Autoren:Diana Ameltschenko, Dinara Gasisowa, Schülerinnen der 9. Klasse an
der städtischen budgetierten allgemeinbildenden Lehreinrichtung „Gymnasium N° 1“
Norilsk
Wissenschaftliche Leitung:
Natalia Aleksandrowna Bondarewa, Lehrerin für russische Sprache und Literatur
der gehobenen Kategorie an der städtischen budgetierten allgemeinbildenden
Lehreinrichtung „Gymnasium N° 1“
Die Arbeit wurde angefertigt zur Verwendung für das Literarische Zentrum der
städtischen budgetierten Lehreinrichtung des „Zentralen Bibliotheken-Systems“
Leitung: Tatjana Lenzowna Waschtschajewa
Norilsk
2012
Einleitung
Kapitel 1. „ … es war die Zeit, als sich die Blüte der Literatur, der
Wissenschaft, der technischen Intelligenz des Landes in den Lagern des GULAG
befand…“. (J. Barijew)
Kapitel 2. „ …Dort, in Norilsk, bin ich wohl den besten Leuten Russlands
begegnet. Den klügsten Menschen Russlands. Den gebildetsten …“ (D.N. Kugultinow)
2.1. „Die ersten Spielsachen haben Gefangene mir geschenkt …“ (J. Barijew)
2.2. „Es waren Menschen mit ganz unterschiedlichen Schicksalen, aber sie alle
wurden durch ein einziges Thema vereint, das Thema der Lager-Vergangenheit“
(D.W. Poluschin)
2.3. „Tundra-Schnee. Tundra-Frost. Tundra-Wind. / Es ist so schwierig.“ (K.
Malikow)
Schlussbemerkung
Literatur-Angaben
Anhang
Heute entfernt sich jene Zeit, als wir in einem einzigen Lande – der UdSSR – lebten, immer weiter von uns, in der fernen Vergangenheit bleiben die „Jahre der Angst, die Jahre der Unfreiheit“ der stalinistische Verfolgungen zurück (J. Barijew), und die derzeitige Jugend kann sich kaum vorstellen, wie alles tatsächlich gewesen ist.
Lebende Zeugen jener schrecklichen Jahre verlassen uns nach und nach, ganz unnachgiebig, und hinterlassen ihren Nachfahren ein ausdrucksvolles Zeugen-„Vermächtnis“: Dokumente, Erinnerungen, Briefe, Gedichte und Prosa. Das kreative Werk von „Volksfeinden“ wird mühsam von den Forschern zusammengetragen, aber der größte Teil dieser Art von Schaffenskunst, der die ganze seelische Kraft und Macht der „Politischen“ widerspiegelt, ist bis heute nicht gedruckt worden.
An den Ursprüngen der Norilsker Literatur standen zahlreiche Gefangene des Norillag, die mit dem nicht abwaschbaren Etikett eines „Volksfeindes“ gebrandmarkt waren. Bis heute leben in Norilsk Menschen, die das Norillag durchlaufen haben, sowie ihre Nachfahren.[6]
Bei den Werken der Norillag-Häftlinge handelt es sich nicht um eine
Chronologie der Ereignisse jener schrecklichen Jahre, welche die Geschichte der
ersten Jahrzehnte der Existenz der Sowjetmacht widerspiegelt. Es ist vielmehr
ein einzigartiges Zeugnis handelnder Personen und Augenzeugen geschichtlicher
Ereignisse. Es sind Zeilen – „von Trauer zerflossen“ (N. Pfeffer), welche durch
die Masse der Zeit “Die von Blut gewaschenen Gefangenen des Archipels GULAG“ zu
uns herangetragen haben (P. Kusjatschkin), die nun dabei behilflich sind, ein
vollständiges und objektives Bild über die große Tragödie Russlands
wiederherzustellen.
(Anhang 1)
Forschungsmethoden:
definiert durch die Besonderheiten der Ziele und Aufgaben, die in dieser Arbeit
gestellt werden: beschreibend-analytische Methode, logisch-semantische Methode,
Methode der Analyse im Textzusammenhang
Aktualität der Forschungsarbeit:
Die Repressionsliteratur ist bis zum heutigern Tage unerforscht geblieben. Das
sorgfältige Studium der Poesie und Prosa der Norillag-Gefangenen machte es
erforderlich, ihre Eigentümlichkeiten, ihren Stellenwert und ihre
Einzigartigkeit bei der Beleuchtung einer der bittersten Episoden der Geschichte
unserer Heimat, unserer Stadt und unserer Landsleute zu enthüllen, welche die
schwierigen Jahre der stalinistischen Verfolgungen in Norilsk miterlebt haben.
Forschungsobjekt:
Belletristik und Memoiren über das Norillag.
Forschungsgegenstand:
Poesie und Prosa der Häftlinge und „unfreiwilligen Zeugen“ des Norillag (in
Freiheit lebender Arbeiter und ihrer Familien.
Forschungsziel:
die Bedeutung des Werkes der Gefangenen und „unfreiwilligen Zeugen“ des Norillag
in Erläuterung der Geschichte des stalinistischen Terrors herausfinden.
Forschungsaufgaben:
1. Archivmaterial über die Geschichte und Struktur des Norillag zu studieren,
seinen Stellenwert im System des GULAG zu definieren;
2. die Biographien der Schriftsteller und Poeten die ihre Strafe in Norilsk al
Gefangene oder Sondersiedler verbüßten, eingehend zu begutachten;
3. sich mit der Poesie und Prosa der Häftlinge und „unfreiwilligen Zeugen“ des
Norillag vertraut zu machen;
4. das gesammelte Material zu systematisieren, die Ergebnisse der selbständig
vorgenommenen Beobachtungen am Text mit Hilfe schematischer Darstellungen,
Tabellen und Diagrammen aufzuzeigen.
Hypothese der Forschungsarbeit:
Die Poesie und Prosa der Gefangenen und „unfreiwilligen Zeugen“ des Norillag
werden durch ihre dokumentarische Glaubwürdigkeit und ihre emotionale
Überzeugungskraft miteinander vereint und ermöglichen eine Vorstellung von der
Wucht des Staatsterrors gegen das eigene Volk.
Die theoretische Bedeutsamkeit der Arbeit besteht darin, dass das Studium der Werke ehemaliger Norillag-Häftlinge dazu beiträgt, ein komplettes und objektives Bild von der Tragödie Russlands während der stalinistischen Repressionen.
