Autorin: Margarita Wadimowna Balyberdina
Oberschule N° 11, Stadt Krasnojarsk, Klasse 9°
Projektleitung: Jelena Walentinowna Balyberdina
• allgemeine Leitung
• Hilfe bei der Wahl der Forschungsrichtung
• Exkurs in die Geschichte
• Hilfe bei der Auswahl von Literatur
• Korrektur des Materials
Stadt Krasnojarsk
2006
In der Arbeit wird über das nicht leichte Schicksal der Familie Seel berichtet, einer Familie ethnischer Deutscher, die durch alle entscheidenden Wendepunkte in der Geschichte Rußlands im 20. Jahrhundert gegangen ist: Revolution, Kollektivisierung, Krieg, Deportation aus Deutschland nach Sibirien. Frieda und Reinhold Seel sind die Urgroßeltern der Autorin. Infolge der ganzen Ereignisse und Umstände lebt die Autorin in Krasnojarsk, dort, wohin die Mitglieder der Familie Seel anfangs zur Sonderansiedlung gebracht wurden. Die „Reise“ der Familie begann in dem Dorf Krasnij Jar in der Ukraine, sie verlief über Deutschland und endete in Sibirien, in Krasnojarsk und Irkutsk. Die Reise dauerte – ein ganzes Leben.
Am 9. November 2006 starb Frieda Iwanowna Seel, meine Urgroßmutter. Leider habe ich sie nur selten gesehen und wenig Kontakt zu ihr gehabt, denn sie wohnte in Irkutsk und ich in Krasnojarsk. Aus diesem Grunde bilden die Erzählungen meiner Großmutter Lidia Seel und ihrer Tochter die Grundlage meiner Arbeit. Lilia war Zeugin und Teilnehmerin an den Ereignissen der 1940er und 1950er Jahre. Sie unternahm zusammen mit ihren Eltern diese einzigartige „Reise“, teilte mit ihnen das Los der anderen ethnischen deutschen Familien in der UdSSR. Der Beginn der Zwangsreise der Familie Seel fiel beinahe mit der Geburt meiner Großmutter zusammen. Lilia Seel wurde am 29. Juni 1943 in der Ukraine, im Nikolajewsker Gebiet, in der Ortschaft Krasnij Jar, geboren. An dieser Stelle ist ein Abschweifen von meinem Bericht in die Geschichte einfach unerläßlich, um zu verstehen, auf welche Weise die deutsche Familie Seel in das ukrainische Dorf geriet, dessen Name eine so große Ähnlichkeit mit der Bezeichnung Krasnojarsk besitzt.
Die meisten Dörfer in der Umgebung von Nikolajewo, Shitomir und Odessa wurden von deutschen Kolonisten im 18. Jahrhundert gegründet. Die Massenumsiedlung der Deutschen in die neuen russischen Gebiete wurde durch eine ganze Reihe von Faktoren begünstigt. Religiöse Unterdrückung war einer von ihnen. Das (katholische) Kirchenkonzil verfolgte eine strenge Politik in Bezug auf die Anhänger Luthers; sie wurden zu Ketzern erklärt, ihre Familien waren Verfolgungen ausgesetzt. Dadurch waren viele Menschen gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen. Andere wiederum zog ein eher merkantiles Interesse nach Rußland. Katharina II versprach und gab den landlosen deutschen Bauern in Rußland Ackerland. Die Bauernschaft unterlag keiner Besteuerung. Ihre Söhne wurden nicht in die Armee einberufen. Aus welchen Gründen genau die Vorfahren hierher kamen ist nicht bekannt, nur daß die Seels, Schlechts und Gellerts alle aus Württemberg nach Rußland kamen und hier eine Siedlung gründeten. Daran angrenzend wurden Kantone von Juden gegründet, Zugewanderten aus deutschen Gebieten. In den deutschen Familien wurden viele Kinder geboren – es wuchsen neue Arbeitskräfte heran.
