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Das Tajmyr-Gebiet in den Jahren der Repressionen

Such- und Forschungsaktion „Die Region Krasnojarsk in den Jahren der Repressionen

Autorin:
Soja Andrejewna Balzer
Oberschule Nosok, 10. Klasse
Siedlung Nosok
Kulturvereinigung „Heimatlicher Tajmyr“
Leitung:
Olga Lwowna Malinowskaja
Geographielehrerin an der Oberschule Nosok

Dudinka, 2006

PLAN

1. Einführung
Über die Repressionen
II. Hauptteil
1. Die Wolga-Deutschen
2. Die Schicksale der Repressierten
III. Schlussbemerkung
IV. Liste der verwendeten Literatur
V. Liste der Anhänge

Repression – ist eine Strafmaßnahme,
die von den staatlichen Organen ausgeht.
Erklärendes Wörterbuch der russischen Sprache.

Die Geschichte eines jeden Staates besteht aus verschiedenen Ereignissen, Namen, Fakten. Aus der Geschichte etwas hinauswerfen ist nicht möglich, vergessen – ebenfalls nicht. Selbst wenn diese Ereignisse traurig, tragisch und unangenehm für jemanden sind – man muss sie erfahren, wenigstens zu dem Zweck, dass sie sich niemals wiederholen.

Eine der tragischen Seiten der Geschichte unseres Staates sind die Repressionen der Bevölkerung Russlands. Weshalb hat das Thema mich interessiert? Seinerzeit gab es in unserer Siedlung viele Menschen, deren Familiennamen keineswegs nenzisch , ja nicht einmal russisch klangen. Es waren vielmehr Nachnamen wie Miller (Müller?), Giss (Hiss?), Felker (Völker?), Paul u.a. Der Familienname meines Vaters lautet Balzer. Sie sind alle deutschen Ursprungs. Wie war es möglich, dass Menschen mit solchen Nachnamen ins Taimyrgebiet gerieten? Als ich mich an die Alteingesessenen der Siedlung wandte, erfuhr ich, dass die Deutschen hier im Jahre 1941 auftauchten, und das nicht aus freiem Willen. Das Studium der Geschichte jener Jahre half dabei, die Gründe dafür zu verstehen, weshalb Deutsche so weit in den Norden Russlands gerieten.

Die Ansiedlung von Deutschen in Russland begann bereits unter Peter I. Einen besonders starken Anstieg deutscher Bevölkerung gab es unter Katharina II, die 1768 zehntausende deutsche Bauern-Kolonisten und Handwerker aus Hessen aufforderte ins Land zu kommen (3). Ihre neuen Wohnorte befanden sich in der Ukraine, auf der Krim. im Kaukasus und an der Wolga. Fleißig und gewissenhaft bearbeiteten die Kolonisten die ihnen zugewiesenen russischen Böden, verehrten die russischen Zaren, bewahrten ihre Muttersprache und Kultur.
Unter der Sowjetmacht wurde 1924 die Autonome Deutsche Wolga-Republik gegründet, deren Bevölkerung sich aus den Nachfahren der Hessen-Deutschen zusammensetzte.

1937-1938 und 1941-1944 wurde im Sowjetstaat die Deportation verschiedener Völker aus nationalen Beweggründen durchgeführt. Mehr als 2,5 Millionen Menschen aus über zehn Nationalitäten-Zugehörigkeiten wurden repressiert. Es handelte sich um Koreaner, Chinesen, Bulgaren, Griechen, Armenier, Kalmücken, Tataren, Tschetschenen, Inguschen und andere Nationalitäten. Die Sowjet-Deutschen wurden zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges deportiert. Grund für die Ausweisung zehntausender Koreaner und Chinesen in den Jahren 1937-1938 aus dem Primorje-Gebiet nach Kasachstan und Mittelasien war deren potentielle Möglichkeit, „japanische Spione“ zu werden – mit Japan reifte ein Konflikt heran. Der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges löste eine Massendeportation der Deutschen aus.
Sie waren bereits als „deutsche“ Spione und Saboteure hingestellt worden, die auf ein Signal aus Deutschland Sabotageakte in den Wohnbezirken ausführen sollten. Damit die Bevölkerung dies auch glaubte, begann in der Presse jener Zeit mit der „Bearbeitung der Köpfe“ („Gehirnwäsche“; Anm. d. Übers.). So schrieb der Schriftsteller Ilja Erenburg in der „Prawda“ („Wahrheit“; Anm. d. Übers.), dass, nachdem sich die Deutschen auf den besten Böden Russlands niedergelassen hätten, das russische Volk angefangen hätte, Groll und Hass gegen sie zu hegen.

