Autoren: Diana Dmitrotschenko, Jekaterina Petrunia, Jewgenia Beljajewa,
Klasse 10 A,
Städtische Bildungseinrichtung „Allgemeinbildende Oberschule N° 40“, Stadt
Norilsk, Bezirk Kajerkan
Projektleitung: Jelena Afanasjewna Kajeschkina, Geschichtslehrerin an obiger Schule
Die Zeit der Erinnerung ist gekommen,
Mir scheint es heute so,
Als ob wir beide
In zwei Ländern gelebt haben –
zwei Länder in einem.
Das Erste Land war
für alle Menschen sichtbar,
Frohe Meldungen kamen von dort!
Das zweite führte einen in weite Ferne,
in einem einzigen Augenblick wurden alle Wurzeln herausgerissen.
Der Zug jagte über die Felder dahin,
„116 geteilt durch 2“ ... (gemeint ist der berüchtigte §58; Anm. d. Übers.)
(R. Roschdestwenskij)
Diese bitteren Zeilen des bekannten Poeten entstande Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, einem Jahrhundert der Erschütterungen, Kriege, politischer Repressionen. Lange Zeit wurde über die Ereignisse, die mit dem Zeitraum der politischen Repressionen in den 1920er bis 1950er Jahren in Zusammenhang standen, geschwiegen. Aber es kam die Zeit, in der man damit begann Archivdokumente und Erinnerungen von unmittelbaren Teilnehmern der Tragödie längst vergangener Jahre zu veröffentlichen. Die Wahrheit brach mit einer derartigen Offenheit über uns herein, daß wir es als äußerst schmerzlich und schrecklich empfanden.
Heute wollen wir über die Familiengeschichte einer der Lehrerinnen unserer Schule – Alina Malzewa – berichten, genauer gesagt: gemeinsam mit ihr und ihrer Großmutter Lidia Arthurowna Lubyschewa-Koch. Wir trafen uns mit Lidia Arthurowna, arbeiteten im Archiv, studierten Zeitunggsartikel und Erinnerungen von Verwandten derer, die in den Jahren der Repressionen zu leiden hatten, und suchten nach Fotografien.
Im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte sind die Region Turuchansk und ihre nördlichen Randgebiete – die Halbinsel Tajmyr, Verbannungsorte von Andersdenkenden gewesen. Auch Raskolniks und Dekabristen wurden in unser Gebiet verbannt.
Zu Sowjet-Zeiten wurde Tajmyr zum Ort politisch motivierter Massen-Verbannungen, an dem tausende Menschen unterschiedlicher Nationalitäten jämmerlich zu Tode kamen. Es wurden nicht nur Bürger einzelner Völkerschaften, die sogenannten „Volksfeinde“ dorthin verschleppt, sondern ganze Völker.
Auf der Tajmyr-Halbinsel, dem größten Land des „Archipel Gulag“, trafen die ersten Partien politischer Häftlinge zeitgleich mit dem Baubeginn des Norilsker Kombinats ein. Die völlig überfüllten Lastkähne und Dampfer transportierten auf dem Jenisej billige Arbeitskräfte für den Bau der Norilsker Fabriken heran. Mehr als zwanzig Jahre – von 1935 bis 1956 existierte auf dem Territorium von Tajmyr eines der größten Lager Sibiriens, das Norillag, mit dutzenden Lagerabteilungen und Lagerpunkten.
Die Epoche des stalinistischen Terrors war gekennzeichnet von der Einführung einer ganz besonderen Bestrafung – der Deportation einzelner Völker. Vertrieben wurden die Völker des Baltikums, die Wolga-Deutschen, Koreaner und die Völker des Tajmyr.
