Autoren:
Fatima Alijewa, Schülerin der 10. Klasse an der städtischen Bildungseinrichtung
„Gymnasium N° 1 in Norilsk
Wissenschaftliche Leitung:
Natalia Aleksandrowna Bondarewa, Lehrerin für Russisch und Literatur der
Höher qualifizierten Kategorie an der städtischen Bildungseinrichtung „Gymnasium
N° 1“
Die Arbeit wurde angefertigt zur Verwendung für das Literarische Zentrum der städtischen budgetierten Lehreinrichtung des „Zentralen Bibliotheken-Systems“
Norilsk
2012
Aber vielleicht soll man nicht über Lager schreiben?
Und vielleicht soll man sich über den Moment erheben,
Um die Sorgen und Zweifel einfach wegzuwerfen,
Wie ein abgerissenes Kalenderblatt?...
Schreib von der Gegenwart, sagen sie,
Es entspricht nicht mehr der Mode über Lager zu schreiben.
… Ja, die Menschen rufen sich die Freiheit ins Gedächtnis zurück,
Aber sterben tun sie in den Lagern dennoch.
Kemal Malikow
Lager-Prosa – das ist nicht nur in Russland, sondern in der gesamten Welt-Literatur eine einzigartige Erscheinung. Sie wurde aus einem strapazierten Geist heraus geboren, in dem Bestreben, das Fazit aus den für das Land so katastrophalen Ereignissen zu begreifen, die sich im 20. Jahrhundert ereigneten. Daraus resultiert auch jenes moralisch-philosophische Potential, das in den Büchern ehemaliger Häftlinge des Norillag enthalten ist: Sergej Aleksandrowitsch Snegow („Norilsker Erzählungen“), Sergej (der Norilsker) Schtscheglow („Die Stalin-Prämie“), Dmitrij Aleksandrowitsch Bystroletow („Gastmahl der Unsterblichen“) u.a.
Die Grundlage für die Prosa der Unterdrückten Schriftsteller lag in ihrer schrecklichen Lager-Erfahrung: zahlreiche Todesfälle, die Qualen von Hunger und Kälte, nicht endende Demütigungen. Man musste seine Werke in aller Heimlichkeit schreiben: „Ich zerschnitt Papiersäcke, in denen sich ursprünglich Zement befunden hatte, nähte daraus gewöhnliche Schreibhefte zusammen und sagte mir: „Och, wie viel muss ich in dem Roman über Norilsk, die Häftlingserschießungen, die Opfer des Militär-Tribunals … schreiben“ [5] (Erinnerungen des ehemaligen Norillag-Gefangenen I.I. Setschko über die Arbeit Wasilij Mamtschenkos)- Später stellt A.I. Solschenitzyn mit Stolz fest: „Wer kann sich schon im Lager zum Schreiben entschließen? … In der Lagerzone geht es nicht, außerhalb davon ebenfalls nicht. Wo also soll man es tun? Einzig und allein im Kopf! Aber auf diese Weise lassen sich nur Gedichte schreiben, keine Prosa … Alles, was sich seit den 1930er Jahren unsere Prosa nennt ist nur der Schaum von einem in der Erde verschwundenen See…“ [8, S. 521].
Beim Studium der Lager-Prosa von S. Snegow machten wir uns mit einer der bittersten Episoden in der Geschichte unserer Heimat (der Epoche des Totalitarismus), der Geschichte unserer Stadt und unserer Landsleute bekannt, welche die schweren Jahre der stalinistischen Repressionen im Norillag durchgemacht haben: „… die Menschen kam auf ganz unterschiedliche Weise in diese Region: mancher einer in den grauen Kolonnen der Häftlingsetappen, andere in Komsomolzen-Einheiten mit fahnengeschmückten Schiffen. Aber sie taten alle ein und dasselbe. Sie erweckten die kalte Tundra mit ihrer Verzweiflung und ihren Flüchen, ihrem Gesang und ihren Träumen von einer lichten Zukunft“ [4, S. 3].
Der Wunsch über das Studium der Lager-Prosa unseres Landsmanns die Geschichte und Struktur der Stadt Norilsk und des Norillags im Jahre 1939 wiederherzustellen, bestimmte die Wahl des Themas und der innerhalb unserer Forschungsarbeit angewandten Methoden – des analytischen Lesens, der Vergleichsanalyse,, Aufbereitung, Auswertung und Ableitung.
Aktualität der Forschungsarbeit:
Heute ist es unerlässlich, den Menschen ihr Recht auf Erinnerung zurückzugeben.
S. Snegows schöpferisches Talent gestattete es ihm nicht nur den Lageralltag
darzustellen, sondern auch die „ewigen“ Probleme menschlicher Existenz. Das
qualvolle Schicksal des Autors, das sich in dem Sammelband widerspiegelt,
interessiert uns vor allen Dingen deswegen, weil es typisch und allgemein ist –
ein Abbild der allgemeinen Schicksale der ersten Jahrzehnte in der Existenz der
Sowjetmacht. Man kann die Lager-Prosa, die die Hölle der Gefängnisse und Lager
enthüllt, als Chronik der Tragödie bezeichnen, die sich im russischen Volk
während der Stalin-Epoche ereignete.
In unserer Forschungsarbeit stützen wir uns ebenso auf die Arbeiten von L.G. Petscherskaja - „So begann die Geschichte des Norillag“, d W.I. Bachmutow „Das Norillag des NKWD der UdSSR“, Poesie und Prosa von Gefangenen des Norillag sowie Archiv-Material.
