XIV. jährlicher allrussischer Wettbewerb historischer Arbeiten von Schülern
der höheren Klassenstufen
„Der Mensch in der Geschichte, Russland – 20. Jahrhundert“
Thema: Die Unseren – die Anderen
Autorin: Swetlana Basykina
Städtische budgetierte allgemeinbildende Einrichtung
„Lyzeum N° 1“, 11. Klasse
Wissenschaftliche Leitung:
Larissa Prokopjewna Petruschenko
Dozentin der föderalen, staatlichen, budgetierten Bildungseinrichtung für höhere
Berufsbildung „Norilsker Industrie-Institut“
Norilsk, 2013
1. Einleitung
2. Vergleichende Charakteristik der Kulturen von Nenzen und Deutschen im
Taimyr-Gebiet
a. Die Nenzen
b. Die Deutschen
c. Dialog der Kulturen
3. Schlussbemerkung
4. Quellenmaterial
5. Bibliographie
6. Anlagen
So ist es bei uns immer jetzt:
gemeinsame Arbeit, gemeinsames Vergnügen.
Söhne eines großen Landes,
In Freundschaft wurden wir stark.
Heissa! Heissa!
Ljubow Nenjang [8, S. 15]
Ihre Bezeichnung erhielt unsere Taimyr-Halbinsel durch den großen russischen Forschungsreisenden und wissenschaftlicher, den Russland-Deutschen Alexander Fjodorowitsch Middendorf; „Taimyr“ bedeutet in der Übersetzung aus dem Tungusischen „teuer, wertvoll, reich“. [4, S. 72]
Heute sind auf der Halbinsel Taimyr 155 ethnische Gruppen registriert, unter ihnen auch Vertreter der Ureinwohner – Nenzen, sowie Nachfahren von Sondersiedlern – Russland-deutsche. Die Bezeichnung dieser beiden Völker ist fast gleichlautend, obwohl sie ganz unterschiedliche Ursprünge haben. Uns interessierte, wie sich die Beziehungen zwischen diesen beiden Volksgruppen gestaltete.
Ziel der Arbeit: Berührungspunkte zwischen den Kulturen der Nenzen und der Deutschen aufzuzeigen, am Beispiel ihrer Wechselbeziehungen Faktoren herauszufinden, welche den Dialog der Kulturen fördern oder behindern.
Um dieses Ziel zu erreichen ist es unumgänglich, sich mit folgenden Aufgaben
zu befassen:
1. Literatur über Taimyr-Nenzen und Deutsche analysieren; 2. eine
Vergleichsanalyse der Kultur der Nenzen und der Kultur der Deutschen
durchzuführen; 3. Faktoren herauszuarbeiten, welche die beiden ethnischen
Gruppen einander näher gebracht oder voneinander entfernt haben.
Forschungsthema: die Kulturen der Taimyr-Nenzen und der Deutschen.
Forschungsgegenstand: mündliche und schriftliche Quellen über Nenzen und Deutsche. Forschungsmethoden: Analysen, Vergleiche, Interviews.
Während der Arbeit an diesem Thema studierten wir Materialien der wissenschaftlichen Bibliothek des Norilsker Industrie-Instituts, Materialien der Bibliothek des Museums der Geschichte der Erschließung des Norilsker Industriegebiets (Stadt Norilsk), machten uns mit den Ausstellungen des Museums der Geschichte der Erschließung des Norilsker Industriegebiets und des Taimyrer Heimatkunde-Museums (Stadt Dudinka) vertraut, führten Interviews mit einer Ehrenbürgerin von Dudinka der Nenzin Anna Iwanowna Dokarjowa, mit Natalia Wladimirowna Golischenko (deren Großvater einer der deutschen Sonderumsiedler war) sowie mit Oksana Eduardowna Dobschanskaja (Volkskundeforscherin im Taimyr-Gebiet).