Foto N° 1 . Familie Schlecht . Ende des 19. Jahrhunderts
Mit der Zeit wurden die Familien recht wohlhabend. Sie säten Getreide, züchteten Vieh und betrieben Weinbau. Sie wahrten die deutschen Traditionen. Sie sprachen nur Deutsch, verstanden Hebräisch. Ihr stabiles, solides Leben dauerte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts an. Die Nachbarschaft mit den Juden rettete die Familie in den 1930er Jahren während der Entkulakisierung. Ausgerechnet sie waren es, die den Familien Schlecht und Seel Obdach gewährten, als deren Familienväter verhaftet und die Häuser beschlagnahmt wurden. Zu Beginn des Krieges waren es dann die Deutschen, die jüdische Kinder versteckten.
Aber kehren wir zum Jahr 1943 zurück. Zu dieser Zeit war das Territorium der Ukraine bereits längst von den faschistischen Truppen besetzt. In den deutschen Siedlungen verweilten sie praktisch überhaupt nicht, denn sie hielten die dort lebende Bevölkerung für loyal; die Hauptsache war, daß sie ihren Vormarsch nach Moskau und andere russische Städte weiter-führten. Aber wie aus der Geschichte bekannt, mißlang der Blitzkrieg, der Feind wurde bei Moskau gestoppt, danach fanden die Schlachten von Stalingrad, Kursk und andere statt. Es begann der Rückzug der deutschen Truppen gen Westen. Den Bürgern deutscher Nationalität, die in den Territorien der UdSSR wohnten, wurde von Hitler befohlen, ihre Dörfer und Städte zu verlassen und in die Heimat „zurückzukehren“. Deutschland brauchte arbeitende Hände. Es hatte seine Hoffnung auf die Weltherrschaft noch nicht verloren.
Frieda und Reinhold Seel spannen das Fuhrwerk an und machen sich mit ihrem einjährigen Kind im Arm und mit Friedas Mutter – Olga Schlecht – auf den Weg nach Deutschland.
Es war der erste Aufbruch von Deutschen aus Rußland im 20. Jahrhundert. Die Menschen fuhren mit Fuhrwerken, viele gingen zufuß und trieben ihr Vieh neben sich her. Die Reise zog sich über Monate hin. Es regnete heftig, die Straßen waren voller Schlamm und schwer passierbar. Es kam sogar vor, daß Pferde völlig erschöpft zusammenbrachen. In einer dieser Nächte, während eines heftigen Gewitters, scheute eines der Pferde vor Schreck so sehr, daß es seitlich ausbrach und den Leiterwagen mitsamt seiner Fracht umwarf. Während Frieda und Reinhold bei ihrem verunglückten Wagen blieben, wurden Großmutter Olga und die kleine Enkelin auf ihren Armen von anderen Flüchtlingen auf deren Leiterwagen mitgenommen. Bei Tagesanbruch, wenn das Gewitter vorbei war, würden sie sich schon wiedertreffen. Ob es wohl schwierig wäre, die anderen einzuholen?
Am Morgen,fanden sie sich in der ganzen Menschenmasse und den ganzen Weggabelungen nicht wieder. Frieda und Reinhold hatten Mutter und Tochter verloren. Aber damals führten alle Wege für sie nach Deutschland. Dort wurden sie zur Arbeit auf einem Bauernhof eingeteilt. Sie arbeiteten für einen Bauern (so nennt man in Deutschland einen kräftigen Mann mit Landbesitz). Frieda mußte die Kühe melken, Reinhold fuhr die Milch in die Molkerei. Während dieser Zeit arbeitete Großmutter Olga von Früh bis Spät in einer anderen deutschen Familie. Sie geriet mit Lilia in der Nähe von Berlin ebenfalls auf einen Bauernhof. Für das Enkelkind fand sich ein Kindermädchen. Die kinderlose deutsche Familie bat sogar darum, das Kind adoptieren zu dürfen. Aber die Großmutter war nicht einverstanden; sie gab die Hoffnung nicht auf, daß sie die Verwandten wiederfinden würde. Mit dieser Hoffnung kehrte sie auch in die UdSSR zurück, so bald sich dazu eine Gelegenheit bot.