Forschungsthema:
Lagerliteratur (Poesie und Prosa von Häftlingen des Norillag)
Forschungsgegenstand:
Lager-Prosa im Werk von S. Snegow
Forschungsziel:
Definition der Bedeutung der Lager-Literatur als Dokument der Epoche in sozialen
und historischen Aspekten
Aufgabenstellung der Forschungsarbeit
1. Bekanntmachen mit Archiv-Material und Lager-Literatur der Norillag-Häftlinge;
2.Definitiovon der Materialien aus dem Werk S.Snegows;
3. Erzählen des tragischen Schicksals eines Menschen im totalitären Staat;
4. Systematisierung des zusammengetragenen Materials, Aufzeigen der Ergebnisse
selbständiger Beobachtungen am Text mit Hilfe von schematischen Darstellungen,
Tabellen und Diagrammen.
Forschungshypothese
Die Lager-Prosa des S. Snegow lässt sich als dokumentarisches Zeugnis der
Geschichte der Entstehung der Stadt Norilsk und der Schicksale der Menschen
bezeichnen, die unbegründet Repressionen ausgesetzt waren und ins Norillag
gerieten.
Praktische Bedeutung der Forschungsarbeit
Die Forschungsergebnisse können bei weiterführenden wissenschaftlichen
Forschungen und als ergänzendes Material im Literatur-Unterricht verwendet
werden.
Sergej Snegow (Stein), ehemaliger Häftling des Norillag, Science-Fiction-Schriftsteller, Autor des Buches „Norilsker Erzählungen“, der Trilogie phantastischer Romane „Menschen wie Götter“, Erinnerungsbücher „Die Sprache, die hasst“, des Artikels „Norilsk: ich hasse und liebe es!“ und vieler anderer Bücher zählt zu den ersten Norilsker Literaten (A. N. Garri, J.A. Drabkina, D. Kugultinow, N. Pfeffer, J. Kersnowskaja, L.N. Gumiljew) und stand, wie J. Barijew anmerkt, an den Quellen der Norilsker Literatur: „… sie alle wurden zu ihrer Zeit politisch verfolgt und verbrachten die schweren Norilkser Jahre nicht aus freiem Willen im Hohen Norden … Und es ist kein Zufall, dass unser Volk sich in den ersten Jahren nach dem GULAG durch ein äußerst gehobenes geistiges und kulturelles Niveau auszeichnete, weil die aus dem Norillag freigelassen ehemaligen Gefangenen, die aus dem Milieu der Intelligenz stammten, in Norilsk wohnen blieben“ [1, S. 4]. (Anhang 1 „Sergej Aleksandrowitsch Snegow“)
Ebenso wie zahlreiche andere Schriftsteller wurde auch S. Snegow ein Opfer des Totalitarismus. Im Jahre 1937, nachdem er auf Beschluss des Obersten Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR zu 10 Jahre Lagerhaft verurteilt worden war (man hatte ihn im Zusammenhang mit den Trotzkisten angeklagt, wegen des Führens konterrevolutionärer Reden, in denen er angeblich terroristische Absichten gegen Parteileiter und Bauernschaft zum Ausdruck gebracht haben sollte), „verschickte“ man Snegow „mit einer Gefangenen-etappe“ an den Rand der Hölle: Butyrka, Lefortowo, Solowki, Norilsk…
„Milionen Angehörige der russischen Intelligenz verschlug es hierher, jedoch nicht um eine Reise zu unternehmen – sondern um verstümmelt zu werden und zu sterben, ohne jegliche Hoffnung auf Rückkehr. Zum ersten Mal in der Geschichte fanden sich Menschen, die derart entwickelt, reif und reich an Kultur waren, ohne dass sie sich etwas hätten einfallen lassen können, für immer in die Haut von Sklaven, Unfreien, Holzfällern und Schachtarbeitern. So vereinten sich zum allerersten Mal in der Weltgeschichte (in einem solchen Umfang) die Erfahrungen der gesellschaftlichen Ober- mit denen der Unterschicht!“ – schrieb A.I. Solschenitzyn in seinem Buch „Der Archipel Gulag“, [8, S. 521], das man als Anklageschrift gegen den Totalitarismus und den Stalinistischen Terror bezeichnen kann, ebenso wie den Sammelband der Erzählung von S. Snegow.
Es ist bekannt, dass „nach dem Stand vom April 1948 die Stadt Norilsk 10 Lager-Stützpunkte mit einer Reihe von Nebenlagern in sich vereinte (8 in Norilsk, 1 in Krasnojarsk, 1 in Dudinka) sowie 18 separate Lagerpunkte (13 in Norilsk und jeweils 1 in Krasnojarsk, Igarka, der Siedlung Kajerkan sowie den Ortschaften Schuschenskoje und Atamanowo)“ [2]. Snegob traf viel früher im Norillag ein - am 16. August 1939: zusammen mit fast 4000 Gefangenen brachte man ihn nach Dudinka zur Holzabfuhr (Stückgut-Frachter) „Semjon Budjonnyi“.
Im Vorwort zu seinem Sammelband unterstrich der Autor den autobiographischen Hintergrund seiner Erzählungen: „Als Grundlage dienen Ereignisse, deren Zeuge beziehungsweise Teilnehmer ich selber war. Nur in seltenen Fällen habe ich mir gestattet über etwas zu schreiben, was andere Teilnehmer an den Ereignissen mir übermittelt haben. Dementsprechend sind auch die Nachnamen der Helden der Erzählungen authentisch – Ausnahmen sind selten und in den meisten Fällen abgesprochen“.
Für die künstlerische Beschreibung des Autors finden wir auch dokumentarische Bestätigung: „Auf dem Territorium des heutigen Norilsk lag einst eines der größten Lager – das sogenannte Norillag, welches speziell zum Zwecke der Realisierung des Regierungsprogramms der industriellen Erschließung einiger Bezirke der Region Krasnojarsk geschaffen wurde, Bezirke, die reich an Erz- und Kohlevorkommen sind. 1935 wurde vom Rat der Volkskommissare die Anordnung über den Bau eines Nickel-Kombinats auf Norilsker Gebiet verabschiedet. Und zur selben Zeit wird auch der Beschluss auf den Weg gebracht, dass Gefangene dieses Kombinat errichten sollen“ [3].