In den Lehrbüchern „Die Geschichte und Kultur der Urvölker des Taimyr“ und „Kultur, Tradition, Sitten und Gebräuche der Urvölker des Taimyr“ der Doktor-Anwärterin der Geschichtswissenschaften – Olga Nikolajewna Chakimulina, lasen wir über Ethnogenese, Kultur, Traditionen und Alltagsleben der Taimyr-Nenzen. Im chrestomatischen Teil des Lehrbuchs fanden wir literarische Auszüge aus der Erforschung Sibiriens der vergangenen Jahrhunderte von bekannten Historikern und Sibirienkundlern wie A. Olearius, G.F. Miller, A.F. Millendorf, M.A. Kastren, S. Tschudnowskij, N.M. Jadrinzew. Über Besonderheiten in den gegenseitigen Beziehungen zwischen der zugewanderten Bevölkerung und den Nenzen-Stämmen (Samojeden) im Norden Sibiriens, Am „Mangasejsker Meer“ steht Manches in dem Artikel „Die Kranich-Menschen und Staatsdiener“ des Doktoranwärters der Geschichtswissenschaften Anatolij Schaschkow – ein Artikel, der in der Zeitschrift „Heimat“ veröffentlicht wurde.
Über die Geschichte und das aktuelle Leben des Nenzenvolkes, seine Folklore lasen wir auch in den Büchern der Nenzen-Poetin Ljubow Nenjang „Meine Schnee-Heimat“ und „Der umherziehende Verstand eines Volkes“. Die materielle und geistige Kultur der Nenzen wir in dem Buch „Die Nenzen“ von L.W. Chomitsch beschrieben. Material über gegenwärtige ethnische Prozesse, die sich im Taimyr-Gebiet vollziehen und das Leben der Jenisej-Nenzen berühren, entdeckten wir in der Monographie von W.P. Kriwonogow „Die Völker des Taimyr“.
Mit dokumentarischen Aussagen von Augenzeugen, die den Russland-Deutschen Sonderumsiedlern gewidmet sind, welche zwischen 1941 und 1944 auf die Halbinsel Taimyr evakuiert wurden, machten wir uns Dank des Buches „Die Deutschen des Taimyr-Gebiets“ von Leo Ottowitsch Petri bekannt, seinen Artikeln sowie den Artikeln von Erna Schwindt und Ida Seibert, die im Sammelband der Konferenz-Arbeiten „Taimyrer Lesungen“ in den Jahren 2010 und 2011 veröffentlicht wurden (gegenwärtig leben Leo Ottowitsch, Erna Schwindt und Ida Seibert in Deutschland, nehmen jedoch aktiv an der Wiederherstellung und Wahrung des Gedenkens an die Sonderumsiedler des Taimyr teil).
Den tragischen Ereignissen im Zusammenhang mit der Existenz des GULAGs auf der Halbinsel Taimyr sind ein Sammelband mit Erinnerungen unter dem Titel „Kerze des Gedenkens“ und das Buch „Überleben und Gedenken“ des ehemaligen politischen Gefangenen Alexander Snowskij gewidmet.
Über Besonderheiten in den Charakteren von Nenzen und Deutschen konnten wir in J.W. Melnikowas Buch „Kultur und Tradition der Weltvöloker“ nachlesen.
Im Oktober 2012 wurde in Norilsk ein neues Buches der taimyrer Journalistin Irina Aplesnewa mit dem Titel „Vogelbeer-Glück“ (ein Sammelband von Skizzen über das Taimyr-Gebiet aus verschiedenen Jahren) präsentiert. Eines dieser Essays – „Das Schnee-Paradies der Natascha Wengo“ ist der Geschichte einer Familie von Jamal-Nenzen gewidmet, die sich in der Siedlung Dickson niedergelassen hatten. Aus dem Text schöpften wir ein besonderes Merkmal des Nenzen-Charakters – ihre Einstellung zum Leben.
