Wenn ich auch ein Mann bin, so fühlte sich doch mein Herz zutiefst verletzt und gekränkt, als ich mich an das Leben meines Schwagers Semjon Politowitsch erinnerte. Er war ein stiller und gewissenhafter Arbeiter. Einige Jahre lebte er in der Familie des Vaters, und erst nach dem Deutschen Krieg, als die Söhne sich anschickten nach Hause zurück zu kommen und der Vater mit den beiden jüngsten Söhnen in einem neuen, gerade erst fertiggestellten Haus blieb, übergaben sie Sohn Semjon das alte Häuschen, ein paar Stück Vieh und einen kleinen Speicher mit Getreide. Aber er lebte dort nur für eine sehr kurze Zeit. Dann kehrte die Revolution das Unterste zuoberst, alles wurde anders, und auf diese Weise gelang es nicht, so zu leben, wie man wollte. Viele Bauern ließen ihre Häuser im Stich, zogen in die Städte um und begannen in staatlichen Einrichtungen zu arbeiten, Straßen und Fabriken zu bauen. Aber mein Schwager saß in seinem Dorf Teleutskaja und saß dort so lange, bis man ihn 1930 ins Gefängnis steckte, das Vieh und das Getreide beschlagnahmte und alles an die Armen verteilte. Im Frühjahr wurde allen wohlhabenden Familien befohlen sich bereit zu machen, um am folgenden Tag ihre Häuser zu verlassen und an einen neuen Wohnort zu fahren. Und einige Familien, unter ihnen auch Semjon, wurden angewiesen, Kleidung, Schuhe und eine Tasche voll getrocknetem Brot mitzunehmen, soviel sie tragen konnten. Aber bei so einer Sache nimmst du nicht viel mit. Man setzte sie auf Fuhrwerke; sie nahmen Säcke mit Lebensmitteln mit, zogen die mitgenommene Kleidung gleich an, verließen ihr eigenes Haus und fuhren in die freien Felder oder in den dichten Wald hinaus. Ich fahre fort mit den Worten, die mir durch die Schwester meiner Ehefrau, Finonja Klementewna (Kornilowa) Ilina, übermittelt wurden: „Semjon wurde noch im Herbst 1930 verhaftet und ins Gefängnis der Stadt Kamen gesperrt; und im Frühling 1931 holten sie seine Familie zusammen, und, nachdem die Flußschiffahrt nach der winterlichen Vereisung wieder freigegeben war, begann mit dem Einsatz der ersten Dampfer die Verladung der lebenden Menschenware. Aus dem Dorf Teleutskaja sollten die Menschen bis in die Stadt gebracht werden, aber tatsächlich wurden sie in der Steppe abgeladen – das war noch 5 Kilometer von der Stadt entfernt. Hier fingen sie an sich Zelte zu bauen – jeder aus dem, was er gerade bei sich hatte: Läufer, Oberbekleidung – all das wurde für die Hütten mit herangezogen. Dort waren junge Frauen, deren Kinder schrieen und am Erfrieren waren. Aber was konnte man tun? Auch weglaufen war nicht möglich – überall standen Soldaten mit Gewehren. Wer flieht, wird erschossen, aber den Tod fürchten wir doch alle, und deshalb ertragen wir all die Kränkungen und sogar Schläge – aber bloß nicht sterben. Das gehört alles zur göttlichen Prüfung für unsere großen Sünden.
Und so stehen wir vor eben dieser Stadt, aber in die Stadt hinein lassen sie uns nicht. Hier saßen wir 12 Tage unter freiem Himmel fest. Der Frühlingswind blies, nachts war es kalt, ein Lagerfeuer gab es nicht. Endlich erteilte man den Befehl zum Aufbruch und zum Besteigen der Fuhrwerke. Aus allen Dörfern hatten sie nach und nach die Menschen zusammengeholt. An die tausend Familien waren wohl zusammengekommen, mit Kindern gerechnet etwa 3000-4000 Menschen. Wir wurden zum Ufer gebracht; aus den umliegenden Gefängnissen trieb man die Männer heran, jedenfalls jene, die noch am Leben geblieben waren, und gab ihnen das Kommando sich zu ihren Familien zu zerstreuen und das Gepäck auf die Lastkähne zu laden. Alle wurden vollständig untergebracht. Es herrschte Feuchtigkeit auf dem Kahn, es war kalt, aber wenigstens konnten Wind und Regen nicht durchdringen. Und als sie sich gerade alle hingesezt hatten, kam der namentliche Appell.
Sie fuhren den Fluß Ob abwärts, in Richtung auf das Eismeer. Bis in die Taiga brachten sie uns und setzten uns dann nachts einfach am Ufer ab. Es war stockdunkel, nichts war zu erkennen; auf der einen Seite steigt das Frühjahrshochwasser, und man mußte zusehen, daß man nicht unterging oder mit fortgeschwemmt wurde; und auf der anderen Seite des Ufers ein steiler Abhang. Die Leute schreien, versuchen hinaufzuklettern - als ob sie das könnten. Tausende von Menschen, es ist schrecklich, was da in jener unglückseligen Nacht vor sich ging. Kaum wurde die Morgendämmerung abgewartet, da kletterten auch alle übrigen ans Ufer, und jeder schleppte das, was er hatte, irgendwo anders hin. So viele Menschen fielen in den Wald ein, daß man nicht wußte, wo man hintreten sollte. Die Wachmannschaften gaben Sägen an die Brigaden aus, und dann mußten sie Holz sägen. Geeignetes Holz wurde zu Stapeln aufgeschichtet, Kleinholz und Zweige wurden fürs Lagerfeuer verwendet. So stellten die Brigaden für sich nach und nach Baracken fertig, und diejenigen, die etwas kräftiger waren, bauten für ihre Familien kleine Katen.
Da begann der Hungertod die Menschen dahinzuraffen. Sie bekamen wenig Brot, 400 gr. pro Tag, und das auch nur diejenigen Arbeiter, welche die Norm erfüllten; wer das nicht schaffte, der bekam überhaupt kein Brot. Und wenn ein Arbeiter krank wurde, litt die gesamte Familie Hunger. Dann mußten sie sich etwas zusammensuchen – Kräuter, Moos, Baumrinde. Wer ein wenig überlegte, der konnte auch etwas essen. Aber in den menschlichen Därmen vermehrten sich dadurch die Krankheiten nur noch, und ganze Familien wurden vollständig ausgerottet. Und wohin sollte man auch gehen, wem etwas sagen?! Meinen Schwager ereilte offenbar auch ein verfrühter Tod. Er hätte auch noch weiter gelebt, wenn seine Kräfte ihn nicht von Tag zu Tag, von Monat zu Monat mehr verlassen hätten. Auch wenn er noch auf den Beinen stand, so wurde er dennoch immer schwächer, und nach einem Jahr fühlte er sich sehr schlecht. Totaler Kräfteverfall, Schwermut, das Leben geht zuende. Jene, die eine etwas bessere Gesundheit besaßen und noch jünger waren, die waren im Sommer noch herumgehetzt worden, aber als der Winter kam, befand sich in der Baracke schon fast keiner mehr, nur noch die Familie von Semjon. Von drei Männern aus der Baracke waren alle in verschiedene Richtungen auf und davon gelaufen, aber Semjon konnte nirgends mehr hinlaufen. Er war krank, konnte die Beine kaum bewegen. Aber mein Alterchen ging noch bis zum allerletzten Tag zur Arbeit – besserte den Arbeitern die Schuhe aus. Den Winter überstand er noch, aber zum Frühjahr hin starb er ...“