Auf diese Weise basieren die „Norilsker Erzählungen“ auf der Grundlage dessen, was S. Snegow selber erlebt hat, und zeigen den Aufenthalt in den Lagern, die über das ganze Land verstreut waren.
Das Hauptthema der „Norilsker Erzählungen“ sind die „tiefsitzenden Seelen-Qualen der Häftlinge“, hunderter und tausender Opfer einer nie dagewesenen Willkür und grenzenloser Gesetzlosigkeit, welche in sich „sowohl den Glauben an die hohen Ideale des Sozialismus, als auch die Treue gegenüber ihrem Land wahrten: ihre Freiheit hatten sie verloren, aber ihr Gewissen und ihre Überzeugung gaben sie nicht auf“: „Menschen, die man zu Volksfeinden erklärt hatte, bewahrten in ihren Herzen die Liebe zu ihrem Volk. Das mag einem paradox erscheinen, aber es ist so gewesen“ [6].
Im Norillag lernte der Autor bedeutende Menschen kennen, die ebenfalls dort ihre Strafe verbüßten. Er erinnerte sich: „Ich muss sagen, dass ich weder vor, noch nach der Zeit im Norillag einen derart konzentrierten Haufen kluger Köpfe an ein- und demselben Ort betroffen habe… Wir hatten uns im Lager angefreundet, hatten unseren eigenen Kreis, waren unter uns. Lew Gumiljew… ein glänzender Poet, gab seinen literarischen Wirkungskreis zum Nutzen der Wissenschaft auf … Jewgenij Sigismundowitsch Reichman - …ein intelligenter Brückenbau-Ingenieur. In seiner Freizeit, wenn er nicht gerade mit seiner Arbeit beschäftigt war, schrieb er zur seelischen Erbauung ein Büchlein über die Wandmalereien in den Schloss-Sälen von Versailles und den Einfluss der italienischen Renaissance auf diese Malereien… Viktor Petrowitsch Krasowskij – Professor, Doktor der Wirtschaftswissenschaften…“ [7]. Alle diese Leuten sollten früher oder später in den Helden der Werke S.Snegows ihre Widerspiegelung finden.
Die Aufmerksamkeit des Autors ziehen die Charaktere jener an, die sich im Lager befinden, ihre schwierigen, tragischen Biographien. Vor uns ziehen in einer nicht enden wollenden Reihe viele Schicksale unterschiedlicher Menschen vorüber: nicht nur im ganzen Sowjetlande bekannte Ingenieure, Chirurgen, Energiewissenschaftler, Geologen, sondern auch Leute, die in ihrem „Vor-Lagerleben“ keine bemerkenswerten Spuren von sich hinterließen, die sich jedoch stark und heldenhaft beim Widerstand gegen die raue Wirklichkeit des Gefangenen-Alltags zeigten, Leute, die „aus irgendeinem Grunde als Trotzkisten oder Bucharinisten angeklagt worden waren, obwohl sie in ihrer Mehrheit weder vom Trotzkismus noch von Bucharins Weltbild auch nur die geringste Vorstellung hatten“.
„Ob man sich über diese Bekanntschaft, die unter derart tragischen Umständen zustande kam, freuen oder sie bedauern“ soll – das weiß der Autor selber nicht, aber vielen Helden (realen und (selten) erdachte Personen) verleiht er häufig eine Autoren-Charakteristik mit stark ausgeprägten sittlich-moralischen Aspekten.
Auf den Seiten der Erzählung „Was bedeutet diese Tufta (Fälschung von Zahlen und Statistiken, um das Plansoll zu erreichen, Normbetrug; Anm. d. Übers.), und wie lässt man sie funktionieren“ begegnen wir:
Aleksander Iwanowitsch Eismont, „in der Vergangenheit Ober-Ingenieur bei der Moskauer Vereinigung staatlicher Kraftwerke, Regierungsexperte in Fragen der Elektro-Installationen, ein echter Anhänger Trotzkis, der auch Lenin begegnet war; er hatte verschiedene politische Erklärungen geschrieben, irgendwelche „Plattformen“ unterzeichnet, von denen er sich, wie die meisten seiner Kameraden auch, später nicht lossagte“.
Nikolaj Nikolajewitsch Urwanzew, der in den 1920er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Norilsker Erzvorkommen erkundet und auf einem Stückchen „vereister Tundra“ mineralische Reichtümer von weltweiter Bedeutung entdeckt hatte: „Urwanzew leitete drei Forschungsexpeditionen in den Norilsker Bezirk, und an dem Tag, an dem ich mit meinen Leidensgenossen auf der von ihnen geschaffenen Straße entlang schritt, hielt er sich ebenfalls in Norilsk auf und befand sich in der gleichen elendigen Situation wie wir. Von den Erstendeckern der polaren Reichtümer hatte er sich in einen gewöhnlichen Häftling verwandelt“.
Jan Chodsinskij, ehemaliger Wirtschaftswissenschaftler, ein Mensch mit besonderer Veranlagung, über den wir aus der folgenden Erzählung des Sammelbands („Sternzeichen Wassermann“) erfahren, dass er keine Schwermut kannte: „Er steckte voller Lebensfreude und Mut. Seine Eltern hatten ihn offensichtlich nicht in dieses uns gewohnte spärliche Wässerchen der verzagten Anpassung an das Leben hineingeknetet, sondern vielmehr in ein hochwertiges Konzentrat von Optimismus. In jeder beliebigen Lage fand er irgendetwas, was einen erfreute“.