In der Region Krasnojarsk befanden sich damals 62 443 Deutsche. Nach den im Buch „Licht des Gedenkens“, Dudinka, 2006, veröffentlichten Materialien des Tajmyrsker Staatsarchivs wurden in den schiffbaren Monaten der Jahre 1942 bis 1943 mehr als 8 000 Umsiedler ins Tajmyrsker Gebiet verschleppt: Wolga-Deutsche, Letten, Litauer, Esten, Rumänen, Finnen. 1944 gesellten sich noch 900 Kalmücken-Familien zu ihnen. Bis Mitte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden Sonderumsiedler und Gefangene nach Tajmyr gebracht. Über die Sondersiedler wurden in den Zeitungen nichts geschrieben, sie bekamen weder Orden noch Medaillen oder Ehrenurkunden verliehen. Vom Erhalt oder der Fortsetzung einer vernünftigen Ausbildung konnte schon gar keine Rede sein, und wenn jemand lernen mußte, dann allenfalls am Ort seiner Sonderansiedlung. Viele Schicksale sind gänzlich ungeklärt geblieben, denn es handelte sich um ein verbotenes Thema.
Wieviele dieser Opfer hat die eisige Tajmyrsker Erde zu sich genommen? Hunderttausende namenlose Gräber liegen weit verstreut auf dem riesigen Territorium dieses Gebiets. Schlimmste Schicksalsschläge und Zerreißproben entfielen auf das Los der Sonderumsiedler in den ersten Jahren ihres Aufenthaltes im Polargebiet. Aus Archiv-Dokumenten und den Erinnerungen von Augenzeugen jener Jahre läßt sich ein grauenvolles Bild menschlichen Leids zeichnen.
„Es ist sehr schwer Worte zu finden, um jene Qual und Vernichtung, all die Kränkungen und Demütigungen wiederzugeben, die meine Familie im Hohen Norden unter der Aufsicht der Sonderkommandantur durchmachen mußte.-„, - erinnert sich Lidia Arthurowna Koch.
Die Tragödie der Familie Koch hängt mit dem Beginn des Großen Vaterländischen Kriegs zusammen, denn genau da begann die Umsiedlung der Wolga-Deutschen. Im Gebiet Saratow, in dem Großdorf Grimm lebten der Großvater und die Großmutter von Lidia Arthurowna: Luisa Karlowna Frisorger-Koch (1904-1980) und Aleksander Davidowitsch Koch (1903-1944). Sie waren eine ganz normale Familie, besaßen ein Haus, eine Wirtschaft, vier Kinder und einen ganz normalen Bauernalltag. Das Dorf war recht groß; dreizehntausend Menschen lebten dort, es gab eine Molkerei. Damals, vor dem Krieg, hätte niemand von ihnen sich jemals vorstellen können, was das Schicksal für sie noch alles bereit halten würde. Aber das sollte sich alles ändern ...
Im Jahre 1941 teilte man der Familie Koch und den anderen Dorfbewohnern mit, daß sie alle für 3-4 Monate zur Zwangsarbeit verschickt würden. Ohne zu wissen, wohin es ging, packten Luisa Karlowna und Aleksander Davidowitsch binnen vierundzwanzig Stunden ein paar Sachen zusammen, nahmen ihre Kinder und verließen ihren Heimatort. Es war eine schreckliche beunruhigende Situation, man wollte sich von seinem Haus nicht trennen, erschöpft brüllte das von den Menschen im Stick gelassene Vieh. Auf der Suche nach ihren Herren liefen die Kühe und Schafe ziellos durch die Straßen.
Über einen Monat lang waren sie in Viehwaggons unterwegs, bis sie schließlich in Nischnij Ingusch, Region Krasnojarsk, ankamen. 1942 wurden sie weiter in den Norden geschickt. In Krasnojarsk, an der Station Jenisej, verbrachten sie einen ganzen Monat und warten dort auf einen Dampfer. Sie lebten direkt am Flußufer, unter freiem Himmel. Während dieser Zeit gingen sie in Begleitung der Bevollmächtigten zum Arbeiten in eine Rüstungsfabrik. Schließlich verfrachtete man sie auf den Dampfer „Josef Stalin“ und schickte sie Ende September auf eine „Reise“ nach Potapowo. Wohin genau und aus welchem Grund? Dafür gab man ihnen keine Erklärung.