Am 28. August 1941 brachte das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Ukas über die Liquidierung der wolgadeutschen Republik heraus. Mit diesem Ukas wurde, zur Vermeidung von Sabotage-Akten auf Weisung Deutschlands und darauffolgender Strafmaßnahmen seitens des Staates gegen die Wolga-Deutschen, die Umsiedlung aller Wolga-Deutschen in andere Bezirke des Landes als unvermeidlich angesehen. Dabei sollten die Umzusiedelnden mit Grund und Boden ausgestattet werden, außerdem versprach der Staat Hilfe beim Sich-Einrichten an den neuen Wohnorten. Für die Umsiedlung waren „die in Hülle und Fülle vorhandenen Ackerböden in den Gebieten Nowosibirsk und Omsk, dem Altai-Gebiet, Kasachstan und anderen benachbarten Gegenden“ bestimmt worden1.

In den Zeitungen wurde dieser Ukas am 8. September 1941 veröffentlicht, aber zu dem Zeitpunkt waren bereits hunderttausende Deutsche nach Sibirien und Kasachstan verschickt worden. Zum Packen gaben sie den Leuten zwischen 20 Minuten und 2-3 Stunden, und sie durften lediglich Dokumente und ein Minimum an Sachen mitnehmen. Die Männer wurden in die Trudarmee mobilisiert, während alte Leute, Frauen und Kinder in völlig ungeeigneten Waggons ins Ungewisse fuhren. Hinter ihnen blieb die Heimat zurück, die wohnlichen Häuser. der gewohnte Alltag, geliebte Menschen … Was erwartete sie dort, weit entfernt von ihren heimatlichen Gefilden?

Das Schicksal jedes dieser unglücklichen Menschen, der „Sonderumsiedler“, wie sie später genannt wurden, kann man am Beispiel des Lebens eines einzelnen Menschen enthüllen – so sehr ähneln sich die Berichter der verschiedenen Menschen, welche diesen Alptraum der Umsiedlung miterlebt haben.

Alle in unserer Siedlung kennen Hulda Georgiewna Malyschewa. Diese kleine, hagere Frau mit den ganz grauen Haaren lebt in der Familie ihrer ältesten Tochter. Hulda Georgiewna spricht nicht gern mit Außenstehenden über die Vergangenheit, aber ihre Tochter Nina Georgiewnas Bajkalowa half mir, in dem sie selber über ihre Mutter berichtete.

… Hulda Georgiewna Brott wurde in der Ortschaft Warenburg, im Gebiet Saratow, am 2. September 1925 in eine wolgadeutsche Familie hineingeboren. Huldas Mutter starb bald nach der Geburt der Tochter, und von nun an musste die ältere Schwester Emma, die damals 7 Jahre alt war, die Kleine versorgen. Der Vater heiratete nach einiger Zeit wieder, und andere Kinder kamen zur Familie hinzu. Die Eltern arbeiteten in einer Kolchose. Sie lebten auf sehr unterschiedliche Weise – nicht immer gab es genug zu essen, die Kleidung der älteren Kinder mussten die jüngeren Geschwister auftragen, aber das war in Ordnung, und alle lebten einträchtig miteinander.