Miron Isaakowitsch Alschitz, bis zu seiner Inhaftierung Montage-Leiter in zahlreichen Kokereien, der stets in „komischer“ Kleidung herumlief: „Tweed-Mantel mit einem schalähnlichen Biberpelz-Kragen, den er aus Düsseldorf mitgebracht hatte, wo Alschitz bei Krupp die Ausrüstung für die Kokereien gekauft hatte, mit einem schmutzigen Strick als Gürtel – wie ein Franziskaner-Mönch. Und an seinem Hals baumelte als passender Ersatz für die Krawatte – ein graues Lager-Handtuch“. Doch selbst die unmenschlichen Bedingungen während des Lageraufenthalts vermochten diesen seelisch starken Mann nicht zu zerbrechen: „Er sah lächerlich in seiner halb armseligen, halb herrschaftlichen Kleidung aus… jedes Lächeln erlosch, sobald der Blick von seiner Kleidung auf Alschitz selber fiel. Mitleiderregend stand er in gekrümmter Haltung im Regen, versuchte trübsinnig sich gegen den Wind zu schützen, doch vor den Leuten stand er stets in stolzer und aufrechter Haltung… Mögen sie ihn auch in die Gefangenschaft gestürzt haben, aber sie werden aus ihm keinen anderen Menschen machen – sollen sie ruhig alle wissen, was er für einer ist!“
Und wir begegnen auch dem nicht mehr jungen Literaturkunde-Lehrer Anutschin, „mit dem sich“ der Held der Erzählung „immer mehr anfreundete“, ein „Altersgenosse des Jahrhunderts, der selber Gedichte schrieb“, von denen viele weithin bekannt waren; „außerdem gestand er ganz bescheiden ein, dass er mit Jesenin bekannt und eine Zeit lang sogar recht gut befreundet war“.
Und dann ist da noch der hochgewachsene, schlanke, „außergewöhnliche hübsche, ausgeprägte männliche Schönheit“ namens Potapow, der den Wert seines Erfindertalents gut kannte, den man sogar wegen seines „Rationalisierungsvorschlags für einen Orden vorschlagen wollte, aber dann „hängte man ihm Schädlingstätigkeit an. Er erntete keinen Orden, sondern seinen Haftbefehl“. Potapow - ein Lagerhäftling, der ein Oberkommando hätte leiten können, aber nicht eine Brigade“, machte seine bedeutendsten Erfindungen ausgerechnet in Norilsk – ein Jahr nach seiner Ankunft: „Im Winter wehten heftige Schneestürme das Norilsker Tal zu: an den Häusern türmten sich zehn Meter hohe Schneewehen auf, alle Vertiefung im Bereich der Bahnlinie waren verschüttet, die Straßen waren unpassierbar, praktisch nicht zu überwinden. Potapow konstruierte einen völlig neuen Straßenschutz vor den Schneebergen – hölzerne Schutzschilde mit „aktiver Funktion“. Hatte man früher versucht, die Wege vor dem herangewehten Schnee mit Hilfe von dichten Zäunen zu schützen, neben denen sich der Schnee dann erst recht zu hohen Wänden und Hügeln auftürmte, so stellte Potapow Schutzschilde mit Ritzen in Bodennähe auf: der Wind drang mit solcher Wucht in diese Ritzen und Öffnungen, dass sich der Schnee nicht mehr auf den Straßen häufte, sondern er von dort fortgepustet wurde – wie mit einem Drahtbesen“ [6]. Später wurde die Erfindung Potapows (der sich inzwischen wieder in Freiheit befand), „der Norilsk vor wochenlangem Stillstand auf den Bahngleisen und Straßen bewahrt „ hatte, für den Erhalt der Stalin-Prämie vorgeschlagen.
Des Weiteren begegnen wir dem aus den Reihen der Partei ausgeschlossenen „Volksfeind“ und Elektriker Aleksander Prochorow, einem Mann der modernen industriellen Kultur“, der vor seiner Verhaftung eine komplizierte Elektro-Ausrüstung in den Vereinigten Staaten beschafft hatte und dem man nach seiner Freilassung einen verantwortungsvollen Posten bei der Moskauer Hauptverwaltung anbot.
Zu nennen sind auch die gefangenen Ärzte (in der Lagersprache „Lepkoms“ genannt – was wahrscheinlich von dem Wort „lepit diagnos“ (eine Diagnose zurechtzimmern; Anm. d. Übers.) abzuleiten ist: Professor Nikischew, die Chirurgen des Kreml-Krankenhauses Rodionow und Kusnezow, Sachar Ilitsch Rosenblum und Agranowskij („von Beruf Arzt, aber ich kannte ihn als ukrainischen Feuilletonisten, der, was den Ruhm anging, gleich nach Sosnowskij, Soritsch und Kolzow kam“).
Dann war da noch der ausgezeichnete Geiger Korezkij, bei dessen Konzerten im Großen Saal der Leningrader Philharmonie es unmöglich war, noch eine übriggebliebene Eintrittskarte zu bekommen, und der heute gezwungen ist, im Lager-Club die „Zigeuner-Weisen“ von Sarasate, Bachs „Chaconne“ und die Violin-Arien von Händel und Gluck zu spielen.
Auch der alte Tschekist Jan Witos muss genannt werden der noch unter Dserschinskij arbeitete, einer von vielen „nicht mehr jungen Menschen, die von den alle menschlichen Kräfte übersteigenden Erdarbeiten nach mehreren Jahren Gefängnishaft und dem anschließenden mühsamen Schwimmen im Ozean stark geschwächt waren“, und der im Norillag „nicht einmal bis zum Herbst durchhielt“.
Schließlich verurteilten sie in Moskau den Autor selbst, dessen künstlerischen Werke später in 10 Sprachen übersetzt werden, den sie in Leningrad „holten“, so dass er drei Jahre lang „nicht mehr aus den unterschiedlichsten Zellen – Untersuchungs-, Durchgangs- Etappen-, befristeten, kleinen, großen, steinernen, hölzernen, granitenen“ - hervorgekrochen kam, bevor er schließlich ins Norillag geriet. Zu jener Zeit „rollte er bereits an die Dreißiger heran“. Doch auch trotz der Bereicherung durch die Lagererfahrung bleibt S. Snegow seiner festen moralischen Grundlage stets treu, indem er Ordentlichkeit und Aufrichtigkeit zeigt: „Ich trug meine besondere, innerliche und von mir so quälend empfundene Verantwortung für all das, was sie mir und Alschitz und vielen, vielen tausenden solcher Menschen wie ich angetan hatten…. Mich hat die Unermesslichkeit dieser nicht gezeigten, aber auch nicht abgelehnten Verantwortung plattgeschlagen“.