Unterwegs erkarnkten die Menschen. Nach Angaben von Archiv-Dokumenten wurden Fälle von Infektionskrankheiten im allgemeinen registriert: Bachfell-Typhus, Ruhr, Masern, Scharlach, Skorbut (Archiv-Dokument: Bericht an den Regionsepidemiologen, den Genossen Titkow,. August 1943. Überprüfung der medizinischen Betreuung des Sonderkontingents im National-Gebiet Tajmyr, „Licht des Gedenkens“, Dudinka, 2006).
Die von der langen Fahrt geaschwächten und völlig erschöpften Sonderumsiedler kamen also in das am Jenisej gelegene Dorf Potapowo. Es war Anfang Herbst, der erste Schnee war gefallen, sie hatten keine warme Kleidung, und Behausungen gab es auch nicht. Laut vorliegenden Dokumenten hatte der Fisch-Trust, zu dessen Verfügung das Kontingent angekommen war, keinerlei Vorbereitungen getroffen. Die Menschen mußten sich am Ufer des Jenisej niederlassen – in Zelten, unter Booten, auf Dachböden, in Pferdeställen. Bei der Abfahrt aus Krasnojarsk hatte man die Umsiedler dahingehend informiert, daß sie kurzfristig wieder zurückkehren würden und man sich deswegen mit der Beschaffung vitaminreicher Nahrung nicht weiter befaßt hätte. Das Fehlen von Vitaminen, die völlig unzureichende Ernährung, die schlechten Wohnbedingungen, das Nichtvorhandensein von warmer Kleidung und Schuhwerk führten zu Massen-Erkrankungen, Erfrierungen und sogar Tod durch Erfrieren.
Die Papiere der Sonderumsiedler wurden sogleich bei ihrer Ankunft zerrissen. Wir sind der Meinung, daß man gerade damit die Ausweglosigkeit der Umsiedler deutlich machen wollte; es war für die Menschen eine schwere Verhöhnung und Demütigung. Nach Lidia Arthurownas Worten hob die Familie Koch im Berg ein großes Loch als Erdhütte aus. Mehrere Familien wurden darin untergebracht, die ihren Wohnraum mit Stoffetzen voneinander abtrennten. Der erste Winter war schrecklich. Kälte, Hunger, Skorbut. Es starben dermaßen viele, daß sie nicht schnell genug Särge anfertigen konnten. Die Toten wurden einfach in Körben gestapelt und dann in Gruben geworfen. Es kam vor, daß Verwandte einen Verstorbenen versteckten, um wenigstens noch für einen Tag seine Lebensmittelration zu bekommen. Nach den Erinnerungen von Großmutter Lidid Arthurowna gab es auch Fälle von Menschenfresserei. Vor vielen Jahren, es war kurz vor ihrem Tod, erzählte sie, daß die Frauen ein Kind aßen. Es starben die Eltern; die Kinder blieben allein zurück. Ganze Familien starben aus. Die Menschen waren derart geschwächt, daß sie nicht einmal mehr die Kraft hatten, die verwaisten Kinder aus den Erdhütten herauszuziehen. Die Kinder gingen nicht zur Schule – sie hatten nichts zum Anziehen. Sie halfen den Erwachsenen, viele arbeiteten.
Aus den Reihen der männlichen Sonderumsiedler wurden Fischfang-Brigaden gebildet; schließlich brauchte das Land Fisch, und die Front auch. Am 6. Januar 1942 verabschiedeten der Rat der Volkskommissare der UdSSR und das Zentralkomitee der Allrussischen Kommunistischen partei die Anordnung „Über die Entwicklung der Fisch-Industrie in den Tälern der Flüsse Sibiriens und des Fernen Ostens“, die zum festen Programm einer beschleunigten Entwicklung der Fischindustrie in diesen Bezirken in den Jahren des Krieges wurde.
Da die Sondersiedler sich ihr Leben lang immer nur mit Ackerbau befaßt hatten, waren sie für den Fischfang kaum geeignet. Wind, Wasser, Schmutz, und im Sommer auch noch die Stech- und Kriebelmücken, von deren Stichen und Bissen ihnen die Augen zuschwollen; es war furchtbar schwierig, und dann mußten sie auch noch das fünfhundert Meter lange Fischnetz ziehen. Mit guten Worten denkt Lidia Arthurowna an den Enzen Petr Spiridonowitsch Bolin zurück. Er brachte ihnen bei, wie man das Handwerkszeug richtig befestigt und herauszieht, wie man Netzte ausbessert oder gänzlich neu knüpft.