Unmittelbar vor dem Krieg starb der Vater, die Familie verlor ihren Ernährer. Und mit dem Beginn des Krieges wurde alles noch schlimmer – die gesamte Bevölkerung Warenburgs wurde nach Sibirien verschleppt, damit sie nur nicht zu Helfershelfern der einfallenden Hitler-Armee wurden. Die Evakuierung wurde beschleunigt durchgeführt; die Leute durften nur Papiere, etwas Kleidung und ein paar Lebensmittel einpacken. Alles andere: das Haus, Hausgeräte, das Vieh in den Ställen, wurde der Willkür des Schicksals überlassen. Was wohl die Leute gedacht haben mögen, die nach ihnen die Häuser betraten, zwischen lauter fremden Sachen wohnten, die ihnen nicht gehörten und sie ständig an die vorherigen Hausbewohner erinnerten?

Nachdem sie mehrere Tage in den schmutzigen Waggons durchgerüttelt worden waren, als aufgrund von Enge, Hitze und Durst Krankheiten ausbrachen und die Menschen zu sterben begannen, trafen die Umsiedler schließlich in Sibirien ein. Man schrieb den August des Jahres 1941. Der gesamte weibliche Teil der Familie Brott kam in die Region Krasnojarsk, während die beiden Brüder Andrej und Georgij bereits zuvor in die Arbeitsarmee geholt worden waren, wo sie auch spurlos verschwanden. Die Schwestern wurden getrennt: eine geriet in die Nähe von Krasnojarsk, eine nach Beresowka; Hulda und Schwester Emma wurden auf einen Lastkahn verladen, der zum Unterlauf des Jenisej fuhr. Endpunkt war Nikolskoje – eine kleine Siedlung am Ufer des Jenisej, zwischen Dudinka und Potapowo. Die Mädchen begaben sich mit den anderen ans Ufer und sahen sich um: der breite Fluss, spärlicher Waldwuchs, ein paar Ortsansässige. Und wo ist ihre Behausung, wo sollen sie sich nach der strapaziösen Fahrt waschen, wo etwas Warmes essen, wo sich hinlegen, um ein wenig zu schlafen, auszuruhen?
Stattdessen mussten sie sich selber Erdhütten ausgraben, irgendwie eine Art Öfen zusammenbauen – denn der nahende Winter machte sich bereits recht deutlich mit Nachtfrösten und kalten Winden bemerkbar. In der Siedlung befand sich eine Fischfang-Genossenschaft. man gab den Neuankömmlingen Netze, hölzerne Ruderboote sowie einen Plan, aus dem die zu erreichenden Fangquoten zu ersehen waren, und – sie standen unter strenger Aufsicht. Die Frauen und Mädchen (Hulda war damals 16 Jahre alt) fingen Fisch und ernährten sich hauptsächlich auch davon. Der erste Winter war der schrecklichste – ohne warme Kleidung und normales Essen, ständige Kälte; die Allerschwächsten unter ihnen starben. Das waren in erster Linie alte Menschen und Kinder. Die Überlebe4nden begrüßten den ersten Frühling im Hohen Norden, freuten sich über die Sonnenstrahlen, die Wärme, das sprießende Grün. Nach und nach kam der Alltag wieder zurecht, anstelle der Erdhütten (manche von ihnen kann man heute noch im vollständig überwucherten Nikolskoje entdecken) entstanden kleine Holzhäuschen, in denen es sich ein wenig leichter leben ließ …