Nach Kriegsende verlangte Stalin die Rückkehr aller Russen: die gegen ihren Willen zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppten Russen, Weißrussen, Ukrainer, Kriegsgefangenen, Häftlinge der Konzentrationslager und ethnischen Deutschen. Sie sollten in ihre eigenen Dörfer und Städte zurückkehren, in ihre heimatlichen Gefilde. Aber die Züge, deren Waggons für den Transport von Menschen gar nicht geeignet waren. fuhren von Deutschland geradewegs nach Sibirien. Man hatte die Menschen betrogen. Oma Olga und Lilia kamen einigeWochen später, nach einer endlos scheinenden „Reise“ in Krasnojarsk an. Am Bahnhof ließ man sie auf ein Fuhrwerk umsteigen und brachte sie in eine Kolchose. 24 der eingetroffenen Familien wurden in einem verfallenen Getreidespeicher untergebracht, in dessen Mitte ein kleiner Kanonenofen stand. Um diesen herum stellten die Menschen Pritschen auf, und dort überwinterten sie dann auch. Um sich wenigstens ein Stückchen Brot zu verdienen, arbeitete Großmutter Olga im Gemüse-Vorratslager bei der Sortierung; sie steckte der dreijährien Enkelin ein paar Kartoffeln zwischen Kleidung und Brust, was ihnen, Alt und Jung, vermutlich in jenem unheilvollen Jahr das Leben rettete. Geld zahlten sie für die getane Arbeit nicht; stattdessen erhielten sie Lebensmittelkarten. Im Sommer hielten sie sich mit Bärlauch, Beeren und Pilzen über Wasser.
Im Dezember 1946 wurden alle einberufen und erneut abtransportiert. Sie kamen zur Waldwirtschaft. Man gab ihnen Schaufeln und Brechstangen für den Bau von Erdhütten. Alte und Frauen mußten eine Erdhütte für alle graben. Sie hausten darin bis zum Frühling. Die Arbeitsfähigen gingen in den Wald zum Bäumefällen, die Kinder blieben in der Erdhütte. Sie erhielten Lebensmittelkarten für den Bezug von 300 Gramm Brot, Perlgraupen, einem Eintopfgericht; diejenigen, die auf Kosten der anderen lebten, bekamen weniger.
Alle Sonderumsiedler waren verpflichtet sich regelmäßig bei der Kommandantur zu melden. Verlassen des Ortes, Umzüge waren nicht möglich. Aber zwischen den einzelnen Dörfern lief ein reger Briefwechsel an. In wildfremden Briefen fanden sich Notizzettel, auf denen zu lesen war, wer, von wo, nach wem auf der Suche war. Viele suchten ihre Angehörigen. Auf diese Weise, durch eine Briefnotiz, fanden Frieda und Reinhold die Ihren wieder. Es stellte sich heraus, daß sie ebenfalls aus Deutschland nach Sibirien deportiert worden waren, allerdings in die Region Irkutsk, wo sie beim Holzeinschlag arbeiteten. Frieda konnte nicht sofort zu ihrer Tochter fahren. Sie mußte erst beweisen, daß Lilja auch wirklich ihre Tochter war, um dann die Erlaubnis zu erhalten. Damit ging ein halbes Jahr ins Land. Oma Lilja denkt auch heute noch daran, wie ihre Mama und Oma Olja weinten, sich immer wieder umarmten. Schließlich war es ein Wunder , daß sie wieder zusammengekommen waren: erst hatten sie sich in der Ukraine verloren, dann waren sie nach Deutschland geraten, hatten den Krieg, Kälte, Hunger und die Deportation durchgemacht und sich dann drei Jahre später in Sibirien wiedergefunden. Die Familie wurde in die Siedlung Koty am Baikalsee umgesiedelt; die Erwachsenen arbeiteten in der Goldgrube, beförderten das Gestein mit Schubkarren aus dem Schacht. 1949 zogen einige Familien in die Ortschaft Talzy um. Frieda wurde zur Arbeit in eine Glasfabrik geschickt, Reinhold kam zur Holzfällerei. Hier muß man anmerken, daß Lilias Vater seit seiner Jugend Invalide war. Mit fünfzehn Jahren hatte er bei der Kolchosarbeit eine Hand verloren, aber er arbeitete seine Leben lang viel und erledigte auch schwere körperliche Arbeiten. In den 1950er Jahren bauten sie in Talzy Baracken mit 32 Zimmern; in jedem dieser Zimmerchen wurde dann jeweils eine Familie untergebracht. Es war ein internationales Gemisch: Ukrainer, Litauer, Moldawier, Deutsche. Aber ein großer Kummer war ihnen allen gemeinsam – ihre Rechtlosigkeit. Sie fürchteten sich vor allem, vor jedem überflüssigen Wort, jedem schiefen Blick. Die Sprache, in der sie kommunizierten, war für alle Russisch. Oma Lilia erinnert sich jetzt daran, daß sie ihr halbes Leben lang Angst davor hatte zu sagen, daß sie Deutsche war. Um die Kinder zu beschützen, bemühten sie sich ihre Sprache, ihre Tradition und ihre deutschen Namen zu „vergessen“.