Die praktische Bedeutung liegt darin, dass die Forschungsergebnisse in weiteren wissenschaftlichen Arbeiten, im Verlauf des Unterrichtens in verschiedenen Schuldisziplinen („Geschichte“, „Literatur der Region Krasnojarsk“ u.a.) und in speziellen Kursen und Seminaren, in denen es um national-regionale Komponenten geht, Anwendung finden können.
Bei der Realisierung unserer Forschungsarbeit stützten wir uns unter der Leitung von L. Petscherskaja auf Archivdokumente, Erinnerungsliteratur und Belletristik, A.B. Loginows Buch „Norilsk – meine Sternstunde““, D.W. Poluschins Arbeit „Verfolgte Kultur: das geistige Leben des Norilsker Arbeits- und Besserungslagers von 1935-1956“, Materialien der Gesellschaft „Memorial“.
Die ersten Jahrzehnte der Existenz der Sowjetmacht waren verdunkelt vom Leid der stalinistischen Repressionen. Die besten Köpfe, die besten Talente des Landes: Wissenschaftler, Ingenieure, Poeten, Schriftsteller, Journalisten wurden „böswillig in Lagern weggesperrt“ (G.A. Popow: „Ich glaube“); „es war die Zeit, als sich die Blüte der Literatur, der Wissenschaft, der technischen Intelligenz des Landes in den Lagern des GULAG befand…“. (J. Barijew) [1, S.4].
Vielen von ihnen stand es nun bevor, die Kunst des Überlebens im Norillag zu erlernen und unter den fast unerträglichen Bedingungen der Zwangsarbeit eine Industrie aufzubauen, welche das Land in Zeiten des Krieges so dringend benötigte: „Auf dem Territorium der heutigen Stadt Norilsk befand sich einst eines der größten Lager – das sogenannte Norillag, speziell geschaffen für die Verwirklichung des Regierungsprogramms zur Erschließung einiger Bezirke der Region Krasnojarsk, reicher Erzbergwerke und Kohlefundstellen. 1935 wurde vom Rat der Volkskommissare die Anordnung über den Bau eines Nickel-Kombinats auf Norilsker Boden verabschiedet. Und zur selben Zeit ergeht der Beschluss, dass dieses Kombinat von Gefangenen errichtet werden soll“ [6]. Während des Krieges schufteten dort bis zu 100.000 Menschen.
Die Erfahrung, welche die Gefangenen, die ihre Strafe im Norillag verbüßten, machten, ist eine der schwierigsten und schlimmsten, und sowohl berüchtigte Kriminelle, Professionale im „Diebstahl- und Raub-Gewerbe“, als auch Menschen, die aufgrund des traurig-berühmten § 58 des Strafgesetzes der RSFSR verurteilt worden waren, mussten sie machen:
… sie verlegten Schienen, sie verlegten Menschenleben.
Sie stahlen Schinen, sie stahlen Menschenleben.
So legten sie den Großen Weg zurück. (J. Barijew. „Verhängnisvolles“).
Laut Angaben der Norilsker Filiale der Gesellschaft Memorial“ durchliefen zwischen 1935 und 1957 mehr als 300.000 Menschen das Norillag, einschließlich Staatsbürger aus mehr als 20 Ländern. „Die Kranken, Schwachen waren vom Schicksal gezeichnet. Auf ihnen lastete das Gefühl der sozialen Minderwertigkeit. Im Grunde genommen waren wir aus dem Leben fortradiert“ (Gunar Kroders) [4]…
Das unerträgliche Klima und die katastrophalen sanitären Verhältnisse rafften Jahr für Jahr das Leben zehntausender Gefangener dahin. Die Todesursachen entsprachen dem „Standard“: Erschöpfung, Skorbut, Tuberkulose, Erfrierungen, Selbstmord, Mord, Unfälle bei Fluchtversuchen, mit dem Leben unvereinbare Arbeitsbedingungen: „Besonders an den Be- und Entladestellen herrschten höllische Arbeitsbedingungen. Die Ladeluken sind geöffnet, die Arbeiter schuften mit langen Schaufeln, transportieren Erdhaufen ab, in der Zugluft und in den Schmelzöfen entstehen Schwefelgase, Staub und Hitze. Die Arbeiter trugen Gasmasken“ [5, S. 69]. (A.B. Loginow, ehemaliger Ober-Ingenieur des Norilsker Metallurgie-Kombinats).
All das fand sein Echo in den erschreckenden Zeilen, die im Norillag und auch noch viel später verfasst wurden, in denen es für Hirngespinste und das Bestreben das Geschehene „auszuschmücken“ keinen Platz gibt: das hätte Betrug bedeutet, Verrat gegen sich selbst und die Menschen, denen das Leben durch den ungerechten, grausam agierenden Staat während Stalins Regierungszeit genommen wurde, dessen verfluchter Name tausende und abertausende Gefangene „zu winzigen Teilchen zerkrümelte“ - / In Gräbern, Gefängnissen, Lagern“ und der „die Epoche in den Himmel hob / Über die sieben Türme des Kreml“ (K. Malikow).
Ich erinnere mich an Norilsk, so wie es war,
Als während des Krieges, unter der Flagge des Norilsker Bauprojekts,
Wir für die Front gar keine Mühen scheuten
Und wussten: überleben kann man aufrecht stehend nur. (G.A. Popow „Ich glaube“)
Die offenherzigen Erzählungen, die in der Poesie und Prosa der Gefangenen dargelegt sind, entstanden aus einem einzigen Bestreben der geschwächten Herzen: die Wahrheit zu berichten; die Wahrheit über den Kampf für sich selbst, in sich selbst und außerhalb seiner selbst; die Wahrheit über den Zusammenprall der einzelnen Person mit der schrecklichen Welt, in dem ein jeder sich nur als Sandkörnchen wahrnimmt, als kleines Schräubchen innerhalb einer Staatsmaschinerie, welche keinerlei Mitleid hegt; die Wahrheit über die Tiefe des Abgrunds, in den dieses riesige Land hineingefallen ist.
Die Brigade besteht aus 30 Mann, den Meister mit eingeschlossen.
Männer zwischen 23 und 50. Ich bin der jüngste.