Die Nenzen gehören zur Samojeden-Gruppe der ural-jukagirischen Sprachfamilie. In der Übersetzung aus der Nenzensprache bedeutet „nenets“ Mensch, Mann. Von den zahlenmäßig kleinen Volksstämmen des russischen Nordens treten die Nenzen als größte in Erscheinung – ihr gehören mehr als 41000 Menschen an. Die Lebensweise der Völker des Norden verlangt ihnen ganz spezielle Fertigkeiten, eine frühe Einbeziehung in den Arbeitsprozess, die Herausbildung der Fähigkeit zu Ausdauer, einem starken Willen, Selbständigkeit, Kameradschaft, Anspruchslosigkeit im Alltag und das Vermögen, alle möglichen Erschwernisse und Entbehrungen gut zu überstehen. Die Vertreter des Nenzen-Volkes sind körperlich wohlentwickelt, zeigen sich bei der Arbeit als äußerst fleißig, gehen behutsam mit der Natur um, führen ein Nomadenleben und sind in ihrem Tun selbständig, findig und akkurat. Wortkargheit und Zurückhaltung sind charakterliche Eigenschaften in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Verhalten der Menschen in der Tundra untereinander entsteht aus den Prinzipien von Vertrauen, gegenseitiger Hilfe und Unterstützung.[7, S. 23-24] In der Vergangenheit war die väterliche Gentil-Ordnung ein charakteristisches Merkmal der Nenzen. Die Nenzen bewahren in einem viel größeren Maße als die anderen kleinen Urvölker des Nordens ihre treue Ergebenheit gegenüber ihrer religiösen Weltanschauung – dem Animismus. Viele von ihnen bekennen sich bis heute zum Schamanismus, ein Teil vereint den orthodoxen Glauben und Schamanismus miteinander, unter den jungen Leuten findet man heute auch Ungläubige. (Anhänge 3, 4)
Die Nenzen kamen im 17. Jahrhundert von Westen ins Taimyr-Gebiet, an den Jenisej, und nach und nach bildete sich eine neue territoriale Gruppe dieses Volkes heraus. Denn sie verfügt innerhalb des Nenzenvolkes über eine gewisse Eigentümlichkeit; daher kann man die Jenisej-Nenzen als besondere ethnografische Gruppierung definieren. Bis zum 19. Jahrhundert konzentrierten sich die Nenzen vorwiegen am linken Ufer des Jenisej. Aber bereits gegen Ende dieses Jahrhunderts ließen sich viele Nenzen, zusammen mit Enzen, am rechten Flussufer nieder. Zu dieser Zeit entstanden vier Gruppen nomadisierender Nenzen, von denen zwei überwiegend aus Nenzen bestanden, während der Rest mit Enzen vermischt war. Eine der Nenzengruppierungen nomadisierte im nördlichen Teil, am linken Ufer des Meerbusens. Es war eine ganz homogene Nenzengruppe. Im Osten, am rechten Ufer hauste eine gemischte Gruppe in ihren Nomadenzelten, zu der überwiegend Enzen gehörten (beinahe 50% ), aber auch Nenzen (etwa 28%), Nganasanen und Dolganen. Die zentrale Gruppe setzte sich hauptsächlich aus Nenzen zusammen, in ihr gab es lediglich einige Enzen-Familien. Die im Süden lebende Wald-Tundra-Gruppierung war gemischt, die Nenzen machten darin 41,7% aus, der Rest waren Enzen. [6, S. 73]
1938 setzten die Verfolgungen bei den wohlhabenden Tundra-Bewohnern ein.
Außerdem begann man damit, Schamanen und im Jahre 1933 freigesprochene
Teilnehmer des Frühjahrsaufstands von 1932 zu verhaften, der sich gegen die
Verschärfung der Kollektivierungsmaßnahmen in der Awamsker und Chatangsker
Tundra gerichtet hatten. Die Völker des Taimyr, unter ihnen auch die Nenzen,
ergänzten die endlos lange Liste derer, die spurlos verschwanden, verschleppt
und erschossen wurden. Über das Schicksal vieler von ihnen ist bis heute
niemandem etwas bekannt.