Jugendzeit ist und bleibt Jugendzeit. In Nikolskoje heiratete Hulda Georgij Andrejewitsch Malyschew, brachte ihre beiden Töchter Nina und Tamara sowie Sohn Viktor zur Welt. Die Familie lebte 16 Jahre in Nikolskoje. In der Siedlung gab es keine Schule, die Kinder wurden mit einem Kutter zum Lernen nach Potapowo gebracht. Während einer solchen Fahrt kam Hulda Georgiewnas Mann ums Leben. Es herrschte ein heftiger Sturm, der Kutter ging unter; es war nur ein Glück, daß dies auf dem Rückweg geschah – die Kinder waren im Internat geblieben. Damit ihre Kinder zuhause leben und lernen konnten, zog Hulda Geogiewna mit ihnen nach Potapowo um. Dort suchte sie sich eine Arbeit im Kindergarten als Wäscherin, und später, als sie sich bereits dem Rentenalter näherte, als Nachtwächterin, denn es fiel ihr schwer, den ganzen Tag auf den Beinen zu stehen – die im eisigen Wasser des Jenisej erfrorenen Gelenke schmerzten zu sehr. Sie erledigte ihre Arbeit stets gewissenhaft; davon zeugen die Dankbarkeitsbekundungen in ihrem Arbeitsbuch. Auch Prämien hat sie erhalten. Wer weiß, was aus Hulda Georgiewna hätte werden können, wenn nicht der Krieg ausgebrochen und sie aus ihren heimatlichen Gefilden ausgewiesen worden wäre? Denn sie konnte lediglich drei Klassen an der deutschen Schule im heimatlichen Warenburg absolvieren. Man hat ihr die Jugend, die Gesundheit und die Möglichkeit genommen, eine gute Ausbildung zu erhalten. Aber sie zürnt denen nicht, die damals aus guten Gründen die große Familie, in der es acht Kinder gab, auseinanderrissen und in alle Winde verstreuten. Nachdem man später den Repressierten erlaubte, wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren, fuhr die ältere Schwester Emma 1961 nach Moskau; die anderen Schwestern leben in Kasachstan und Deutschland. Gulda Georgiewna aber blieb im Tajmyr-Gebiet. 1982 ging sie in Rente, 1996 zog sie zu ihrer Tochter in die Siedlung Nosok um, wo sie bis heute wohnt. Sie erledigt alle nur mögliche Arbeiten im Haus, obwohl ihre Enkelinnen Olja und Sweta sich bemühen, die Tätigkeiten von ihr fernzuhalten. Aber diese gebrechliche, achtzigjährige Frau, die einst schwierige Männerarbeiten erledigte, kann einfach nicht untätig vor dem Fernseher sitzen.

Im Mai 2005 wurde Hulda Georgiewna in feierlicher Atmosphäre eine Jubiläumsmedaille als Veteranin des Großen Vaterländischen Krieges überreicht. Der Staat vergütete die von ihr während des Krieges geleistete Schwerstarbeit mit einer Zulage zur Rente; sie wurde vollständig rehabilitiert, ebenso wie andere gewaltsam Vertriebene. Aber kann man denn auf derartige Weise seine Schuld vor den kleinen Kindern wiedergutmachen, die während der Fahrt ums Leben kamen, vor den Alten, die nicht im warmen Bett im Kreise ihrer Lieben starben, sondern auf dem schmutzigen Fußboden eines Waggons oder irgendeiner winzigen Bahnstation, vor den Frauen, die halb entkleidet und hungrig Fische fingen und nicht das Recht besaßen, von ihrer Beute zu essen, vor den zugrunde gerichteten Familien, vor jenen, die unverdienterweise als Faschisten beschimpft wurden? Hulda Georgiewna gehört zu denen, welche die schwierige Zeit überlebt haben. Es gibt schon niemanden mehr in der Siedlung, mit dem sie sich in der Muttersprache unterhalten kann – die Zeit ist unerbittlich, die Menschen scheiden dahin. Und manchmal sieht die grauhaarige Frau im Traum ihr Elternhaus, die Wolga, die blühenden Gärten, ihre Verwandten, alle beisammen und – alle sind sie glücklich …