Jeder von uns, einschließlich ich und Fedja,
Muss im Schnitt acht Jahre Lager absitzen,
Obwohl Fedja nur vier Tage und vier Nächte saß.
(K. Malikow – Auszüge aus „Gedichte ohne Titel“)
A. Solschenitzyn vermutete, dass die Erfahrung des „Lager-Lebens“, genau wie Lackmus-Papier, das menschliche Wesen eines jeden Einzelnen enthüllt und durchaus positiv und erhebend sein kann. Aber viel häufiger trat das Gegenteil ein: das Lager verwandelte den Menschen in ein Tier, in ein verachtungswürdiges Wesen: „Das Lager ist voll und ganz eine nachteilige, eine negative Schule des Lebens. Niemand nimmt irgendetwas Nützliches, Brauchbares von dort mit hinaus, weder der Gefangene selbst, noch der Lagerleiter, seine Bewacher oder die unfreiwilligen Zeugen – Ingenieure, Geologen, Ärzte – weder die Herren, noch die Untergebenen“ (W. Schalamow „Das rote Kreuz“.
Norilsk – „die einzigartige Stadt“ eines schweren, tragischen Schicksals. Aber zu der damaligen Zeit war „Norilsk eine wunderbare Stadt! Wie merkwürdig und paradox das auch klingen mag – das sage ich, der viel Schreckliches, viel Grausames gesehen hat, aber es wäre widernatürlich gewesen, wenn es das DAMALS nicht gegeben hätte. Für JENE Zeit war das Schreckliche gesetzesmäßig… Dort in Norilsk begegnete ich wohl den besten Menschen Russlands. Den klügsten Menschen Russlands. Den gebildetsten…“ [1, S. 8]. (D.N. Kugultinow. Interview für das Norilsker Fernsehen. 1983). JENE Zeit war die Zeit der Hölle in den stalinistischen Gefängnissen und Lagern, als viele herausragende Leute „unterdrückt wurden und nicht aus freiem Willen schwere Jahre im Norden verbrachten…“ [1, S. 3].
So geriet auch Lew Nikolajewitsch Gumilew ins Norillag, der am 21. September 1939 wegen „antisowjetischer Agitation und Mitgliedschaft in einer antisowjetischen Organisation“ mit einer Gefangenenetappe in Norilsk eintraf und sich daran erinnerte, dass ich im Lager „… nur das Lesen von Büchern aus der wissenschaftlichen Bibliothek gerettet habe“ [3, S. 6].
Auch Sergej Aleksandrowitsch Snegow entging dem traurigen Schicksal nicht, ehemaliger Häftling des Norillag, Autor einer Trilogie phantastischer Romane mit dem Titel „Menschen wie Götter“ und zahlreichen anderen Büchern, darunter die gesammelte Erzählungen „Vergangene Norilsker Tage“, der 1937 auf Beschluss des Obersten Gerichts der UdSSR zu 10 Jahren Lagerhaft wegen „Verbindung mit den Trotzkisten“ verurteilt wurde“.
Und es traf auch Aleksej Nikolajewitsch Garri, der bekannte Auslandsjournalist und Arktis-Spezialist: „Ich lebte, arbeitete wie ein Zwangsarbeiter und schuf mein Werk in Norilsk… In meiner Jugend war ich Kotowskijs Adjutant gewesen, schrieb über ihn ein Buch. Als ich nach der Inhaftierung in Freiheit kam, brachte ich einen Roman über Norilsk heraus – „Häschen“ … (Aus S. Snegows Erinnerungen).
Dasselbe Schicksal erlitt auch die Schriftstellerin Jelisaweta Jakowlewna Drabkina, Autorin der Bücher „Schwarzes Trockenbrot“, „Winterquerung“, „Dem Sturm entgegen“!“, die als Sekretärin J.M. Swerdlows und im Apparat des Zentralkomitees tätig gewesen war. Man verhaftete J.J. Drabkina im Dezember 1936 aufgrund einer Anklage wegen Zugehörigkeit in einer konterrevolutionären, antisowjetischen, trotzkistischen, terroristischen Organisation in der Stadt Baku und verurteilte sie zu 15 Jahren Besserungs-/Arbeitslager, welche sie im Norillag verbüßte.
Und es traf auch Sergej Schtscheglow (den Norilsker), Häftling des Norillag von 1942-1946 wegen § 58. Seine Erinnerungen an das Norillag, die von den Arbeits- und Alltagsbedingungen der Gefangenen, von ihrer Stimmung und ihren Überlebensfähigkeiten erzählen, veröffentlichte er in dem Buch „Die Stalin-Prämie“.
Und auch David Nikitowitsch Kugultinow gehörte zu den Betroffenen – er wurde aufgrund seiner nationalen Zugehörigkeit verurteilt. Man verhaftete ihn 1945 und verpasste ihm nach § 58 des Strafgesetzbuchs der RSFSR ein Strafmaß von 10 Jahren Besserungs-/Arbeitslager. Zehn schwere, bittere Jahre in der 7. Abteilung des Norillag… „Ich wurde wegen ein paar Versen eingesperrt, in denen ich die Ungerechtigkeit verurteilte, die in den Jahren des Stalin-Personenkults an meinem Volk begangen wurde“, - schrieb D. Kugultinow später in einer Notiz „Über sich selbst“.
Ich besinne mich auf meine Jugendzeit,
Zehn lange Jahre …. Und ihr, meine Freunde,
Habt eure Wahrheit erst im Grab bekommen … („Säuberung“)
Und auch die Dichterin und Kinderbuch-Autorin Nora Pfeffer wurde nicht verschont: „1943 wurde sie nach § 58-10 und 58-11 zu 10 Jahren Verbannung und Entzug aller Rechte verurteilt. Sie verbrachte die Zeit in Mariinsker Lagern, in Dudinka und schlug mitten in der Tundra den gefrorenen Boden mit einer Spitzhacke auf…“ [1, S.3].
Und dann war da auch noch Semjon Badasch, angeklagt „wegen seiner Bekanntschaft mit Ausländern in den ersten Nachkriegsjahren“ und verurteilt zu 10 Jahren Lagerhaft, die er in Sonderlagern absaß: dem „Steppenlager in Ekibastus, dem „Berglager“ im Norilsker Polargebiet, dem „Uferlager“ an der Kolyma. Er war unmittelbarer Teilnehmer am Norilsker Gefangenen-Aufstand und schrieb „Briefe in Versen aus den Sonderlagern“ und das Buch „Kolyma, du mein Kolyma“ (1986).