In dem Buch „Kerze der Erinnerung“ sind zwe8i von ihnen erwähnt: der Nenze Kusma
Jefimowitsch Lyrmin, Jäger und gewerbsmäßiger Fischfänger, geb. 1878, wurde am
9. Mai 1938 erschossen; den Nenzen Togi Jasi, Jäger und Einzelbauer, geb. 1883,
erschossen sie am 17. Mai 1938 in Dudinka.
Die Deutschen gehören zum germanischen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie. Das Wort „Deutscher“ besitzt einen uralten russischen Ursprung und bedeutete ursprünglich „der Stumme“ – so nannten die Russen alle Ausländer. Von allen zivilisierten Nationen sind die deutschen am leichtesten und am längsten in der Lage, sich der Regierung zu unterwerfen, unter deren Macht sie leben. Sie haben nicht diese leidenschaftliche Liebe zur Heimat, und es fällt ihnen leicht, an andere Orte umzuziehen oder auszuwandern. In den fremden Gefilden, in denen die Deutschen sich niederlassen, schließen sie ziemlich schnell mit den ortsansässigen Völkern eine Art Bürgerunion, welche die Umsiedler dank ihrer einheitlichen Sprache und zum Teil auch der gleichen Religion in ein kleines Volk verwandelt, das sich unter der Führung einer höheren Macht, bei einer ruhigen, günstigen Lenkung, in angenehmer Weise von den anderen Völkern durch Fleiß, Reinlichkeit, Rechtschaffenheit und Sparsamkeit unterscheidet. [7, S. 97-98] Die Familie eines Deutschen hielt sich seit eh und je an die Autorität des Familienvaters oder seines nächsten Verwandten. Von früher Kindheit an gewöhnten die Deutschen ihren Körper an Arbeit und Entbehrungen. Die gläubigen Deutschen sind Christen: Protestanten (hauptsächlich Lutheraner) und Katholiken.
Am 4. Dezember 1762 erließ die Regierung Russlands ein Manifest, in dem Ausländer eingeladen wurden, sich in den neuen Steppen-Bezirken anzusiedeln. Am 22.07.1763 brachte Katharina II ein Manifest heraus, mit dem sie den Kolonisten Religionsfreiheit, die Befreiung von Steuern für die Dauer von 30 Jahren und andere Vergünstigungen versprach. Tausende Deutsche nahmen die Einladung an, verließen Deutschland und zogen nach Russland um: nach Sankt Petersburg und an die Wolga. Die Katholiken ließen sich getrennt von den Protestanten nieder, es gab keine Dörfer in denen es zu einer Vermischung der Religionen kam. [19, S. 83]
Am 6. Januar 1924 wurde in Russland die Autonome Republik der Wolga-Deutschen gegründet. Von 1928 bis 1932 vollzog sich die Zwangskollektivierung, die Enteignung der wohlhabenden Bauern sowie ihre Verbannung in den hohen Norden und nach Sibirien. Mit dieser Zeit beginnen Russland-Deutsche im Taimyr.Gebiet aufzutauchen, die ihren ständigen Wohnsitz nicht aus freiem Willen in diesen Regionen gewählt haben. 1937 und 1938 kommt es zu Massen-Verhaftungen sogenannter „Volksfeinde“. Die meisten von ihnen wurden nicht offiziell von einem Gericht verurteilt und im weiteren Verlauf erschossen oder in Lagern eingesperrt. 1941 brachte das Präsidium des Obersten Sowjets in Verbindung mit dem Ausbruch des Krieges einen Ukas heraus, nach dem alle Deutschen aus dem Wolgagebiet nach Sibirien, in den Norden, nach Mittelasien usw. deportiert wurden. [19, S. 86]