Es kam vor, daß die Ortsansässigen verwaiste Kinder in ihre Familien aufnahmen.
Zum Herbst hin wurde es kälter, die Nordwinde wehten häufiger, aber das Wasser speicherte die Wärme noch. Um sich ein wenig anzuwärmen, gingen sie bis zur Gürtellinie ins Wasser. Sobald sie herauskamen, gefror sogleich ihre Kleidung. Während der kurzen Erholungszeit konnte sie nicht vollständig durchtrocknen und roch deswegen immer nach Feuchtigkeit. Der Fischfang mit dem Netz zog sich bis zum 5. Oktober hin. Sie fischten barfuß 12-18 Stunden am Tag. Unter den Kontrollbesuchen der Bevollmächtigten Engelson und Mikow, die sich durch besonders schikanöses und grausames Verhalten hervortaten, hatten sie sehr zu leiden. Sie folgten den Sondersiedlern auf Schritt und Tritt. Sie erlaubten ihnen nicht, von dem Fisch zu nehmen, schauten in die Töpfe, um sicherzugehen, daß sie darin keinen Fisch kochten. Lidia Arthurowna kann sich noch an die Worte der Großmutter erinnern, darüber, daß den beiden irgendwann einmal der Fisch im Hals steckenbleiben würde – so hatte es jedenfalls der Großvater gesagt. Einmal hatten sie beinahe einen zwölfjährigen Jungen zu Tode geprügelt, nur weil er ein wenig Hafer genommen hatte. Das war im ersten, schrecklichen Winter, als die menschen vor lauter Hunger starben. Ständig begleitete einen das Hungergefühl.Die Kinder hatten ganz besonders zu leiden. Selbst nach dem Krieg kochten und aßen sie noch Polarfüchse und Hermeline.
Einmal im Monat mußten sich die Sonderumsiedler beim Kommandanten registrieren lassen. Und jedesmal bekamen sie dort zu hören: „Ihr bleibt hier – für immer. Falls Ihr versucht zu fliehen, werdet Ihr erschossen“. Aber wohin sollten sie schon laufen – so hungrig, schwach und zerlumt wie sie waren? Sie hatten begriffen, daß Krieg herrschte und daß sie gut arbeiten sollten.
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Erinnerungen und Gedanken von Lew Petri, der heute in Deutschland, in Hamburg, lebt. 1942 wurde er zusammen mit seiner Mutter nach Tajmyr verschleppt. In seinem Buch „Die Deutschen von Tajmyr“ (2006), in das auch die Erinnerungen von Sonderumsiedlern einfließen, die heute in Deutschland und Lettland leben, bestätigt Leo Petri, „daß die Kreml-Führer in den Jahren 1942-1944 auf der Halbinsel Tajmyr an Sondersiedlern unterschiedlicher Nationalitäten einen Genozid verübten, dem bis zu 70% der in den Hohen Norden verschleppten Menschen zum Opfer fielen“. Als Grundlage für seine Berechnungen verwendet Lew Petri statistische Angaben zweier Siedlungen – Potapowo und Ust-Chantajka: „Von 1950 Sondersiedlern, die in diese beiden Siedlungen verbracht wurden, kamen innerhalb von drei Jahren 1370 Personen ums Leben, das entspricht einer Todesrate von 70%“. Nach den Erinnerungen von Frieda Muss, die in dem Buch „Licht des Gedenkens“ veröffentlicht wurden, waren von den 1500 nach Potapowo verschleppten Menschen zum Jahr 1945 hin noch insgesamt 400 am Leben.
Am allerschlimmsten traf es alleinstehende Menschen und verwaiste Kinder, die in Kinderheime eingewiesen wurden. Nach den Angaben von Medizinern, die das Sonderkontingent untersuchten, waren von den 1942 in die Region transportierten 7626 Individuen 1589 Kinder unter 14 Jahren.