Und Nikolaj Wladimirowitsch Suprunenko, Grigorij Sergejewitsch Klimowitsch, Julian Konstantinowitsch Tarkowskij und tausende Dichter und Schriftsteller, welche die schreckliche Feuerprobe des Norillag an eigenen Leib zu spüren bekamen. (Anlage 2)
Sie alle durchliefen die qualvollen Etappen der Durchgangslager und das „grausame und unmenschliche Fließband des Todes“ im GULAG (S. Badasch, „Briefe in Versen aus den Sonderlagern“). Jedes Wort ihrer Erinnerungen enthält die glühende, brennende Flamme der Sowjetlager, in denen Gesetzlosigkeit und Unmenschlichkeit in voller Blüte standen. Aber diese heldenhaften Menschen verstanden es nicht nur, die Unversehrtheit ihrer inneren Friedens zu wahren, sondern auch das unvermindert starke Streben zur Überwindung des Unmöglichen und den Glauben an den Triumph der Gerechtigkeit: „ …in vielem zeigt es sich, dass … die vollkommen erschöpften Häftlinge der Sonderlager Todeskandidaten des Systems und des grausamen Regimes sind, die ganze Städte und Industrieobjekte gebaut, Erz und Kohle gefördert und dabei nur an ein einziges Stückchen Brot gedacht haben. Das ist auch so. Aber dennoch existierte rein organisch in jedem Gefangenen ein innerer Frieden, und dieser Frieden lässt sich am Richtigsten mit den Worten GLAUBE, HOFFNUNG und LIEBE beschreiben. So lange das Herz des Häftlings nach am Schlagen war, erlosch in ihm auch nicht der GLAUBE an den letztendlichen Triumph der Gerechtigkeit…an den endgültigen Sieg des GUTEN über das BÖSE“ [1, S.10].
„ Leider sind in unserer Stadt fast keine poetischen Texte ehemaliger Norillag-Häftlinge erhalten geblieben, und deswegen … ist die Poesie der 1940er und 1950er Jahre nur so spärlich vertreten“ [1, S. 4], merkte J. Barijew an. Ihm war es vorherbestimmt, seine Kindheit in der Stadt Norilsk zu verbringen, die erst 1953 den Status einer Stadt erhielt.
Norilsk bestand ganz zu Beginn seiner Existenz aus zwei Straßen mit ein paar Dutzend Holzhäusern. Eine von ihnen, die Berg-Straße, endete am Theater, und gleich dahinter sah man die Wachtürme, das Wachhäuschen und eine Wand aus Stacheldraht, welche die Lagerzone umgab. Die ungewöhnlich nahe Nachbarschaft des Wohnsektors mit der Lagerzone findet auch in Archiv-Dokumenten sowie belletristischen Werne und Memoiren Bestätigung: „Von der Nordseite unseres Hauses, etwas drei Meter von der Wand entfernt, verlief die Lager-Einzäunung aus Stacheldraht, und in der Ferne, an der Wegbiegung, sah man Wachtürme. Ein Fenster unserer Wohnung zeigte genau auf diese Umzäunung, und es kam mir bisweilen so vor, dass ich, sobald ich es geöffnete hatte, mit der ausgestreckten Hand bis an den rostigen Stacheldraht heranreichen konnte… Die Straße stieß genau auf das Tor, aus dem die Gefangenen zur Arbeit geführt wurden. Und wir, die Erwachsenen, unsere Familien und die Kinder sahen und hörten Tag für Tag, was um uns herum geschah…“ [5, S. 48].
J. Barijew, lebte, wie viele andere auch, in einer Holz-Bude neben der Zone: „Die ersten Spielsachen bekam ich von gefangenen geschenkt. Wenn man sie ins Badehaus führte, nahmen wir kleinen Jungs Aufstellung und marschierten wie bei einer Parade in Reih und Glied…“ [2, S. 5]. Das Thema der Erinnerungen an die Kindheit in der „nördlichen Stadt“ findet sich in seinem Werk viele Male wieder.
Das“ staatliche Mäntelchen“, die Fähigkeit in Formation („in Kolonnen“) zu gehen, das Spiel „Gefangene“ – mit Verhören, Anklagen, Schubkarren in „Kinderhändchen“ – all das sind Realien einer „glücklichen Kindheit“ vieler Kinder. Und die „nördliche“ Kindheit, die sich in der „Stadt der Häftlinge“ abspielte, die „auf Blut gebaut“ war, stellte sich als etwas ganz Besonderes dar: sie war nicht begleitet von den „Lautfolgen einer Gitarre“ und dem „Kupfer des Orchesters“, sondern von einer Art „schluchzender Seelen“; sie war umgeben von Pritschen, Baracken und Wachtürmen; sie war erfüllt vom Geruch der Armut und der panischen Angst, die Berechtigungsmarke „für die angelieferte Milch“ zu verlieren; sie war es, die in der Lage war Spielsachen „aus den Resten von Stacheldraht-Umzäunungen“ zusammen zu basteln. (Anhang 3§
In der Überschrift des Gedichts von J. Barijew „Nördliche Kindheit“ spiegelt sich bereits die „Geographie“ der Kindheit „unfreiwilliger Zeugen“ des Norillag wieder, die eine symbolische Bedeutung erhält: die harte Zeit entzog den Kindern die sorglosen Augenblicke, indem sie sie in den eisigen Hauch der Massen-Repressionen einhüllte. Für das gesamte restliche Leben sollten die „Lehrstunden der Geschichte“, die er in frühen Jahren erteilt bekam, in seiner Erinnerung bleiben:
Unsere Stadt war eine Stadt der Gefangenen.
Sie entstand hier auf Blut.
Ich habe selbst gesehen wie der Mensch
Vom Hund des Wachmanns ausgerottet wurde.
Das kindliche Gedächtnis erinnert sich,
Nicht nur einmal wird es später träumen:
Das ist nicht irgendwo, sondern mitten unter uns,
In unserem eigenen Vaterland.