In den Jahren der Verfolgungen, von 1942-1943, wurden mehr als achttausend Sondersiedler ins Autonome Gebiet der Dolganen und Nenzen gebracht: Wolga-Deutsche (Anlage 1), Letten, Litauer, Esten, Rumänen, Finnen. Aus den Termini des enzyklopädischen Wörterbuchs und der Wortwahl in den Rehabilitationsbescheinigungen des MWD lässt sich schlussfolgern, dass die Vorsilbe „Sonder-„ bedeutet, dass die betreffende Person aus politischen Motiven und aufgrund ihrer nationalen Zugehörigkeit unterdrückt wurde. Der Begriff „Sondersiedler“ wurde in den 1940er Jahren nicht nur auf die nach Sibirien und die Halbinsel Taimyr ausgesiedelten Russland-Deutschen ausgesiedelt, sondern auch auf andere Völker. Zwischen 1942 und 1944 kamen aufgrund der alle Kräfte übersteigenden schweren Arbeit, Hunger, Kälte und Skorbut nicht weniger als 70% der ins Taimyr-Gebiet abtransportierten Deutschen ums Leben: Frauen, Heranwachsende, Kinder und alte Menschen. [19, S. 86]
Auf unterschiedliche Weise gerieten Russland-Deutsche in Lager. Aus den Erinnerungen der Natalia Wladimirowna Golischenko: „Mein Großvater Albinus Josifowitsch Obgolz wurde vor Beginn des Großen Vaterländischen Krieges verhaftet und nach § 58 verurteilt; dann schickten sie ihn zur Verbüßung seiner Strafe in die Siedlung Norilsk. Vor der Verhaftung lebte er mit seiner Familie in Marxstadt, Gebiet Saratow und arbeitete dort als Leiter der OGPU-Abteilung. Er reichte gegen den Kolchos-Vorsitzenden Klage wegen „Schwarzhandels“ mit kolchoseigenem Vieh ein und wurde wegen dieser Sache wurde er denunziert. Großvaters Familie blieb in Marxstadt zurück – Mutter, Ehefrau 7und vier Töchter (unter ihnen auch meine Mama – Jewgenia Albinusowna). Bald nach der Verhaftung des Großvaters wurden meine Uroma, Oma, Mama und die Tanten auf einen Lastkahn verfrachtet und in die Region Krasnojarsk, in die Siedlung Karaul, geschickt. Die Urgroßmutter überstand die Fahrt nicht, sie starb. Sie lebten alle zusammen in eine Baracke. Zuhause sprachen sie untereinander nur Deutsch. Die Kinder verstanden vieles nicht, denn sie konnten kein Deutsch. Großmama und die Tanten arbeiteten beim Fischfang, in der Mühle, in der Tierzucht-Sowchose, erteilten Unterricht und züchteten Nerze. Gertrud, die älteste Tochter, erfror auf dem Heimweg im Schnee. Tante Erna zwischen die Mühlsteine und starb. Tante Angelina heiratete Rudolf Koch, die beiden bekamen drei Kinder. Ihr Ehemann Rudolf lebte bis zu seinem 54. Lebensjahr; er starb Anfang der 1950er Jahr und erlebte somit auch nicht mehr seine Rehabilitation. Meine Großmutter und Mama erhielten eine Aufforderung zum Großvater zu kommen, der sich nicht mehr unter ständiger Bewachung befand, und zogen daraufhin in die Siedlung Norilsk um. Meine Mutter heiratete in Norilsk meinen Vater Wladimir Wasiljewitsch Markow – einen Frontsoldaten und Kommunisten. Der Vater wurde aus der Partei entlassen und in den Status eines Sondersiedlers versetzt. Erst im Jahre 1955 konnte die Familie von Norilsk auf das „Festland“ fahren. Aus den kindlichen Erinnerungen weiß ich noch, wie wir Anfang der 1950er Jahre mit einem Kutter in die Siedlung Karaul fuhren; unterwegs wurden wir seekrank, und vor meinen Augen sehe ich noch die hölzernen Belege der Fußwege und ein großes Fass mit Fisch“. [2]
Über einen interessanten Vorfall aus ihrer Kindheit über eine der ersten Begegnungen zwischen Nenzen und Deutschen auf taimyrer Boden berichtete mir die Nenzin Anna Iwanowna Djukarewa (Anhang 2). Er ereignete sich ungefähr in den 1930er oder 1940er Jahren. In ihrem Nomadenlager hörten sie davon, dass aus irgendeinem Anlas Deutsche in Booten zu ihnen kämen. Alle Frauen und Kinder der Zeltsiedlung versteckten sich im Gebüsch. Anna Iwanowna war mutig und neugierig wie ein Kind. Sie verbarg sich unweit des Flussufers und beobachtete von dort aus das Geschehen. Die erwachsenen Männer