Die schlimmsten Erinnerungen für die Familie Koch hängen mit dem Jahr 1944 zusammen, als Aleksander Davdowitsch starb.
Nachdem die Sondersiedler in diese rauhen klimatischen Verhältnisse geraten waren, in diese ganze Extrem-Situation, unter Aufsicht der Kommandantur, herausgerissen aus ihrer ganzen gewohnten Lebensweise, ohne jegliche Routine bei der Führung eines Gewerbebetriebes im äußersten Norden, konnten sie nur noch auf eine einzige Möglichkeit des Überlebens hoffen – daß sie eine Beschäftigung bekommen und gut arbeiten würden.Aber für alle reichte diese Arbeit nicht, und das war eine große Tragödie für die Menschen. „Unser tägliches Brot sollten wir uns selbst im Wasser, aus der Luft oder in der Tundra beschaffen. Du machst es, lieferst die beschafften Erzeugnisse ab und bekommst dafür Lebensmittelkarten“ – sagt Lidia Arthurowna, wobei sie sich an die Worte der Großmutter erinnert.. Die Schwachen und Kranken waren vom Schicksal gezeichnet und hatten keine Kräft, im sich aus dem Netzwerk der Zwänge herauszuwinden. Erst 1956 gelang es, die Maschen des Netzes zu zerreißen, als das System der Sonderansiedlung abgeschafft wurde.
Der Sohn von Luisa Karlowna und Aleksander Davidowitsch, Arthur Aleksandrowitsch, heiratete eine Frau – Anna Kusminitschna Koch, die aus dem Dorf Kaschewitschi , Gebiet Smolensk, nach Potapowo gekommen war, um den Kampf gegen das Analphabetentum unter der Bevölkerung des Dörfchens Nikolajenko aufzunehmen.
Nach den Erinnerungen von Lidia Arthurowna, war die Mutter ständig in der Tundra unterwegs; sie fuhr von Siedlung zu Siedlung, um den dort lebenden Kindern Lesen und Schreiben beizubringen. Am 27. November 1950 wurde Lidia Arthurowna Koch geboren. Aufgezogen wurde sie bei der Großmutter; in der Familie wurde vorwiegend Deutsch gesprochen, deswegen kann Lidia Arthurowna mit dieser Sprache auch heute noch gut umgehen. Bei ihren eigenen Erinnerungen verweist Lidia Arthurowna auch immer wieder auf die Erinnerungen ihrer Verwandten, besonders von Tante und Onkel, Brigitta und Aleksander Arthurowna Wacker.
Lidia Arthurowna hob besonders stark hervor, daß die Großmutter über die Gründe des Umzugs nach Potapowo und über alles andere, was damit zusammenhing, sehr lange Zeit nicht sprach. Wir meinen, daß die Leute einfach Angst davor hatten, darüber etwas zu sagen, daß sie um das Schicksal der Kinderund übrigen Verwandten fürchteten. Später, im Jahre 1952, wurde die Schwester Tatjana Arthurowna geboren, die heute in Norilsk wohnt. Und am 26. November 1953 Wladimir Koch, der bis zum heutigen Tage in Potapowo lebt. 1958 kam Lidia Arthurowna in die Schule; sie war keine Schülerin, die von der Pioniergruppe betreut wurde, noch war sie selbst Pionierin. Sie weiß noch, die Einstellung gegenüber den Sonderumsiedlern in der Schule negativ war, erinnert sich, daß sie sogar selbst, als Enkelin von Sonderumsiedlern, nach Stalins Tod und nachdem sie sich nicht mehr regelmäßig in der Sonderkommandantur melden und registrieren lassen mußten, als Faschistin beschimpft wurde. Vermutlich hatten die Menschen Angst, mit ihnen Umgang zu haben, weil sie fürchteten, dann darunter leiden zu müssen. Und so beeinflußten sie ihre Kinder dahingehend, daß sie ebenfalls eine negative Haltung einnahmen. In Potapowo schloß Lidia Arthurowna die 7. Schulklasse ab. 1961 wurde ihr Vater in die Reihen der Kommunistischen Partei aufgenommen und wurde der erste Kommunist im Dorf. Daß es auf einmal für einen Sonderumsiedler möglich war, in die Partei aufgenommen zu werden, bedeutet, daß in Staat und Gesellschaft eine Wandlung eingetreten war. Ungefähr 1965 zog Arthur Aleksandrowitschs Familie zur Fischfabrik um, die etwa 4 km von Dudinka entfernt liegt. Die Kinder besuchten in Dudinka das Internat und kamen nur und freien Tagen nach Hause. Nach Abschluß der 8.Klasse ging Lidia Arthurowna in der Bäckerei als Reinmachefrau arbeiten. Im weiteren Verlauf eignete sie sich den Beruf einer Bäckerin an. Später fuhr sie nach Tschernogorsk, Region Krasnojarsk, wo sie ein Jahr lang das Handwerk eines Kinomechanikers erlernte; auf Zuweisung kehrte sie nach Dudinka zurück und arbeitete dort im Kino.
