Diese Zeilensind
wie das Stöhnen der so früh
In der Einöde, hinter Stacheldraht,
Verstorbenen …
Seit jenen tödlichen Zeiten,
Und auch heute noch,
Sind die Herzenswunden nicht vernarbt.
Nora Pfeffer
Als ich das Manuskript zu dem Buch „Schneestürme“ für den Druck vorbereitete, geriet mir eine Auswahl von Gedichten der Deutschen Nora Pfeffer in die Hände, einer ehemaligen Gefangenen des NorilLag, Urenkelin eines Katholikos (katholischer Patriarch; Anm. d. Übers.) in Grusinien (Georgien; Anm. d. Übers.), die in der Zeitschrift „Völkerfreundschaft“ veröffentlicht worden war. Und ganz unfreiwillig mußte ich daran denken, wieviele talentierte Menschen unterschiedlicher Nationalität das Schicksal in diese nördlichen, eisig-unwirtlichen Gefilde stieß . …
Ich erinnere mich daran, wie ich vor einigen Jahren beschloß, den verbleibenden Teil meines Urlaubs auf der Halbinsel Tajmyr zu verbringen; ich flog also dorthin, um meinen Freund, den Poeten und professionellen Pelztierjäger Sergej Lusan an den Chantajsker Stromschnellen zu besuchen, wo er zu dem Zeitpunkt arbeitete. Es herrschte bereits tiefster, vorwinterlicher Herbst, und Sergej wollte mir unbedingt die unberührte Schönheit des Tajmyr zu zeigen und mich mit seinen Freunden bekannt machen, die in anderen Fischfangstationen des Chantajka-Sees tätig waren. Wir begaben uns zum Wasserfall Irkenda, besuchten Anatolij Kopylow in Kutamarakan, stiegen auf den Gipfel des Gomer-Berges, der sich am Ende des Chantajka-Sees befindet.
Auf dem Rückweg schauten wir mit dem Boot noch in der Siedlung Chantajskoje Osero (Chantajka-See; Anm. d. Übrs.) vorbei, um Lebensmittel und Schnaps einzukaufen. Als wir, bereits reichlich vollgepackt, auf unserer Route zu den Chantajsker Stromschnellen unterwegs waren, erhob sich ein heftiger Storm. Wir waren gerade bis zur Mitte des Sees gekommen, als wir von einer überschwappenden Welle überflutet wurden. Wir waren gezwungen in die Siedlung zurückzukehren.
Wir brachten unsere Sachen ins letzte Haus hinüber, wo uns die Hausbesitzerin, Pani Sosja, wie sie sich uns vorstellte, gastfreundlich aufnahm.
Ihrer Nationalität nach war sie Polin, ehemalige Gefangene des NorilLag. Wir tranken die ganze Nacht hindurch Wodka, lauschten ihrer schlichten Erzählung über ihr Schicksal und hörten uns Gedichte von Mizkewitsch in polnischer Sprache an. Hätte ich mir jemals vorstellen können, daß ich irgendwo am Ende der Welt in einer nationalen Siedlung Verse von Mizkewitsch in reinem Polnisch zu hören bekommen würde? Später stellte sich heraus, daß sie zu denen gehört hatte, welche die berühmte Sewastopoler Straße in Norilsk gebaut hatten, in der ich heute wohne. Ja, man weiß nie, wohin der Weg des Herrn einen führt ….
Nora Pfeffer wurde in Tbilissi geboren. Sie besuchte eine deutsche Schule, deren Direktor 20 Jahre lang ihr Vater war, bis sie ihn und Noras Mutter in einer unglückseligen Nacht des Jahres 1935 verhafteten. Und von dem Augenblick an mußte Nora alle Sorgen um die ganze Familie auf ihre schwachen Schultern laden. Mit Nachhilfe-Unterricht verdiente sie sich ein wenig nebenbei, sie gab Stunden in Deutsch und Musik, ging weiter zur Schule und stand in den endlosen Schlangen vor den Toren des Gefängnisses in der Hoffnung, daß sie dort ein Paket für ihre Eltern annehmen würden.
Sie immatrikulierte am Pädagogischen Institut für Fremdsprachen in Tbilissi, an der Fakultät für englische Sprache und Literatur, und erhielt die Erlaubnis, an der Fakultät für deutsche Sprache und Literatur als Externe (im Fernstudium) zu studieren. Und nach dem zweiten Semester rief der Dekan sie zu sich und verlangte mit abgewandtem Blick von ihr, sich von ihren Eltern loszusagen. Nora tat es nicht. Sie wurde vom Verbleib am Intitut und der Musikschule am Konservatorium, das sie bereits absolviert hatte, ausgeschlossen. Gegen Ende des folgenden Studienjahres, als der große Steuermann und Heerführer verkündete: „Kinder sind für ihre Eltern nicht verantwortlich!“, - wurde Nora am Institut wieder aufgenommen.
Innerhalb von zwei Monaten absolvierte sie die Examina für zwei Jahre an beiden Fakultäten. Und ein Jahr darauf heiratete sie und bekam einen Sohn. Und schon hörte man das Donnergrollen des herannahenden Krieges.
Der Ehemann wurde eingezogen und mußte an die Front. Noras Mutter war zu der Zeit bereits aus der Haft zurückgekehrt.
Am 19. Oktober 1941 wurden alle deutschen aus Tbilissi unter Wachbegleitung deportiert. Nora, als Ehefrau eines Georgiers, durfte bleiben. Und auch den kranken Großvater, einen alten Mann, der sich kaum bewegen konnte, ließ man dort.
1943 erhielt sie die Nachricht, daß ihr Mann schwer verwundet worden war.
Sie hatte bereits die Fahrkarte in der Hand, um ihn im Hospital zu besuchen – da starb der Großvater, und in der Nacht nach dessen Beerdigung wurde Nora festgenommen. Das kleine Kind blieb in den Armen der Haushälterin des Urgroßvaters zurück – des Katholikos von Georgien.
Verurteilt wurde sie nach §§ 58-10 und 11 zu 10 Jahren Haft sowie 5 Jahren anschließender Verbannung mit Entzug aller Rechte.
Sie befand sich in den Mariinsker Lagern in Sibirien in der Holzfällerei und
im Norilsker Lager in Dudinka, in der Tundra mußte sie mit einer Spitzhacke den
gefrorenen Boden aufmeißeln …
Ihre Verbannungszeit verbrachte sie in einer der Kolchosen Nord-Kasachstans, wo
sie Kälber hütete.
Ihrer Feder entstammen ungefähr 20 Sammelbände mit Kindergedichten und Märchen in Versform sowie lyrische Sammelwerke.
Und dies war nicht allein das Schicksal der Nora Pfeffer. Hunderte und tausende Menschen mußten den gleichen „Fleischwolf“ durchlaufen.
Nicht zufällig sind auf der Gedenkplatte, die den Häftlingen des NorilLag gewidmet ist, auf dem ersten Norilsker Friedhof die Gedichtverse eingemeißelt:
Hier wurden heimatliche Gedanken und Ehre
Vor dem endgültigen Ende herausgeprügelt.
Wieviele starben in den Sümpfen –
Es kann sie schon niemand mehr zählen …
J. Barijew
„Norilsker Memorial“, Ausgabe 3, Oktober 1996
Herausgeber: Vorstand der Norilsker Organisation des Allrussischen „Memorial“
und des Museums für die Geschichte der Erschließung und Entwicklung des
Norilsker Industriebezirks.