erwarteten die „ungebetenen“ Gäste mit angespannter Ungeduld. Schließlich tauchten die Gäste auf, hatten es jedoch keineswegs eilig sich dem Ufer schnell zu nähern; vom Fluss aus riefen sie den Nenzen etwas zu. Endlich, als die Nenzen sahen, dass von Seiten der Ankömmlinge keine Aggressionen ausgingen, beschlossen sie, ihnen in einem Boot entgegen zu fahren. Die Deutschen sagten etwas in ihrer Sprache – also auf Deutsch, und die Nenzen antworteten in ihrer Nenzen-Sprache. Weder die Einen noch die Anderen waren der russischen Sprache mächtig. Die Deutschen ließen die Wirtsleute nicht weiter als bis auf Ruderlänge heran. Nachdem sie sich so längere Zeit gegenüber gestanden hatten, während der die Frauen und Kinder in ihrem Versteck in der Tundra geblieben waren („Irgendwie, - so erinnert sich Anna Iwanowna, - hatten die Nenzen Angst, dass d8ie Deutschen ihre Kinder stehlen würden“.), tauschten die Deutschen schließlich mit Hilfe er Zeichensprache bei den Nenzen Fisch gegen Brot und Tee ein. [1]
Das Leben selbst, die gemeinsame Arbeit brachten die verschiedenen Völker einander näher – Dolganen und Kalmücken, Nenzen und Deutsche, Nganasanen und Letten. Es kam vor, dass den Sondersiedlern Ortsansässige zur Hilfe kamen und verwaiste Kinder in ihre Familien aufnahmen. Wie Frieda Genrichowna Muss sich erinnert, geschah das in dem schrecklichen Winter 1942-1943. In die Erdhöhle einer vor Hunger sterbenden Frau kam ein Rentierzüchter, ein Ewenke namens Nikolaj Nikolajewitsch Kuropatow Als er den furchtbaren Zustand der Frau bemerkte, sagte er, dass er ihr Töchterchen mit sich nehmen würde. Die Mutter des Mädchens konnte gerade noch mit letzter Kraft als Zeichen ihrer Zustimmung mit dem Kopf nicken. Die kleine Maria hatte Glück. Sie überlebte und wurde mit den ungewöhnlichen Bedingungen des Nomadenlebens vertraut. Der neue Vater benahm sich ihr gegenüber äußerst liebevoll und fürsorglich. Viele Sondersiedler wurden zu Helden in den Darstellungen der Nenzen-Schriftstellerin Ljubow Nenjang: „Landsleute – die Deutschen sind jetzt auch meine Landsleute, weil ich mit ihnen aufgewachsen bin, mit ihnen gelernt und auf taimyrer Boden gelebt habe und auch heute noch lebe, eine Region, die vielen von denen, über die ich schreibe, zur kleinen Heimat geworden ist“ – so schrieb sie im Vorwort zu ihrem Essay „Ds Leben eines Veteranen“, in dem sie vom Schicksal des Russland-Deutschen Lewin Lewinowitsch Loch berichtet.
Man erinnert sich im Taimyrgebiet auch des ehemaligen Deutschen Alexander Fjorodorowitsch Pauli. Die Nenzen nannten ihn liebevoll „ngrka jerw“ („großer Chef“). Als vierzehnjähriger Minderjähriger wurde er zusammen mit Mutter und Schwester in die Siedlung Tolsty Nos verschleppt. Er trug die Post über eine Strecke von sieben Kilometer aus. Manchmal musste er diesen Weg zwei-dreimal am Tag zurücklegen. 1944 nahmen sie ihn als Lehrling in der motorisierten Fischfangstation auf, und 1948 wurde er als Buchhalter in die Nenzen-Kolchose „Neues Leben“ geschickt. Ein Jahr später wr die Kolchose zum Millionär geworden. Man liebte ihn als Mensch und achtete ihn als klugen, strengen und sparsamen Mann. [13, S. 17-18]
De jahrzehntelange gemeinsame Arbeit der Völker des Taimyr mit den Sonderumsiedlern beim gewerblichen Fischfang und der Pelztierjagd sowie auch beim Gemüseanbau, der Viehzucht und Käfig-Pelztierzucht wurde zu einem gewichtigen Beitrag in der wirtschaftlichen Entwicklung des Taimyr während des Krieges und in der Nachkriegszeit.