In der Erzählung des Sammelbandes „Am blauen Weißen Meer“ macht der Autor uns mit seinem Norilsker Lagerleben bekannt. Vor der Verschickung nach Norilsk wissen er und seine Leidensgenossen so gut wie nichts über dieses „sibirische Städtchen“, in dem eine große Bautätigkeit im Gange ist“. In ihrer Vorstellung ist Norilsk ein „neues Welz-Zentrum für Edelmetalle“, „unheimliche Polar-Region“, „ewige Schneefälle“, „Frost sogar im Sommer“, aber „Gold und Diamanten in Hülle und Fülle“, „am meisten Platin, na ja – und natürlich Kupfer“. Aber es ist so weit entfernt, dass „nicht einmal ein Rabe dorthin fliegt“, es liegt dort, „wo der Pfeffer wächst“. Dafür ist ihnen aber bekannt, dass das „Valuta-Fundament des Landes mit Hilfe erfahrener Häftlingshände gefestigt werden soll“.
Als wir uns mit der Erzählung „Was ist diese Tufta und wie lässt man sie funktionieren“ befassten, erfuhren wir, dass die Etappierung der Gefangenen nach Dudinka im Jahre 1939 unter unmenschlichen Bedingungen geschah: „Am 5. August – ein freudiges Ereignis, der Tag meiner Geburt – näherte sich der Dampfer „Semjon Budjonny“ der Anlegestelle, und gegen Abend strömten fast zweitausend Solowezker Gefangene in seine Frachträume hinein … sie waren mit dreistöckigen Holzpritschen bis an den Rand vollgestopft“ [6].
Unfreundlich nahm die Halbinsel Taimyr die Häftlinge auf. Ein freudloses Bild eröffnete sich den Menschen, die durch viele Tage Mangelernährung, die alle menschlichen Kräfte übersteigende schwere Arbeit und schreckliche Krankheiten (Skorbut, Avitaminose, Ruhr) gequälten waren: „Eine trostlose Niederung, überwuchert von glutrot-blauen Gräsern und weißem Moos, schwamm an uns vorbei … An dem wie von Federn zerrissenen Himmel zogen langsam schwarze Wolken, aus denen ab und an, wie durch ein Sieb, ein leichter Nieselregen fiel“. [6].
Der wimmelnden Häftlingsmeute stand es nun bevor, sich unter dem Geschrei der Begleitsoldaten, dem wütenden Gebell der Diensthunde und dem abschreckenden Knipsen der Gewehrschlösser „mit Macht“ auf die Plattform-Waggons hinauf zu drängen. Der Autor merkt mit bitterem Sarkasmus an: „Ich habe auf den Güterwaggons häufig die Aufschrift gelesen „Acht Pferde oder vierzig Personen“. All das wurde zu meiner Zeit noch vervollkommnet, auch die Normen für den Eisenbahn-Transport wurden festgelegt. Aber dass sich auf einem Flachwaggon, auf dem noch nicht einmal vierzig Menschen Platz haben, beinahe zweihundert zusammenquetschen kann, das habe ich zum ersten Mal in Dudinka erfahren“.
Während er über die „zerstörten“ Bahnschienen hinwegrollt, kann der Autor es wahrlich nicht fassen: wie kann der Zug überhaupt seine Fahrt über dieses „technische Wunder zweier Gleislinien“ fortsetzen, die eher Ähnlichkeit mit einer „Ziehharmonika aus Stahl“ haben?
„Diese unbegreiflichen Gleise“, über welche die Gefangenen nach Norilsk gelangten, verbinden sich mit den ebenso zerbrochenen Schicksalen von vielen tausend Sowjetmenschen, deren Leben es beschieden war, sich nicht „nach dem roten Faden auszustrecken“, sondern „sich in Falten zu legen“ und sich durch das Lager-Imperium des NKWD „hindurch zu winden“. Der Genosse Autor verdeutlicht:
„ – Normale Häftlingsarbeit. Ein mächtiges Tufta-System wurde zum Funktionieren gebracht. Behalten Sie folgendes in Ihrer Erinnerung, mein Lieber, das gesamte Lager-Imperium des NKWD hielt sich auf drei Säulen: Fluchen, Beziehungen und Tufta. Wie ich sehe, haben sie die Tufta meisterlich in Gang gesetzt. Verständlich?“
Potapow, der sich im „freien“ Leben mit der Erschließung der Eisenbahnlinie befasst, nach §58 „wegen Schädlingstätigkeit“ zu 10 Jahren verurteilt und später ein Freund des Autors wurde, erhält den Befehl, die Gleise zu reparieren, die ins Norillag führen.
