschen in der Tasche, gelang es ihr, auf Güterwaggons bis zu ihrer Mutter und den Brüdern zu kommen. Es stellte sich heraus, dass man ihre Kuhherde noch keiner anderen zur ständigen Pflege überlassen hatte, und so begann sie wieder als Melkerin zu arbeiten. Aber die Freude über die gelungene Rückkehr währte nicht lange ...

Es war noch nicht einmal ein Monat vergangen, als NKWD-Leute kamen, ihr „unter die Arme griffen“ und in unbekannter Richtung mit ihr davonfuhren. Mutter und Tochter sahen sich nie wieder, und auch ihren Vater sah das Mädchen nicht mehr. (Und ich habe keine meiner Großeltern jemals kennengelernt; und sie mich auch nicht. Zu der Zeit, als endlich wieder die Möglichkeit eines Wiedersehens bestand, waren sie alle längst tot).

Es gab einen Prozeß, Mama wurde verurteilt weil sie desertiert war. Ein Jahr saß sie im Lager. Anschließend wurde sie unter Wachbegleitung erneut in das Gebiet Kujbyschew, in die Stadt Pochwistnewo, gebracht. Damals hatte man bereits Baracken hinter Stacheldrahtzäunen errichtet, es gab Arbeit und Verpflegung. Die Arbeit war natürlich die schwerste, die man sich vorstellen kann - bis zu 16 Stunden am Tag; und das Essen – verständlich, was das für ein Essen war (für Volksfeinde hinter Stacheldraht). In Pochwistnewo lebte Mama für den Rest ihres Lebens. Und die Stelle, an der damals die Stadt mit deutschen Trudarmisten so dicht besiedelt war, nennen die Bewohner bis heute Berlin, wenngleich dort jetzt Menschen ganz unterschiedlicher Nationlitäten wohnen.

... Ruhig verlief Mamas Erzählung ab jenem Tag, aber an einer Stelle began sie dennoch heftig zu weinen. Als sie auf meine unglückliche Kindheit zu sprechen kam, an die ich mich schon fast nicht mehr erinnern kann. Besonders daran, wie sie mich als Zweijährige in der Erdhütte, in der wir damals hausten, am Bett festband und dann für einen ganzen langen Tag fortging, um ihre Zwangsarbeit zu verrichten... Nichts ist schlimmer für eine Mutter, als ihre eigenes Kind leiden zu sehen. Selbst ein halbes Jahrhundert danach, muß sie immer wieder daran denken, und offenbar war dies noch viel schlimmer, als all der andere Kummer und Gram. Dieser Bericht meiner Mama versetzte mich in einen Schockzustand. Aber über eine Sache habe ich damals gefreut. Darüber, dass Mama bei allem noch so glimpflich davon kam, weil sie für ihr Desertieren mit nur einem Jahr Gefangenschaft bestraft wurde.

Aber jetzt, nachdem ich all diese Ukase und Anordnungn des Staatlichen Komitees für Verteidigung über die Deportation der Wolgadeutschen und die Mobilisierung der deutschen Umsiedler gelesen habe, habe ich entdeckt, dass sie im Juli 1942 weder das Recht dazu besaßen, ein 16-jähriges Mädchen in die Arbeitsarmee einzuziehen. noch es wegen Fahnenflucht zu verurteilen, denn in der ersten Anordnung des Staatlichen Komiees für Verteidigung „Über die Mobilisierung deutscher Umsiedler“ vom 10. Januar 1942 heißt es eindeutig, dass nur Männer im Alter zwischen 17 und 50 Jahren einzuziehen sind, und diese Vorschrift war bis zum 7. Oktober 1942 gültig. Erst mit der zweiten Anordnung des Staatlichen Komitees für Verteidgung „Über eine zusätzliche Mobilisierung“, die am 7. Oktober 1942 inkraft trat, konnten zusätzlich auch deutsche Frauen im Alter von 16 bis 45 Jahren und Männer von 15-16 in die Arbeitsarmee geholt werden.

Ich nehme an, dass der Fall mit meiner Mama nicht der einzige dieser Art war. Nur haben viele bis heute nicht dies Anordnungen durchgelesen und konnten somit auch nicht diese „kleine“ Willkür vor dem Hintergrund des im Lande herrschenden Terrors aufdecken.

In ziemlich naiver Weise habe ich bislang geglaubt, dass die Repressionen des totalitären Regimes lediglich aus Sicht der heutigen, allgemein menschlichen Lebensnormen als ungesetzlich gelten, in jenen Jahren jedoch, nach den in der UdSSR herrschenden juristischen Normen durchaus gesetzlich waren. Ich habe mich geirrt.

Daraus läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, dass sogar die drakonischen Normen jener Zeit verletzt und übertreten wurden, und niemand mußte sich davor fürchten, dafür die Verantwortung tragen zu müssen.

Ich wünsche mir sehr, dass allen, die den Menschen ganz bewußt einen solche Schaden zugefügt haben, das bekommen, was sie verdient haben.

E. Zuzkarewa (Gartwig/Hartwig)
StadtKrasnojarsk
25.03.2009


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