Aus einem Interview mit Oksana Eduardowna Dobschanskaja: „1992, während einer ethnographischen Expedition durch die Taimyr-Region, lernten wir in der Siedlung Potapowo die Nenzin Aleksandra Fjodorowna Aschljapkina kennen. Aleksandra Fjodorowna (Mädchenname Lyrmina) war damals etwa 69 Jahre alt. Ihr Ehemann – der Enze Ilja Nikolajewitsch Aschljapkin – arbeitete während des Großen Vaterländischen Krieges als Brigadeführer in einer deutschen Rentierzucht-Brigade in der Kolchose „Nordweg“. Aleksandra Fjodorowna war in dieser Brigade als Tschum-Arbeiterin tätig: sie nähte für die Brigadiere Kleidung aus Rentierfellen. Nach den Erinnerungen der Aleksandra Fjodorowna waren die Deutschen die allerbesten Rentierzüchter: sie tranken keinen Alkohol, vergaßen niemals etwas und wurden von allen geachtet“. [3]
Zum Abschluss unserer Arbeit können wir folgende Rückschlüsse ziehen:
1. Nenzen und Deutsche gehören zu verschiedenen Sprachgruppierungen und unterscheiden sich durch ihren religiösen Glauben; sie besitzen eine unterschiedliche Ethnogenese und Geschichte; auch ihre Traditionen sind unterschiedlich; Nenzen und Deutsche sind auf verschiedenartige Weise ins Taimyr-Gebiet geraten. Aber man muss auch einige gemeinsame Charaktermerkmale, eine gewisse Übereinstimmug in den Schicksalen anmerken, die mit dem Leben in ein und demselben Land und der Arbeit unter gleichen Bedingungen im Zusammenhang stehen;
2. Unter den Faktoren, welche die Vertreter der verschiedenen Kulturen und ethnischen Gruppen vereinen, lassen sich das gemeinsame Ertragen aller Schwierigkeiten, die gleichen geistigen Werte und die gemeinsame Arbeit nennen;
3. Zu den Faktoren, die Kulturen und Ethnien voneinander trennen, gehören die zielgerichtete Staatspolitik zur Zersplitterung der ethnischen Gruppen (unter den Bedingungen des Norillag bezahlten die Behörden die ortsansässige Bevölkerung für die Ergreifung oder Vernichtung entflohener Häftlinge, wofür die Kriminellen sich an den Ureinwohnern bitter rächten: wahllos vernichteten sie Nomadenlager mitsamt den darin lebenden Menschen) sowie die Unkenntnis der Sprache.
1. Interview mit der Ehrenbürgerin der Stadt Dudinka, der Nenzin Anna
Iwanowna Djukarewa;
2. Interview mit der Dozentin am Lehrstuhl für Philosophie-Geschichte und
sozialwirtschaftliche Wissenschaften am Norilsker Industrie-Institut, der
Nachfahrin von Wolga-Deutschen mütterlicherseits – Natalia Wladimirowna
Golischenko;
3. Interview mit der Professorin und Doktorin der Kunstgeschichte – Oksana
Eduardowna Dobschanskaja;
Bibliographische Liste:
4) Barbolina, A.A.. Toponymik des Taimyr / Anna Aleksejewna Barbolina. –
Dudinka, Krasnojarsk: Verlagshaus “KP plus”, 2006, - 96 S.