1970 heiratete sie. 1971 wurde eine Tochter geboren. 1973 kam ihr Ehemann in Ausübung seiner dienstlichen Pflichten ums Leben. Er war Pilot bei der zivilen Luftfahrt gewesen.
Eine weitere interessante Tatsache war, daß Lidia Arthurowna sehr gern Komsomolzin werden wollte, aber bei sich in Dudinka traute sie sich noch nicht einmal daran zu denken. Als sie ungefähr 18 Jahre alt, fuhr sie als Touristen nach Uljanowsk, in die Heimat des Revolutionsführers und Gründers des Sowjet-Staates W.I. Lenin, und an diesen denkwürdigen Stätten nahm man sie in die Komsomolzen-Organisation auf. Lidia Arthurowna weiß noch: „Als sie fragten, wer in den Komsomol möchte, freute ich mich schrecklich, und als sie wissen wollten, ob ich bei den Pionieren gewesen war, da log ich einfach und sagte „ja“; und dann bin ich dort in Uljanowsk in die Kommunistische Jugend-Organisation gekommen“.
Heute leben Lidia Arthurowna, ihre Tochter und Enkel zusammen in Kajerkan. Lidia Arthurowna unternimmt sehr viel, damit diejenigen nicht in Vergessenheit geraten, die in den schrecklichen Jahren schwerstes Leid durchgemacht haben.
Im Februar 1991 fand auf der Tajmyr-Halbinsel die regionale Konferenz der Deutschen statt. Am 28. August 1991, genau 50 Jahre nach der Verabschiedung des Ukas über die Umsiedlung der Deutschen aus dem Wolga-Gebiet, wurde in Dudinka zum ersten Mal der Gedenktag an die Opfer politischer Repressionen begangen.
Jedes Jahr wird an unserer Schule der Tag zum Gedenken an die Opfer politischer Repressionen begangen, es werden besondere Unterrichtsstunden abgehalten, es finden Treffen mit Mitarbeitern des Museums und mit Augenzeugen jener entsetzlichen Ereignisse statt. Zu einem dieser Treffen wurde auch Lidia Arthurowna eingeladen, die dort ihr Gedicht vorlas.(Bei der Übersetzung wurde kein Versmaß berücksichtigt; Anm. d. Übers.).
Diese Tage soll man nie vergessen,
Diese Tage sollen auf ewig im Gedächtnis bleiben,
Genauso wie der Krieg, das Jahr von Tschernobyl,
Und mögen sie sich niemals wiederholen,
Nur im Bewußtsein der Menschen sollen sie bleiben.
Mögen all diejenigen ewige Ruhe haben,
Die die Verfolgungen und den Hunger durchgemacht haben.
Bewahren wir die Erinnerung an sie in unseren herzen,
Mögen auch unsere Kinder, unsere Enkel immer daran denken.