(„Lehrstunden der Geschichte“)
Bei dem Versuch zu verstehen, was damals im gesamten Land und mit ihm persönlich geschah, begreift der Autor, dass es heute „schwer fällt sich mit all dem zurechtzufinden“, aber „es werden bestimmte Zeitpunkte kommen / Irgendwann wird man es in seinem eigenen Zuhause klären können“: es kann in der Geschichte keine „verbotenen Zeilen“ geben, welche die „beispiellose Arbeit“ der Gefangenen und das Elend widerspiegeln, welches das Volk im Lande der Sowjets „ganz zufällig zusammenschweißte“.
J. Barijews Gedankengängen entsprechen auch die Verse von Alewtina Schtscherbakowa - „März 1953 in Norilsk“ -, einer alteingesessenen Norilskerin, der ebenfalls „ihr Leben lang ein Kloß im Halse stecken blieb – der Schmerz über all das, was sie in den „Lehrstunden“ ihres Lebens durchmachen musste:
Die Lehrstunde wurde unterbrochen. Wir wussten damals nicht,
Dass es sogar schlimm war, der Fibel Glauben zu schenken,
Und dass mir Stalin unter Wachbegleitung
Meine erste Lehrerin schickte.
Es litten die Kinder, die ohne Eltern zurückgeblieben waren; Erwachsene, die zu einem Dasein in den Folterkammern des GULAG verurteilt waren, zermarterten sich ihre Seele, weil man ihnen die menschlichen Rechte entzogen hatte. Nora Pfeffer stellte in spärlichen, aber in ihrer Wirkung äußerst kraftvollen Zeilen das typische, charakteristische Bild der Verhaftung und der Empfindungen der Mutter dar, als sie erkannte, dass sie ihr „Kinderchen“ aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder sehen würde:
Mitternacht.
Das Kindchen ist erwacht.
- Wohin gehst du, Mamilein? …
- Ein Tannenbäumchen holen,
Liebling!
Zum ersten Mal belog ich ihn:
Zum letzten Mal
Drücke ich ihn an mein Herz
Und übergebe ihn mit meinem Herzen
An die Nachbarin…
Man bringt die Verhaftete fort.
Aber das bin schon nicht mehr ich.
(„Verhaftung. 11. November 1943”.
Unendlichen Schmerz ruft dieses Leid hervor, das in der furchtbaren Zeit der stalinistischen Hölle zur alltäglichen Gewohnheit wird. „Die Einfachheit, die Natürlichkeit der ausgedrückten Gedanken, die äußerst lakonische Sprache, das Dialogfragment – all das gestattet es der Autorin, mit maximaler Genauigkeit die eigenen Gefühle an andere zu vermitteln. Der Beginn der traurigen Erzählung gibt einen Hinweis auf die Zeit: Mitternacht. Der zweite Satz konstatiert eine vollendete Tatsache: das Kindchen ist erwacht. Das Wort „Kindchen“ mit seiner hohen stilistischen Schattierung spiegelt die Liebe und Zärtlichkeit der Mutter gegenüber ihrem Kind wieder, verniedlichend zärtliche Suffixe („Mamilein“, „ein Tännchen“) – der Charakter einer Beziehung zwischen Menschen, die sich nahe stehen. Die Antithese „zum ersten Mal“ – „zum letzten Mal“ verstärkt den Kontrast zwischen glücklicher Vergangenheit und düsterer Zukunft. Die Mutter vertraut das Schicksal des Kindes den Armen der Nachbarin an, in dem sie es „mit meinem Herzen“ übergibt. Über sich selber spricht sie nun bereits in der dritten Person: „Die Verhaftete wird fortgebracht“. Von diesem Augenblick an beginnt die Zeitrechnung der ausweglosen Finsternis ihrer Existenz. Die verneinende Partikel „NICHT“ sagt in seiner Gesamtheit mit dem persönlichen Fürwort „ICH“ in der letzten Zeile eine Menge aus: „NICHT ICH“ – sondern eine Unbekannte, deren Leben am Stacheldrahtzaun „beschnitten“ wird; „NICHT ICH“ – das ist jemand, dessen Augen „vor lauter Tränen erblindet waren“; „NICHT ICH“ – das ist jemand, der aus dem vorherigen Leben „vollständig ausgelöscht wurde / Mit Blut und allen Wurzeln“; „NICHT ICH“ – bedeutet das gesichtslose „WIR“, die in den Abgrund der Willkür geworfen und nach § 58 verurteilt wurden…
Während ihres Aufenthalts im Norillag hatten nur wenige inhaftierte Schriftsteller und Dichter die Möglichkeit ihre professionellen Fähigkeiten zu nutzen: schriftliche Quellen wurden bei ihrer Entdeckung beschlagnahmt und nach der Freilassung nicht zurückgegeben. Trotz des strikten Verbots der Parteiführung der UdSSR jegliche Form von Lagerkunst zu verbreiten, gelang es Häftlingen des Norillag, denen das harte Schicksal „… zu ertragen / Kämpfe gegen Hunger und Kälte- / Das ganze System des Zwangsarbeiterlebens“ (Viktor Jewgrafow, „Zwangsarbeiter-Ballade“, zugefallen war, durch unvorstellbare List und Findigkeit einen Teil ihrer Werke zu bewahren. Sie hatten alles verloren, was sie mit ihrem normalen, geordneten, menschlichen Wohnumfeld verbunden hatte, selbst das Allernötigste war ihnen entzogen worden, aber die Möglichkeit, sich erneut einen Weg zu kreativem Schaffen zu suchen – dazu war niemand in der Lage. Die Poesie und Prosa von Menschen mit so einem „fatalen Schicksal“, welche „das Leid über alle Maßen“ kennengelernt hatten, haben keine Ähnlichkeit mit den „flammenden Predigten des Erzbischofs Johann Chrisostomus, der den Beinamen Slatoust erhielt“. [8]. Es ist die bittere Beichte von Menschen „ohne Vergangenheit“, Menschen, denen die Zukunft genommen wurde, die die wahre Lager-Gegenwart gelebt haben“ (Kemal Malikow).
Grausam sind die Zeilen
Über eine grausame Welt,
Sich wehrend
Gegen die Lager-Prosa.
Die Einzelzelle war ihr Ursprung,
Dort, wo der Tod droht
Und keine Rosen blühen.