5) Seibert, I. Ankommen, um etwas zu leisten. Taimyrer Lesungen – 2010:
Sammelband von Vorträgen. Teil 2 / wissenschaftl. Red. O.N. Chakimulina;
Norilsker Industrie-Institut. – Norilsk: NII, 2010 – S. 38-43
6) Kriwonogow, W.P. Die Völker des Taimyr (gegenwärtige ethnische Prozesse):
Monographie. – Krasnojarsk: RIO KGPU, 2001. – 264 S.
7. Melnikowa, J.W. Kultur und Traditionen der Weltvölker (ethnopsychologischer
Aspekt). 2. Ausg. – Moskau; Dialog der Kulturen, 2009- - 304 S.
8. Nenjang, L. Mein3e Schnee-Heimat. Verse und Gedichte, Legenden und Lieder. –
Krasnojarsk: „Offset“-Verlag. – 128 S.
9. Nenjang, L.P. Der verkörperte Geist eines Volkes. – Krasnojarsk, Fond für die
Literatur des Nordens „CHEGLEN“, 1997 – 240 S.
10. Petri, L.O., Petri, V.T. Die Deutschen im Taimyr-Gebiet. – Moskau:
„MSNK“-Press, 2005. – 100 S.
11, Petri, L.O. Erinnern, gedenken, mahnen // Taimyrer Lesungen – 2010:
Sammelwerk von Vorträgen. Teil 2 / wiss. Red. O.N. Chakimulina; Norilsker
Industrie-Institut. – Norilsk: NII, 2010, S. 85-95
12. Petri, L.O. Ein verlorener Sieg bedeutet noch keine Tragödie im Leben //
Taimyrer Lesungen -2011: Sammelband von Vorträgen, Teil 1 / wiss Red. J.W.
Majorowa; Norilsker Industrie-Institut. – Norilsk: NII, 2011. – S. 116-121
13. Kerze der Erinnerung. Das Taimyr-Gebiet in den Jahren der Repressionen.
Erinnerungen / Verfasserin N.A. Predtetschenskaja, Red. A.P. Paraschtschuk. –
Dudinka: Verlagshaus „KP plus“, 2006 – 104 S.
14. Snowskij, A. Überleben und erinnern. – Krasnojarsk: Verlagshaus „Neuer
Jenisej“, 2008.- 104 S.
15. Chakimulina, O.H. Geschichte und Kultur der Urvölker des Timyr: 10. – 11.
Kl.: Lehrbuch für allgemeinbildende Einrichtungen. – St. Petersburg: Filiale des
„Bildungs-Verlags“, 2009. – 288 S.
16. Chakimulina, O.N. Kultur, Traditionen und Gebräuche der Urvölker des .
Taimyr: Lehrbuch / O.N. Chakimulina; Norilsker Industrie-Institut, NII, 2006. –
159 S.
17. Chomitsch, L.W. Die Nenzen. – St. Petersburg: „Drofa“-Verlag, 2003
18. Schaschkow, A. „Kranich-Menschen“ und Staatsdiener // Heimat – 2002, N° 3,
S. 42-45
19. Schwindt, E. Volk auf dem Weg. Taimyrer Lesungen – 2011: Sammelband von
Vorträgen. Teil 1 / wiss. Red. J.W. Majorowa; Norilsker Industrie-Institut. –
Norilsk: NII, 2011. – S. 83-87
20. Aplesenewa, I.P. Vogelbeer-Glück: Sammelband von Essais / I.P. Aplesnewa. –
Norilsk: APEKS, 2012. – S. 63-71
Sonderumsiedler. Siedlung Malyschewka, Bezirk Dudinka. 1946
Die Nenzin Anna Iwanowna Djukarewa,
Ehrenbürgerin der Stadt Dudinka
Der Nenzenklub „Maima“ zuhause in Dudinka
Der Nenzenklub „Maima“ zu Gast in Norilsk
Viktor Japtune (der Enkel der Nenzen-Dichterin Ljubow Nenjang) auf
dem ersten Feiertag nationaler Kulturen in Norilsk „Bolschoi Argisch“