Lidia Arthurownas Familie
Aleksander Davidowitsch Koch, Lidid Arthurownas Vater
(1903 – 1944)
Luisa Karlowna Frisorger, Lidia Arthurownas Großmutter
(1904 – 1980)
Lidia Arthurowna und Schülerinnen der Klasse 10 A
Treffen von Schülern der Klasse 10 A der Städtischen Bildungseinrichtung
„Allgemeinbildende Oberschule N° 40“, Norilsk, Kajerkan
Lidia Arthurowna Lubyschewa-Koch
1. Tajmyr N° 135 (13305) vom 23. November 2006
2. Sapoljarnaja Prawda N° 165, 1. November 2006
3. Freitag N° 163
4. „Licht des Gedenkens“, Dudinka, 2006, regionales Tajmyrsker
Heimatkunde-Museum
5. „Die Deutschen von Tajmyr“, Lew Petri, 2006
Die Geschichte der hier vorliegenden Arbeit steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Studium der Geschichte unserer Region. Wir leben in Norilsk, wo jeder Stein, jedes Sandkörnchen vom Leid und der Tragödie von Menschen getränkt ist, die unser Kombinat hinter dem Polarkreis erbaut haben.
Das Thema der Repressionen ist ein Thema der Qualen und des Leids. Am Tag der Opfer der politischen Repressionen, der in Rußland am 30. Oktober begangen wird, gibt es in vielen norilsker und tajmyrsker Familien irgendjemanden für den man beten und eine Gedenkkerze anzünden kann.
Von der an unserer Schule lernenden Schülerin Alina Malzewa haben wir erfahren, daß ihre Großmutter deutscher Nationalität ist und ihre Familie nicht aus freiem Willen auf die Tajmyr-Halbinsel gekommen ist. Weil wir uns für das Schicksal von Lidia Arthurowna interessierten, erfuhren wir auch eine ganze Menge über die Deportation der Wolga-Deutschen. Vom schweren und sehr tragischen Schicksal der Familie Koch erzählt unsere hier vorliegende Geschichte.
Wir haben Lidid Arthurowna getroffen und mit ihre gesprochen. Die Schwierigkeit dieser Arbeit bestand darin, daß Lidia Arturowna selbst bereits 1950 geboren wurde und sich deswegen an die Ereignisse zu Beginn der Deportation gar nicht erinnern kann. Aber in Lidia Arthurownas Familie weiß man noch von den Erinnerungen ihrer Großmutter und Verwandten, von denen einige bis heute in der Siedlung Potapowo leben, die 100-120 km von Dudinka entfernt liegt.
Leider konnten wir nicht ganz bis dorthin fahren. Unter den Bedingungen des Hohen Nordens, in dem wir leben, ist eine so weite Reise gefährlich. Nach den Erzählungen von Lidia Arthurowna, kann man mit den Motorschlitten der Marke „Buran“ von Dudinka nach Potapowo gelangen. Das dauert 9 Stunden. Aber wir haben uns mit den Materialien des regionalen Tajmyrsker Heimatkunde-Museuma vertraut gemacht, das sich in Dudinka befindet.
Diana Dmitrotschenko und Jekaterina Petrunja stellte, nachdem sie eingehend die methodischen Empfehlungen studiert hatten, die man ihnen aus der Regionshauptstadt geschickt hatte, die Fragen für die Interviews zusammen, führten gemeinsam mit der Projektleiterin J.A. Kajeschkina eine Analyse der Ergbenisse durch und legten den weiteren Plan für ihre Tätigkeiten fest. Jewgenia Beljajewa arbeitete mit den Masseninformations-mitteln: sie machte Zeitungsartikel ausfindig, welche die Schicksale der Wolga-Deutschen im Tajmyrgebiet beleuchteten. Gemeinsam mit der Projektleiterin wurde ein Treffen von Schülern der Klasse 10A unserer Schule mit Lidia Arthurowna vorbereitet und realisiert. Es entstand die Idee, auf der Grundlage unserer Arbeit einen Videofilm über die Geschichte der Familie Koch zu schaffen. Auf dem Gelände unserer Schule existiert das Studio „Peremena“, dessen Leiter Gennadij Aleksandrowitsch Ratanow ist, und wir drei – werden die Teilnehmer an dem Projekt sein. Zusammen mit den Projektleitern habe ich ein Drehbuch geschrieben, und es wird nicht mehr lange dauern, bis unser Videofilm fertig ist.