Diese Zeilen
Sind vor Trauer zerflossen:
Der, der die Menschheit verriet,
hat befohlen,
Vollständig und
Mit allen Wurzeln
Die Brüder,
Uns
Und unsere Eltern zu vernichten.
Nora Pfeffer („Meine Verse“)
„Das waren Menschen mit unterschiedlichen Schicksalen, aber sie alle vereinte ein und dasselbe Thema in ihren Werken, das Thema ihrer Lager-Vergangenheit. Ihnen, ihren Talenten allein ist es zu verdanken, dass alle die Wahrheit über das Norillag erfahren konnten. Sie waren die Ersten, die Sturm geläutet und alle und jeden dazu aufgerufen haben, sich an der Gerichtssitzung der Zukunft über die Vergangenheit zu beteiligen. Wer weiß, was gewesen wäre, wenn es diese Leute nicht gegeben hätte? Was hätte die Gesellschaft dann über die Opfer der stalinistischen Verfolgungen erfahren?“ [7, S. 52].
Uns alle kreuzigten sie am roten Stern,
Brachten uns zu weit entfernten Bauprojekten…
Sibirien, Workuta, Solowki, Kolyma,
Norilsk, oder die BAM des Oserlag –
Die mit dem Blut der Gefangenen getränkten
Inseln des Archipels GULAG.
(P.Kusjatschkin. „Hymne eines ungesetzlich Verfolgten“)
Nicht alle, die nach dem „Halbhundert-acht-Paragraphen“ (§ 58) verurteilt worden waren, hielten den Schicksalsherausforderungen des Lebens in Unfreiheit stand. Viele ließen sich vollkommen gehen, sagten sich von den eigenen Eltern los und begingen schmutzige und gemeine Taten, um sich selber zu retten – so, wie der Held der Erzählung „Am blauen weißen Meer“ von S. Snegow Schurbend: „Vor nichts Halt machen, am wenigsten sich um die Logik sorgen, jedes Absurdum ist einem recht – je absurder, desto heftiger! Beschuldige den Stummen der Agitation, den Armlosen der Sabotage, den Beinlosen des Terrors, den Blinden des Schreibens von Flugblättern, die Mutter von zehn Kindern der Spionage. - Helden der Sozialistischen Arbeit der Sabotage, Helden der Sowjetunion des Vaterlandsverrats – das ja! Ich sage euch: je unsinniger, umso heftiger! Je schlimmer, desto besser! Einen anderen Weg der Rettung gibt es nicht!“ Solche Menschen, denen jegliche sittlich-moralischen Prinzipien abhandengekommen sind, konnte man schon lange bevor sie ins Lager gerieten als Tote bezeichnen. Doch auch sie kämpften für ihr wertloses Leben, erflehten eine etwas mehr wiegende Essensration, baten um Arbeit im warmen Kontor oder in der Küche, indem sie sich das Recht auf Existenz mit dem Preis des Lebens ihrer Kameraden von gestern erkauften.
Die Stalinistische „Erziehung“ und Lager-Ordnung löschten das Gute aus und ließen das Böse im Menschen entstehen: „… vor dem Einschlafen sortierten die Menschen in ihrer Erinnerung die Begegnungen, die sie während des Tages gehabt hatten und überlegten, ob – sich nicht womöglich von ihrer Zunge ein unvorsichtiges Wort gelöst hatte… für einen ganz harmlosen Witz oder eine Bemerkung in einem Brief geriet der Mensch automatisch unter den § 58-10 (konterrevolutionäre Propaganda)“ (Gunar Kroders, ehemaliger „Sonderumsiedler“).
Am Unerträglichsten war das innere Empfinden der Einsamkeit, die alle Kräfte übersteigende Schwerstarbeit und die täglichen Demütigungen: die endlosen Zählappelle, die Durchsuchungen, am Tag und in der Nacht, beim Betreten und Verlassen der Lagerzone. All diese Maßnahmen waren darauf ausgerichtet, um sich die Verurteilten in noch größerem Maße gefügig zu machen und die allerletzten Reste eigenen Willens zu unterdrücken.
Menschen ohne Vergangenheit,
Menschen, denen man die Zukunft geraubt.
Sie lebten die Lager-Gegenwart,
Die da hieß: beugt euren Kopf noch tiefer!
Die da hieß: im Widerschein der Bajonette.
Die da hieß: abends zu träumen …. zu überleben!....
(Kemal Malikow. „Begegnung mit Norilsk“).
Nicht weniger schrecklich war die Erfahrung des Hungerns. Seine unüberwindliche Kraft erschütterte, zerbrach und vernichtete die Menschen: völlig entkräftet durch Mangelernährung und Krankheiten kamen sie zu dutzenden, zu hunderten ums Leben. Die tägliche Häftlingsration („ … sechshundert Gramm Brot und ein halber Liter Wassersuppe. Bei so einer Fütterung hätte nicht einmal ein kleines Kind im Polargebiet lange durchgehalten“ (S. Snegow, Sammelwerk „So war es in Norilsk“), und diese Ration konnte nicht einmal halbwegs den Hunger der Menschen stillen, die von der ununterbrochenen, 10-12 Stunden dauernden täglichen Arbeit und durch Krankheiten vollkommen erschöpft waren: „Nicht ich allein, fast alle von uns wurden vom Wind durchgeschüttelt und waren ganz trunken von der Sonne… Was das Verlangen nach Nahrung betrifft, so muss man darüber nicht viel reden. Ich wäre bereit gewesen, an jedem beliebigen Ort zu sein, zu essen, zu fressen, mit den Zähnen zu mahlen und zu zerreißen – das wäre etwas gewesen…“ [8]. (S. Snegow, Sammelwerk „So war es in Norilsk“).
D. Kugultinow, ehemaliger Gefangener des Norillag erwähnt, wenn er sich an die schwere Vergangenheit erinnert, vor allen Dingen die Qualen des Hungers: „Ich erinnere mich / Mein Hunger. Ich konnte nicht mehr“. Aber möglicherweise war es das Mitleid einer russischen alten Frau, die ebenfalls „hinter der Sperrlinie“ der GULAG-Folterkammern ihren Sohn verloren hatte und ihm heimlich, unbeobachtet von den Wachen, ein Stückchen Brot zugesteckt hatte, welche den Gefangenen wieder zum Leben erweckte.