Symbolisch klingen die Zeilen über den wieder instand gesetzten Schienenweg: „… innerhalb eines halben Tages wurden die neuen Schienen mit den alten verbunden – sie verwendeten dazu notdürftig Schwellen von Nebengleisen. Erneut quetschten wir uns auf die Plattformwaggons, und der Zug rollte weiter“. Das neue Leben der Menschen wurde ebenfalls in einem unbegreiflich kurzen Zeitraum mit dem vorangegangenen, dem „Lager-Vorleben“, „zusammengekoppelt“, und sie hatten keinen anderen Ausweg als „weiter zu rollen“. Unter den wütenden Kommandos und dem Geschimpfe der Schützen traf die Kolonne in der „verheißenen Stadt“ ein, aber die Gefangenen sahen noch nicht einmal „eine winzige Spur dieser Stadt“:
„Wo ist denn nun diese versprochene Stadt? – fragte Prochorow den neben ihm marschierenden Chandomirow. – Ich sehe sie auch nicht. Und es hat sie in Wirklichkeit auch nie gegeben.“
Mit den Augen des Autors sehen wir Norilsk ganz zu Beginn seiner Entstehung: die Stadt war damals nichts weiter als „eine kurze Straße mit einem Dutzend Holzhäuser“, von der „knospenförmig eine andere – und scheinbar auch die letzte - Straße abging – ebenfalls mit einem Dutzend Häusern darauf, unter denen sich auch einige zweigeschossige aus Stein befanden“. Die „Haupt“-Straße von Norilsk, die mit einem einstöckigen, aus Holzbalken errichteten Haus begann, war von dem Geologen N.N. Urwanzew erbaut worden – das war die Bergstraße. Hier lag auch das zweigeschossige „Hinterlistige Haus“ (aber korrekterweise müsste es „Schreckenshaus“ heißen – dort waren die Behörde für innere Angelegenheiten sowie das örtliche „innere“ Gefängnis untergebracht. Es zeigte sich in unheilverkündender Architektur - außen vergitterte Fenster, „Maulkörbe“ vor den Fenstern im Hof und eine Woche am Eingang – all das war jedem nur allzu bitter bekannt, und in jedem stiegen immer wieder dieselben, längst noch nicht abgeschwächten Erinnerungen auf …“), auf der anderen Seite der Straße – das hölzerne Theater-Gebäude („dort spielten natürlich Häftlinge, aber als Zuschauer wurden ausschließlich Freie zugelassen …“), und hinter dem Theater – „Wachtürme, ein Wachhäuschen, eine mächtige Wand aus Stacheldraht, die unübersehbar von rechts nach links verlief“.
Wenn man also in Betracht zieht, dass die Erzählungen des Sammelwerkes autobiographisch sind und infolgedessen die Beschreibung der Stadt der Wirklichkeit entsprechen müsste, so versuchen wir doch einmal uns die Stadt Norilsk des Jahres 1939 vorzustellen:
- Die Bergstraße („kurze Straße mit einem Dutzend Holzhäuser“)
- das eingeschossige Balken-Haus von N.N. Urwanzew („der erste beständige
Norilsker Bau“)
- die Behörde für Inneres und das örtliche „innere“ Gefängnis (das
„Hinterlistige Haus“)
- das Theater („ein Holzhäuschen mit an der Fassade angebrachten, schiefen
Säulen“)
- hinter dem Theater – „Wachtürme, ein Wachhäuschen, eine mächtige Wand aus
Stacheldraht, die unübersehbar von rechts nach links verlief“.
Daraus ergibt sich folgerichtig: Bergstraße (Haus von N.N. Urwanzew – „ein Dutzend Häuser“ – „Hinterlistiges Haus) – Theater – Norillag (s. Anhang 2. „Ortschaft Norilsk 1939“).
Für die künstlerische Beschreibung des Autors können wir auch dokumentarische Bestätigung finden: „Die Stadt entstand um das Norilsker Kombinat – dem wichtigsten Objekt des Norilsker Bauprojekts, das fast 20 Jahre lang zum Bestand des GULAG gehörte. Häftlinge, die man hier ihrem Schicksal im ewigen Frost überlassen, die man in dieser Einöde einfach ausgesetzt und die man gezwungen hatte, im Winter in Zelten zu hausen, begannen es im Jahre 1935 zu bauen… Alles, angefangen von Eisenbahnlinien und endend mit Baracken für ihre eigene Unterkunft, errichteten die Häftlinge mit ihrer Hände Arbeit. Im Jahre 1939 erhält Norilsk den Status einer Arbeitersiedlung, 1953 den einer – Stadt“. [3]
Der Autor musste seine Haftstrafe in der Baracke N° 17 der 2. Lagerabteilung verbringen, wo „die Menschen auf unheimliche Weise – krepierten“: „sie ertrugen die frische Luft und das viele gute Essen nicht“. Durch das lebende Spalier der Wachen wurde er als einer von „Fünfen“ dem Lager „zugeführt“, und vor seinen Augen entsteht ein paradoxes Bild: „ die zweite Lagerabteilung hatte viel mehr von einer Stadt, als die beiden einzigen Straßen, aus denen sie eigentlich bestand“.
Die 2. Abteilung des Norillag bestand aus hölzernen, geweißten Baracken,
welche sich zu einer geraden Straße zusammenfügten, mit Plätzen dazwischen, von
denen kleine Nebenwege abwärts führten, ins Tal des Kohle-Bächleins… Ich las die
Aufschriften an den Baracken: „Ambulatorium“, „Kultur- und Erziehungsstelle“ –
KWTsch“, „Registrier- und Verteilungsstelle – URO“, „Kanzlei“, „Kleiderkammer“,
„Verkaufsstand“, „Straf-Isolator“ – SchISO“. Die Aufschriften bezeugten, dass in
der 2. Lagerabteilung kein Chaos herrschte, sondern Disziplin und Ordnung“ [6[.
(S. Anhang 3. „Schema der 2. Lagerabteilung des Norillag“)
Der Autor kam in eine der zahlreichen Arbeitsbrigaden, die von den „Witzbolden aus der URO – der Registrier- und Verteilungsstelle – „nach jeweiligem Bildungsstand und Titel“, die Brigade von „Essig Tomaterich und den wackeren Sidor Polikarpowitschs, wie die „politischen“ Gefangenen von den Kriminellen genannt wurden: „Unsere Brigade nannte sich eindrucksvoll: „Ingenieursbrigade“. Tatsächlich setzte sie sich ausschließlich aus Ingenieuren zusammen – vierzig oder fünfzig Mann. Alle übrigen Brigaden waren gemischt – dort arbeiteten Lehrer, Musiker, Agronomen … Die neu organisierten Brigaden wurden zu Erdarbeiten geschickt – um am Fuße des Berges Barjernaja ein Areal für den Bau des Großen Hüttenwerks vorzubereiten“.