Mit dem Tode Stalins begann die Hoffnung auf Freiheit. 1956 erhielten Frieda und Reinhold einen Ausweis. Formell konnten sie nun in die heimatliche Ukraine zurückkehren oder den Wohnort innerhalb Rußlands wechseln. Aber auf ihren früheren Grund und Boden zurückzukehren war ihnen nicht möglich. In der Familie gab es vier Kinder. Ein Umzug forderte nicht wenige finanzielle Mittel. Und es gab auch eigentlich keinen Ort, an den sie fahren konnten. Ihr Haus in der Ukraine war an den Dorfrat übergeben worden. Friedas und Reinholds Väter waren bereits in den 1930er Jahren enteignet, später verhaftet und erschossen worden. Davon erfuhren sie erst im Jahre 1956. Nach einem entsprechenden Gesuch bekam Oma Olga ihre Rehabilitationsbescheinigung zugeschickt.
Foto N° 2 . Iwan und Olga Schlecht . Friedas Eltern.
Heutzutage wird die gewaltsame Umsiedlung der Völker von Staat und Gesellschaft als Verbrechen anerkannt. Im 21. Jahrhundert, im Verlaufe der demokratischen Prozesse, welche die Welt durchfließen, dürfen keine Bedingungen und Situationen, die den Genozid eines Volkes an einem anderen zulassen, mehr entstehen oder geschaffen werden. Man muß sich immer die Geschichte seines Staates vergegenwärtigen und darf genau deswegen nicht die eigene Geschichte, die Geschichte seiner eigenen Familie, vergessen. Die Geschichte einer Familie – die Geschichte des Staates als Miniatur-Fassung. Ich habe hier nur von einem Familienzweig berichtet, dem deutschen. Aber in den 1930er Jahren waren auch meine russischen Großväter mütterlicherseits hier in Sibirien Repressionen unterworfen. Der eine war Geistlicher, der andere Offizier.
Abschließend kann man sagen, daß sich in der UdSSR in den 1930er und 1940er Jahren des vergangenen Jahrhunderts Bedingungen und Voraussetzungen herausbildeten, unter denen es nicht wichtig schien, wer man war. Russe, Deutscher, Gläubiger, Atheist, Gebildeter oder Analphabet. Jeder beliebige Mensch konnte seiner Rechte enthoben, verhaftet und deportiert werden.
Diese Lektionen der jüngsten Geschichte dürfen wir niemals vergessen.
Olga Schlecht, Frieda und Reinhold Seel ruhen in Irkutsker Erde, die ihnen zur Heimat wurde, allerdings nur aufgrund des Drehbuches, das die Tragische Geschichte Rußlands für sie schrieb.
Frieda Seel
Reinhold Seel
1. Erzählung von L.R. Balyberdina (geb. Seel)
2. Enzyklopädie für Kinder, Band: Die Geschichte Russlands
3. Weltgeschichte, Band 1, Moskau, „Awanta“-Verlag, 1994, S. 385-386
4. Informationsausgabe N° 6 „Methodisches Seminar für Forscher am Thema „Politische
Repressionen in der UdSSR“, Krasnojarsk, 2006
4a) J.L. Sberowskaja. Das Leben unter den Bedingungen der Deportation.
4b) Sch.A. Serschanowa. Die geschichte der Umsiedlung der Wolga-Deutschen nach
Sibirien
in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges.
5. Materialien von der Webseite memorial.krsk.ru
6. Fotos aus dem Familienarchiv der Familie Seel
7. Rehabilitatonsbescheinigung von L.P. Seel
8. Rehabilitationsbescheinigung von L.P. Seel und R.F. Seel vom 01.06.2001.