So gelang es den Menschen doch irgendwie die Erschwernisse des Lagerlebens durchzustehen und ihre sittlich-moralischen Orientierungspunkte, ihre Menschlichkeit und Barmherzigkeit zu wahren.
Scheinbar prüfte die raue Natur des Polargebiets die Menschen ebenfalls auf ihre Standhaftigkeit. Der Eindruck von der grenzenlos weiten nördlichen Einöde“ (S. Badasch), „der weißen, wütenden Grenze“ der Erde, war unangenehm: „Tundra-Schnee. Tundra-Frost. Tundra-Wind./ Es ist so schwierig.“ (K. Malikow „Meine Parzelle – nordöstlich…“). Die leblose. „weit entfernte, halb wilde Tundra“ (S. Badasch, „Für dich, meine beste Mutter…“), der verzehrende Frost, tobende „schwarze Schneestürme“, rasende Winde, mitunter mit einer Geschwindigkeit von vierzig und mehr Metern in der Sekunde… „Das kalte Feuer des Polargebiets“ (D. Kugultinow „Abklärung“) schonte niemanden: weder die Häftlinge, noch die Wachen und frei angeworbenen Mitarbeiter…
Die Landschaft, welche die vom Schicksal gezeichneten Menschen durch den Stacheldrahtzaun sahen; konnte nicht schön sah: alles fügte sich „in die mit Unheil drohenden Vorzeichen“ des Schicksals, spiegelte sich in freudlosen Zeilen wieder und charakterisierte den Seelenzustand und das Empfinden in diesem ausweglosen, geschlossen Lebenskreis:
Ich warte auf das Unglück. Meine Tage sind leer.
Das Leben hat mir die Knute geschickt und keine Grüße.
Und da – wieder fügen sich Erde, Wasser, Blätter
Zu mit Unheil drohenden Vorzeichen zusammen.
(S. Snegow, Sammelband „So war es in Norilsk“)
Der Himmel, die Erde, der „nasse, ungesunde Polarherbst“ (S. Snegow) mit seinem kalten Nieselregen, Schneesturm, schwer lastend auf all dem Bösen, der durchdringende, kalte Schnee, der ewige Frost – das alles besaß erbarmungslose Macht über „den Menschen mit seiner fünfstelligen Nummer“. (K. Malikow) und war ganz und gar gegen ihn gerichtet:
Leere. Nichts. Kein Fetzen eines
Zufällig aufgestellten Zelts, keine Tanne, keine Birke.
Leere. Steine. Ein Bergfluss.
Wasser, das durchs Moos fließt, wie Tränen
Der mürrischen Erde, ein eisiger Schauer
Und schwarze Wolken, im Himmelsbeben auseinanderbrechend…
Kalter Regen, kalter, feiner Nieselregen.
Ich bin schutzlos, es gibt keine Rettung! (S. Snegow, Sammelband „So war es in
Norilsk“)
Die „Leere“, die das Norillag umgab, drückte die Menschen nieder, nahm ihnen die allerletzte Freude des Umgangs mit der Natur und verursachte schwermütige Gedanken über die sinnlose Hoffnung auf Rückkehr in das vorherige Leben: kein Schutz und keine Rettung vor der Willkür.
Das wunderschöne „Nordlicht“, „wo Jugend und eisige Kälte miteinander vereint sind“, vom klirrenden Frost verbrannt (D. Kugultinow „Norilsk, Norilsk…“); „die großen arktischen Weiten“ (S. Badasch „Für dich, meine beste Mutter…“) wurde von der langen Polarnacht verborgen; die unwirtliche Erde des nördlichen Taimyr veränderte den Menschen bis zur Unkenntlichkeit – äußerliche, aber auch in seinem Inneren: „Ich alterte und veränderte mich sehr, / Wären wir uns begegnet – ihr hättet mich nicht wiedererkannt…“ (S. Badasch „Ich existiere, Mama! Sei nicht traurig!“)
Aber auch hier gewöhnten die Menschen sich an die rauen Bedingungen des Nordens, lernten sich aufrichtig zu freuen und der nach der langen Polarnacht aufgehenden Sonne Beifall zu zollen:
… Die Sonne ist ohne Eile
Hinter dem Gipfel des Berges aufgegangen.
Wie im Himbeermonat vom Feuer
Schwarzer Wolken bunt gefärbt.
Wie wir ohne sie im Dunkeln leben können,
Als ob sie sich danach erkundigt hätte.
Ewiges Glück für alle und alles,
Allen und jedem gegeben, -
Wie habe ich drei Monate ohne sie gelebt.
Tatsächlich begreife ich es selber nicht.
Sonne! Siehst du? Wir waren geduldig
Für eine lange, lange Zeit…
Sonne! … Und als ob wir auf einer Versammlung wären,
Haben wir ihr applaudiert.
(D. Kugultinow „Sonne am Polarkreis“)
Sie fanden die innere Kraft, die unauffällige Schönheit der nördlichen Natur lieb zu gewinnen, indem sie die Farbe des Feuers und die blauen Bänder des Nordlichts bemerkten, welches die Hoffnung „sich neu vereinender Herzen“ wieder aufleben ließ“.
Die Herausforderungen der Natur förderten seltsamerweise das Zusammenschweißen sowohl der Verurteilten als auch ihrer Wachsoldaten, was ihre Wirkung auf die Einen, wie auf die Anderen zeigte, und sie zu einem geeinten „organisierten, menschlichen Kollektiv“ zusammenschweißte. Eine Beschreibung des wütenden Schneesturms mit dem eisigen Wind und die Kraft von zweitausend unter freiem Himmel zur Arbeit geführten Gefangenen ihnen zu wiederstehen, ohne dass sie in vorübergehenden Unterständen vor dem eisigen Wind und dem Frost von minus fünfzig Grad am 70. Nördlichen Breitengrad „hätten Schutz suchen können“, finden wir in S. Snegows Erzählung „Das Leben vor dem ersten Schneesturm“ aus dem Sammelband „So war es in Norilsk“: „Nur hier, in der offenen Tundra, haben wir begriffen, was ein echter „schwarzer“ Schneesturm ist… An einem der Pfähle sahen wir einen vom Sturm besiegten Schützen. Der heftige Wind hatte ihn in die Tundra fortgerollt, und der Schütze hatte, ohne sein Gewehr loszulassen, verzweifelt versucht, sich im Schnee festzukrallen, er heulte und schrie, doch drang seine schluchzende Stimme kaum an unser Ohr. Wir erkannten ihn – er war ein guter Schütze, ein ganz einfacher Wachmann, der uns nie wegen irgendwelcher Kleinigkeiten Vorwürfe machte… Fünf man, die einander bei den Händen gefasst hielten, näherten sich dem Schützen und zogen ihn zur Kolonne heran. Er ging in der Mitte unserer Reihe, völlig außer Kraft geraten, und klammerte sich mit tödlichem Griff an unseren Armen fest. Noch drei oder viermal blieb die gesamte Kolonne für ein paar Minuten stehen, und wir, die wir ein wenig verschnauften, wussten, dass unsere Kameraden irgendwo zu dieser Zeit entkräfteten Wachsoldaten aus der Not helfen…“[8].