Die Brigade, die aus älteren Männern bestand, die gerade aus dem Gefängnis gekommen waren und „mit Rechenschiebern leichter zurechtkamen, als mit Vorschlaghammer und Brecheisen“, mussten den „bereits vor tausend Jahren gefrorenen Boden des Polargebiets bearbeiten, das in allernächster Zeit die allgemeine Arbeitsnorm lieferte – sieben Kubikmeter Boden pro Schicht, „und wenn di das nicht schaffst – 600 Gramm Brot, Wasserbrühe ohne feste Stückchen, Ruhr …“. Die „Essig-Tomaterich-Krepierer“ aus den Reihen der „§58-er“ mussten von einer derart „phantastischen Erdarbeiter-Produktivität“ noch nicht einmal träumen“!
Der Wunsch zu überleben – egal wie – gab den Anstoß, die „Tufta ins Rollen zu bringen“, und zwar „eine so imposante Tufta, dass Minus sich in Plus verwandelte“:
„ – Wir werden die Tufta aktivieren. Der Rechnungsführer schreibt das auf, was wir sagen. Ich habe gerade Zahlen immer gemocht. Nach der Vier, habe ich die Sechs, dann die Acht, dann die Zehn. Verstehen Sie? Alschitz hingegen spezialisiert sich auf die ungeraden Ziffern“.
Von diesem Moment an macht sich der Autor, nachdem er begriffen hat „um was für eine geheimnisvolle Angelegenheit“ es sich bei dieser Tufta handelt, und nachdem er erkannt hat, „dass diese Tufta ein Produkt der heutigen Gesellschaften ist“, daran, die Sache „ins Rollen zu bringen“:
„Alschitz‘ eintönige Schönfärberei stellte mich nicht zufrieden. Von der schwermütigen Reihe gerader und ungerader Zahlen konnte selbst einem Kalb schlecht werden. Ich ging mit der Tufta als Könner um. Ich „tuftierte“ mit Begeisterung und Erfindungsgeist. Ich streute Zahlen aus und brachte sie durcheinander, strickte mit ihnen, wie mit einem Faden, ordnete sie an wie Schnörkel in einem Ornament, mal langsam nach oben kriechend, mal eilig in die Höhe schnellend. Im Feuereifer der Abwechslung stürzte ich mich sogar mitunter bergab.
- Halt ein! Halt ein! – schrie der erstaunte Rechnungsführer. – Du hattest doch kürzlich erst 70 Schubkarren, und nun sprichst du von 15!
- Jetzt wunderst du dich selber, wie ehrlich wir sind, - meinte der Erhabene. – Ich brauche keine fremde Meinung. Aber gut, ich hab‘ mich vertan – schreib 20“.
Aber die „Tufta“ half nicht: „Insgesamt erfüllten wir lediglich siebzig Prozent der vorgegebenen Norm. Wir werden die Eintragung auf ungefähr 40 bringen… Morgen erhalten wir 600 Gramm Brot“.
Gerade in dem Moment, als die entkräfteten Helden der Erzählung bereit waren in völlige Schwermut zu verfallen, zeigte sich beim Kontor eine Gruppe leitender Angestellter: Vorarbeiter, operative Bevollmächtigte und Leute aus der Versorgungsabteilung. „Alle wollten wissen, wie die Ingenieursbrigade mit den Bodenarbeiten zurechtkam. Neben Jenin … schritt Potapow“.
Wie er sich jetzt veränderte, der Liebling aller, der Stolz der Brigade, „der bemerkenswerte Erfinder“ und „Mann mit dem Verstand eines Ministers“! Seine schmeichlerischen Gesichtszüge, seine Gesten, sein breiter Rücken, seine diensteifrige Verneigung vor dem Vorgesetzten – all das sprach davon, dass er „uns verleumdete und sich selbst zu rechtfertigen suchte“. Tatsächlich geschah im weiteren Verlauf etwas, was sich diejenigen, die noch vor nicht allzu langer Zeit Potapows Kameraden gewesen waren, in ihren düstersten Träumen nicht hätten vorstellen können: er verkündete, dass man den Statisten „in unverschämter Art und Weise betrogen“ hätte und all seine Eintragungen erlogen wären. Des Weiteren schlug er vor, diese „böswillig-zersetzende Tufta“ zu vernichten und reale Normen für die Arbeitsproduktivität aufzustellen - indem man das Landstück vermaß und in Relation zur Höhe der Bodenschicht setzte. Und er versuchte die Leitung von der Richtigkeit seiner Schlussfolgerungen zu überzeugen.
„Keiner von uns sagte ein Wort, aber man hörte förmlich das Rauschen der fünfzig auf einen Schlag aufatmenden Menschen. Eine Minute später flüsterte Chandomirow, der schnell im Kopf noch einmal nachgerechnet hatte, voller Begeisterung:
- Na, das ist doch eine Tufta, wie sie sein soll! Fast das Zehnfache! Einhundertdreißig Prozent von der Norm – dafür halte ich den Kopf hin! Mein Gott, was sind wir für Kleinkrämer im Vergleich zu Michail Georgiewitsch!
--- die Unwirklichkeit unseres Betrugs warf uns vor Begeisterung von den Füßen. Es lag eine gewisse Eleganz und Schönheit darin, wie unser Brigadeleiter die Normration für das Frühstück sichergestellt hatte. Die Tufta war nicht durch unsere grobe Handwerksarbeit ins Rollen gekommen, die wir höchstpersönlich durch erlogene Ziffern in Bezug auf die abgefahrenen Schubkarren vollbracht hatten. Nein, sie war durch meisterhafte Kunst zustande gekommen und nicht durch produktives Arbeiten“.