Die Historiker konnten keinerlei Dokumente ausfindig machen, die beweisen, dass die Deutschen von der Wolga und aus anderen Bezirken der UdSSR mit der deutschen Spionage in Verbindung standen. Und so wurde das Taimyrgebiet, diese raue, nördliche Region, in der es überhaupt keine Ackerböden gibt, zur neuen Heimat für viele Verschleppte, denen man später verziehen oder die man für unschuldig erklärt hat – wie soll man es am genauesten ausdrücken? Denn nachdem sie in den 1970er Jahren die Erlaubnis erhalten hatten, an ihren ursprünglichen Wohnort zurückzukehren, nutzten nicht alle dieses Recht. Einige gingen tatsächlich dorthin zurück, manche reisten nach Deutschland aus, andere blieben hier.

Die Geschichte fixiert und erinnert sich an alle. Uns allen bleibt nur, die Geschichte der Heimat zu erfahren.

Liste der verwendeten Literatur

1. S.I. Oschegow, N.J. Schwedow
Erklärendes Wörterbuch der russischen Sprache, Moskau, 1999
2. Schul-Enzyklopädie „Geschichte Russlands, 20. Jahrhundert“
Moskau, „Avanta+“-Verlag, 1999
3. Enzyklopädie für Kinder „Geschichte Russlands, 20. Jahrhundert“,
Moskau „Olma-Press Bildung“, 2003

Liste der Anlagen

1. Ukas über die Liquidierung der wolgadeutschen Republik
2. Fotos aus Hulda Georgiewna Malyschewas Familienalbum
3. Geburtsurkunde N° 31021 von Hulda Georgiewna Brott
4. Anlage zur Geburtsurkunde
5. Bescheinigung N° 85994, ausgestellt auf H.G. Malyschewa, die während des Krieges politischen Repressionen ausgesetzt war
- Bestätigung über den Erhalt der Jubiläumsmedaille zum 60. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, 1941-1945
6. Erinnerungen von Swetlana Wladimirowna Dautowa, 15.März 2006
7. Geburtsurkunde N° 0013279 von Emma Davidowna Wagner
8. Foto von E.D. Wagner
9. Dokumente von E.D. Wagners Tochter S.W. Dautowa
10. Erinnerungen von Swetlana Isosimowna Turkowa, 17. März 2006
11. Foto der Siedlung Nosok

Anhang N° 1

Ukas über die Liquidierung der wolgadeutschen Republik

Nach glaubhaften Angaben der Militärbehörden gibt es innerhalb der in den Wolgagebieten lebenden deutschen Bevölkerung tausende und abertausende Diversanten und Spione, die, auf ein entsprechendes Signal aus Deutschland hin, in den von Wolgadeutschen besiedelten Regionen Sprengstoffanschläge verüben sollen.

Über das Vorhandensein einer derart großen Menge von Diversanten und Spionen unter den Deutschen, die in den Gebieten entlang der Wolga leben, war der Sowjetmacht bislang nichts bekannt. Infolgedessen muss man davon ausgehen, dass die deutsche Bevölkerung an der Wolga in ihrer Mitte Feinde des sowjetischen Volkes und der Sowjetmacht versteckt hält.

Für den Fall, dass es zu Diversionsakten kommt, die aufgrund einer entsprechenden Weisung aus Deutschland von deutschen Umstürzlern und Spionen in der Republik der Wolgadeutschen oder den angrenzenden Regionen durchgeführt werden, wird es ein Blutvergießen geben und die sowjetische Führung nach den für Kriegszeiten geltenden Gesetzen gezwungen sein, Strafmaßnahmen gegen die gesamte deutsche Bevölkerung in den Wolgagebieten einzuleiten.

Zur Vermeidung solcher unerwünschten Entscheidungen und zur Verhinderung großen Blutvergießens hält das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR es für unerlässlich, die gesamte deutsche Bevölkerung aus den Regionen an der Wolga in andere Gebiete umzusiedeln, mit der Maßgabe, dass den Umsiedlern dort Land zugeteilt und ihnen staatliche Hilfe beim Einrichten ihres neuen Lebensraumes gewährt wird.