Auf diese Weise stellten Opfer des stalinistischen Regimes, die „ihre Freiheit und ihre ehrbaren Namen verloren hatten und denen man die Bezeichnung „Volksfeinde“ angehängt hatte (P. Kusjatschkin, „Hymne eines ungesetzlich Verfolgten“), Rekorde an Menschlichkeit und Mitleid auf, indem sie die innere Seelenkraft bewahrten – sogar unter den unmenschlichen Bedingungen des Lagerlebens, nur um vor allen Dingen MENSCHEN zu bleiben und sich zum Guten zu verändern.
Poesie und Prosa über das Norillag. Welche die Wahrheit darüber überzeugend und objektiv widerspiegeln, sind nur spärlich, bruchstückhaft und mitunter ganz zufällig erhalten geblieben. „In der Tundra, auf den Wegen, in den Gräben und in den Erzgruben blieb eine ganze Generation nicht verwirklichter oder zerstörter Poesie zurück“ [1, S.4]. Aber auch die wenigen Zeilen, die bis zu uns gelangt sind, „geschaffen von mutigen, starken Menschen, die selbst den schwierigsten Schicksalsforderungen standhielten und mit hoher Ehre ihr Examen auf dem Gebiet der Standhaftigkeit ablegten“ [5, S.8], beweisen eine mächtige Wechselbeziehung und rufen eine kolossale Resonanz in den Seelen hervor, indem sie sie reiner, moralischer, humaner machen. Der grenzenlose Mut und die Standhaftigkeit von Menschen, die die Folterkammern des NKWD durchgemacht und dabei nicht ihre moralischen Orientierungspunkte und Prinzipien verloren haben, die es verstanden haben, die Hölle der Lager und Gefängnisse zu ertragen – diese Menschen verdienen ungeheuren Respekt und die Verneigung vor ihren Heldentaten. Wir besitzen nicht das Recht, die schreckliche Epoche der Massenrepressionen der Sowjetmacht zu vergessen, und wir sollten alles uns Mögliche tun, dass dieser Alptraum sich niemals wiederholt.
… Wir haben überlebt … Aber jene – ihre Spur ist
verloren.
Zwecklose Suche, es gibt sie auf der Welt nicht
mehr…
Aber die Wahrheit gibt es! Mögen auch viele Jahre
vergehen
Und die Heimat fragt: „Wo sind meine
Kinder?“
Als Antwort auf einem Klumpen schwarzen
Granits
Ist auf ewig eingeprägt die
Zeile:
„Nichts ist vergessen.
Wir erinnern uns an euch, unschuldige Häftlinge!“
(G.A. Popow „Ich glaube“)
Also, die Ergebnisse der geleisteten Forschungsarbeit gestatten es uns folgende Schlussfolgerungen zu ziehen:
1. das Werk der Gefangenen des Norillag stellt ein einzigartiges Zeugen-„Vermächtnis“ handelnder Personen dar – entstanden aus dem Bestreben, die ganze Wahrheit und die sich widerspiegelnde Geschichte des stalinistischen Terrors zu erzählen;
2. das Leben der Häftlinge und der Familien frei angeworbener Arbeiter kamen unvermeidlich miteinander in Berührung, indem sie auf die Lebens- und Denkweise der „unfreiwilligen Zeugen“ Einfluss nahmen;
3. in keinem der „Todeskandidaten des Systems und des unbarmherzigen Regimes“ erlosch der Glaube an den Triumph der Gerechtigkeit und den „endgültigen Sieg des GUTEN über das BÖSE“;
4. auf dem „schrecklichen und unmenschlichen Todes-Fließband“ des GULAG gelang es der künstlerisch schaffenden Intelligenz ihre sittlich-moralischen Orientierungspunkte und menschliche Würde zu wahren, die Kraft zu finden MENSCHEN zu bleiben und sich zur besseren Seite hin zu wenden.
Auf diese Weise hat die Forschungshypothese bestätigt; die Poesie und Prosa von Häftlingen und „unfreiwilligen Zeugen“ des Norillag verbindet dokumentarische Glaubwürdigkeit mit emotionaler Überzeugungskraft und gestattet es eine Vorstellung über die ganze Wucht des Staatsterrors gegen das eigene Volk zu bekommen.
1. J. Barijew. Das Schneesturmnest. Buch mit Gedichten Norilsker Dichter /
Red. und Verf. J. Barijew – Norilsk, 1994 – 496 S.
2. J.A. Barijew. Chronik des Winters: Anthologie / Verf. T.L. Schaibulatowa –
Norilsk: APEKS-Verlag, 2008.- 160 S.
3. L.N. Gumilew, Gesetze der Zeit // Literarische Übersicht. – 1990. – N° 3. –
S. 6.
4. Gunar Kroders. Ich lebe und erinnere mich. Norilsker Golgatha
5. A.B. Loginow. Norilsk – meine Sternenstunde. – Moskau: Verlag „Polimedia“,
2000. – 184 S., Ill.
6. L. Petscherskaja. So begann die Geschichte des Norillag.
„Memorial“-Gesellschaft.
7. D.W. Poluschin. „Unterdrückungskultur: das geistige Leben des Norilsker
Arbeits-/Besserungslagers in den Jahren 1935-1956“.
8. S. Snegow. Norilsker Erzählungen.
Lew Nikolajewitsch Gumilew
Sergej Aleksandrowitsch Snegow
Jelisaweta Jakowlewna Drabkina
Sergej Schtschegow (der Norilsker)
David Nikitowitsch Kugultinow