So fanden die Helden das scheinbar einzig zuverlässige Mittel einer normalen Existenz im Lager – „Tufta machen und nochmals Tufta machen, von einer Fälschung zur anderen, sich nicht mit der Sache selbst befassen, sondern mit Spiegelfechterei. Und dennoch, indem sie sich die wilden Gesetzte und Sitten aneigneten, bemühten sie sich, nicht ihre menschliche Haltung zu verlieren und ihre Würde zu wahren.
Nachdem wir den Inhalt der Erzählung studiert haben, kommen wir zu der Schlussfolgerung, dass die Bedingung in der Hölle des Lagers zu überleben im Grunde genommen ein Widerstand gegen die Lagerordnung und die Fähigkeit, sich selber darum zu kümmern, indem man einen gesunden Menschenverstand, Hartnäckigkeit, aber auch Durchhaltevermögen und Scharfsinn entwickelte.
Allein in den 1930er Jahren wurden im Land mehr als 1000 Literaten verfolgt:
„Es war eine Zeit, in der die Blüte der Literatur, der Wissenschaft, der
technischen Intelligent des Landes sich in den Lagern des GULAG befand…“[1] (J.
Barijew). Das Sammelwerk autobiographischer Erzählungen von Sergej Snegow
„Norilsker Erzählungen“ ist ein Buch, welches nicht nur mit der Dramatik
menschlicher Schicksale und Beziehungen angefüllt ist, sondern auch mit der
Bewunderung des Autors über die Größe der menschlichen Seele, die in der Hölle
der unerträglichen Bedingungen nicht zerbrach – damit bewahrt es für uns, die
Nachfahren, Zeugnisse eines Zeitgenossen dieser unheilvollen Jahren.
S. Snegows Buch kann man als Mittel der Bewältigung bezeichnen. Der Bewältigung
und Überwindung seiner selbst, der Angst, der Vergessenheit, des Schmerzes:
„….Das literarische Schicksal Snegows verlief nicht in geraden Bahnen. Selbst
wenn er aufgrund der Umstände mitunter nicht die Wahrheit sagen konnte…, so hat
er doch niemals gelogen. Wenn er schweigen durfte, schwieg er, wenn Schweigen
nicht angebracht war, dann sprach er die Wahrheit“.
Man kann das Sammelwerk durchaus als dokumentarisches Zeugnis bezeichnen: es enthält die Geschichte der Entstehung von Norilsk sowie die Schicksale unglücklicher, vom schweren Los gezeichneten Menschen, die völlig grundlos Repressionen ausgesetzt waren und ins Norillag gerieten.
Sein Buch kann man auch als Kunst des Wortes, Denkmal für die Opfer „des
Aufbaus des Kommunismus“ bezeichnen: „Ein Memorial muss man nicht notgedrungen
immer nur in Beton oder Stein errichten, sondern auch in der eigenen Seele, in
den Seelen unserer Kinder, Amtsnachfolger und Schüler. Denn das Vergessen der
schrecklichen Seiten der Geschichte kann dazu führen, dass sie sich eines Tages
wiederholen“ [3].
(S. Anhang 4. „Norilsker Erzählungen“ – Chronik einer Epoche)
Die Resultate aus der von uns durchgeführten Forschungsarbeit haben uns also gestattet folgende Schlussfolgerungen zu ziehen:
1. die Lager-Prosa der verfolgten Schriftsteller kann man als Chronik der Tragödie bezeichnen, die dem russischen Volk in der Stalin-Ära widerfahren ist, und als Denkmal für die Opfer des „Aufbaus des Kommunismus“;
2. das Sammelwerk der autobiographischen Erzählungen von Sergej Snegow „Norilsker Erzählungen“ steckt voller Dramatik im Hinblick auf die Schicksale und auch die Bewunderung des Autors über die menschliche Seele. Die in dieser Hölle unerträglicher Bedingungen nicht zerbrochen ist;
3. Hauptthema der „Norilsker Erzählungen“ ist die „tiefe seelische Zerrissenheit hunderter und tausender inhaftierter Opfer“ einer nie da gewesenen Willkür und grenzenloser Gesetzlosigkeit;
4. S. Snegows Buch kann man als dokumentarisches Zeugnis der Entstehungsgeschichte von Norilsk und der Schicksale von Menschen bezeichnen, die ohne Grund Repressionen ausgesetzt waren und ins Norillag gerieten.
Auf diese Weise hat sich die Hypothese der Forschungsarbeit bestätigt: S. Snegows Lager-Prosa ist ein dokumentarisches Zeugnis der Geschichte der Entstehung der Stadt Norilsk und der Schicksale von Menschen, die unbegründet politisch verfolgt wurden und ins Norillag kamen.
1. J. Barijew. Schneegestöber. Buch mit Gedichten Norilsker Peoten /
Redakteur, Verfasser J. Barijew – Norilsk, 1994, 496 S.
2. W.I. Bachmutow. Das Norillag des NKWD der UdSSR. – Jenisejsker
enzyklopädisches Wörterbuch / Haupt-Redakteur N.I. Drosdow. – Krasnojarsk, 1998,
430 S.
3. L. Petscherskaja. So begann die Geschichte des Norillag, „Memorial“-Gesellschaft
4. Tojwo Rjannel. Valerij Krawez. Die Moltebeere. Redakteurin O. Maslowa, Verlag
„Lew Tolstoi“, Tula, 1984, 224 S.
5. I. Setschko „Er nannte die Tochter Nicole in der Hoffnung, dass die
Gerechtigkeit siegen würde“ / „Polar-Wahrheit“, 1980, 28. Februar.
6. S. Snegow. Norilsker Erzählungen. Was Tufta bedeutet und wie man sie in Gang
bringt
7. S.A. Snegow „Norilsk – ich hasse und ich liebe es!“ / Sibirische Zeitung,
1990, N° 20, S. 6
8. Enzyklopädie für Kinder: 23 Bände, Russische Literatur 20. Jahrhundert /
Redaktion M.D. Alsjonowa, Moskau, Avanta-Verlag, 2000, 685 S. – S. 521