Für die Neuansiedlung sind die Regionen Nowosibirsk und Omsk, das Altai-Gebiet, Kasachstan und andere benachbarte Örtlichkeiten vorgesehen, wo reiches Ackerland im Überfluss vorhanden ist.

In Zusammenhang mit dieser Verordnung ist dem Staatlichen Komitee für Verteidigung der Befehl erteilt worden, die Umsiedlung aller Wolga-Deutschen unverzüglich durchzuführen, den wolgadeutschen Umsiedlern ein Stück Land sowie nutzbaren Ackerboden in den neuen Gebieten zuzuweisen.

Anhang N° 2

Aus Hulda Malyschewas Familienalbum: 45 Jahre,  67 Jahre,

Anhang N° 3

Anhang N° 4

Anhang N° 5

Anhang N° 6

Es berichtet Swetlana Wladimirowna Dautowa, Lehrerin an der Oberschule in der Siedlung Nosok, Ehrenvolle Mitarbeiterin für Allgemeinbildung in der Russischen Föderation:

Meine Mutter, Emma Davidowna Wagner, eine Wolga-Deutsche, wurde zu Beginn des Krieges aus der Stadt Engels verschleppt, ihren Ehemann holten sie in die Arbeitsarmee. Sie brachten die Gruppe, mit der sie fuhr in die kleine sibirische Siedlung Peljatka. Zu der Zeit befanden sich dort eine Bäckerei, ein kleiner Laden und drei Tschums (Nomadenzelte; Anm. d. Übers.). Die Umsiedler gruben sich Erdhütten aus, darin verbrachten sie den erste4n Winter.

Glühbirnen oder Kerzen gab es nicht. Sie erhellten ihre Erdhütten mit Holzspänen oder selbstgemachten Talglichtern aus Fischtran.

Aus irgendeinem Grunde erzählte Mutter uns, ihren Kindern – also mir, meiner Schwester Walentina und Bruder Sergej, nur sehr ungern von ihrem Leben erzählte; vielleicht wohnte in der Seele aller Repressionsopfer die Angst vor der Staatsmaschinerie, die in der Lage war, in einem einzigen Moment das Leben von hunderttausenden, völlig unschuldigen Menschen zum Schlechten zu wenden. Dennoch wissen wir aus ihren teilweise sehr spärlichen Berichten, dass sie zusammen mit den anderen beim Fischfang tätig war, unter der eisigen Kälte und an Hunger litt, denn sie durften nicht einmal so viel Fisch essen, wie sie wollten – man verlangte von ihnen, dass sie den Plan erfüllten, den Fisch abgaben und damit der Front halfen. Es gab Fälle, in denen man den Fisch mehr als zwanzig Kilometer weit mit einem hölzernen Ruderboot nach Nosok transportieren musste und alles im Sturm verloren ging.
Mutter sagte, dass es für sie ein wenig leichter war, als für die anderen, weil ihr Vater an der Wolga Fischer gewesen war und sie oft mit aufs Wasser genommen hatte; daher verstand sie es, Netze richtig aufzustellen und mit den Rudern umzugehen. Am schwersten viel die Arbeit den Kalmücken; sie waren ganz und gar ungeeignet zu dieser Art von Leben. Die ortsansässigen Nenzen verhielten sich den Umsiedlern gegenüber gut, halfen ihnen, so gut sie konnten, und zeigten ihnen gegenüber keinen Hass.

Später schickten sie Mama in die Fischfabrik nach Ust-Port. Es dauerte lange, bis sie endlich wieder heiratete, denn sie hoffte inständig, dass ihr Mann lebend zurückkehren würde, aber alle Hoffnung war vergebens. 1951 ging sie die Ehe mit Wladimir Turkow ein und zog in die Siedlung Nosok um. Unsere Eltern haben drei Kinder großgezogen, haben ihren Töchtern eine Ausbildung ermöglicht. Mama hat das Schicksal, das ihr zu Teil wurde, nie bedauert,; offenbar machte sie alles in ihrem Inneren mit sich alleine ab. Und trotzdem erinnerte sie sich mitunter an ihr Haus, den Garten und die Kirschbäume, die darin wuchsen. Im Haus herrschte
die sprichwörtliche deutsche Ordnung und Reinlichkeit, sie konnte hervorragend kochen und liebte ihre Enkelkinder über alles. Sie hat ihre heimatlichen Gefilde zeitlebens nicht wiedergesehen. 1993 ist Mama gestorben. 1956 wurde sie vollständig rehabilitiert. Meine ältere Schwester und ich gehören ebenfalls zu den Repressionsopfern und machen uns die geringfügigen staatlichen Vergünstigungen zunutze. Als wir noch zur Schule gingen, hänselten und ärgerten die Kinder uns und beschimpften uns als Faschisten. Das war sehr kränkend“.

Anhang N° 7

Anhang N° 8


Emma Davidowna Wagner,
gestorben 1993 in der Siedlung Nosok

Anhang N° 9

Dokumente von Emma Davidownas Tochter Swetlana Dautowa

Anhang N° 10

Aus den Erinnerungen von Swetlana Issimowna Turkowa, Einwohnerin der Siedlung Nosok.

„Ich wurde in eine wolgadeutsche Familie hineingeboren und stamme von dem Kaufmann Bajkalow ab. Mein Vater hieß Isosij Gawrilowitsch Bajkalow, meine Mutter – Ella Andrejewna Rieb. Wir wussten, dass sie Deutsche war, aber sowohl die Erwachsenen, als auch die Kinder, waren bemüht, darüber nicht zu reden. In der Kindheit wurden wir ständig gehänselt, und unsere Altersgenossen beschimpften uns als Deutsche und Faschisten. Mama sprach nur sehr selten von sich. Damals fürchteten die Menschen sich über ihr vergangenes Leben zu reden, später interessierte sich niemand mehr dafür, und jetzt, wo man damit begonnen hat Fragen zu stellen, sind unsere Eltern und andere Umsiedler längst tot, es gibt niemanden mehr, den man befragten könnte.

Ich kann mich daran erinnern, dass Mama sagte, ihre Familie sei in den Bezirk Irbej in der Region Krasnojarsk verschleppt worden. Anschließend schickte man die jungen Leute auf die Halbinsel Taimyr. Mama und die jüngste Schwester schwammen auf einem Lastkahn bis nach Nasonowsk, eine kleine sibirische Siedlung unweit Woronzowo. Unterwegs starb das Schwesterchen an Ruhr; in der Siedlung Karaul setzte man die Leute ab. Die übrigen starben wenig später fast alle an Typhus. Bei Mama verheilt sich alles so, wie bei den anderen Umsiedlern – sie fing Fisch und lebte in eisiger Kälte. Sie sagte, dass es durchaus vorkam, wenn die hungrigen Mädchen in aller Heimlichkeit Fisch aus ihrem Fang versteckten und ihn dann ebenso heimlich kochten, derjenige, der sie dabei beobachtet hatte, das Essen mit einem einzigen Fußtritt zu Boden warf, nur damit die Mädchen nichts davon aßen. Boshaft war er, und er hatte keinerlei Mitleid mit den „Feinden der Heimat“.

Mama kannte ihre Muttersprache gut; mit ihren Freundinnen sprach sie immer Deutsch. Und bis an ihr Lebensende sprach sie immer wieder davon: „Bei uns zuhause, bei uns zuhause haben wir das immer so gemacht“, wobei sie jedes Mal das Haus vor Augen hatte, in dem sie seinerzeit an der Wolga gewohnt hatten, das sie irgendwann einmal hatte verlassen müssen“.

Anhang N°. 11

Siedlung Nosok


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