18. Gesamtrussischer Wettbewerb
historischer Forschungsarbeiten
«Der Mensch in der Geschichte. Russland– 20. Jahrhundert»
2016–2017
Autorin: Anastasia Chlopowa
Städtische allgemeinbildende Mittelschule ¹ 24
Leitung: Maria Viktorowna Gribatschewa
Einleitung
I. Die Geschichte der Umsiedlung
II. Die Geschichte der Familie Wachtel
III. Die Kultur des deutschen Volkes
Schlussbemerkungen
Bibliographie
Im Sommer 2016 geriet ich in eine Ortschaft mit dem schönen Namen „Saubere Teiche“ im Balachtinsker Bezirk. Es stellte sich heraus, dass die meisten Einwohner deutscher Herkunft sind. Das weckte mein Interesse, denn ich wollte wissen, wie sie wohl hierhergekommen sein mochten. Außerdem hing mein Interesse mit der Geschichte meiner Familie zusammen, denn ich wusste schon immer, dass auch in mir deutsches Blut fließt. In dem Augenblick begriff ich, dass es an der Zeit sei, die eigenen Wurzeln ein wenig näher zu erforschen. Dabei wurde deutlich, dass das Schicksal der Bewohner dieser Ortschaft und das meiner eigenen Verwandten einander sehr ähnelten.
Während des Großen Vaterländischen Krieges wurden in unserem Land aus unterschiedlichen Gründen Menschen aus Gebieten ausgesiedelt wurden, die früher bereits in entlegene Gegenden umgesiedelt worden waren – Krim-Tataren, Wolga-Deutsche, Kalmücken, einige Völker des Nord-Kaukasus.
Was waren die Gründe für die Umsiedlung dieser Völkerschaften? Auf welcher Grundlage basierte die Einstellung der sowjetischen Staatsmacht gegenüber den Menschen? In unserer Region leben ziemlich viele Menschen aus dem Wolga-Gebiet. Gerade im Großen Vaterländischen Krieg erwarben sie, die nach Sibirien Deportierten, hier ihre zweite Heimat, unter anderem auch die Familie Wachtel, bestehend aus Amalia Iwanowna (1918 - 2000) und Iwan Filippowitsch (1910 - 1995). Das Bemühen, die Antworten auf die oben genannten Fragen zu finden, erweckte in mir den Wunsch zur Erforschung und Erstellung der Geschichte über das Erscheinen der Deutschen in unserer Region.
Ziel:
- Untersuchung der Gründe für die Deportation der Wolga-Deutschen
- Studium der Kultur der Deutschen und wie sich ihre Tradition in der Gegenwart
verändert haben
Aufgabenstellung:
- Studium der Familiengeschichte.
- Verarbeitung des Materials und Dokumentierung.
- alles zugängliche Material bei den Umsiedlern von der Wolga zusammentragen.
- durch gemeinsame Arbeit mit Verwandten, den Bibliotheken der Ortschaft und des Bezirks Literatur auswählen, die Zeugnis über diesen Zeitraum verwendet werden kann.
Es gibt mehr als 200 Staaten und nahezu 5000 Völker auf der Welt, und das bedeutet, dass viele Völker gemeinsam mit anderen unter einem Staatsaufbau leben müssen. Natürlich entstehen wirtschaftliche, politische, rechtliche und andere Probleme, die bisweilen zu nationalen Konflikte ausweiten können: aufgrund von Territorial-Streitigkeiten, der Vertreibung von Völkern aus ihren Gebieten und der Rückkehr eines deportierten Volkes in seine historische Heimat, der willkürlichen Änderung administrativer Grenzen, der Zwangseingliederung von Gebieten einzelner Völker in einen benachbarten Staat, zwischen ethnischen Mehrheiten und dicht beieinander lebenden Minderheiten (nicht-eingeborene Volkszugehörigkeit), wegen des Fehlens einer National-Staatlichkeit bei einem Volk sowie seiner Aufteilung unter anderen Staaten.
Vor mehr als 200 Jahren lud das Russische Imperium die Vorfahren der heutigen Russland-Deutschen zur Urbarmachung neuer Ländereien ein. Bei einer solchen Lebensweise formierten sich die Russland-Deutschen als Volk mit eigenen Bräuchen. Eigener Kultur und eigenen Traditionen.
Im Verlauf der Deportationen, als Folge unmittelbarer Repressionen, aufgrund von Hunger, Krankheit und der ungewohnten klimatischen Verhältnisse sank die Zahl der Tschetschenen um etwa 50%, der Krim-Tataren um 46 %, der Kalmücken um 30%. Der Aufenthalt in der Verbannung spiegelte sich im Zustand ihres Genpools und der materiellen Kultur wieder. Ende der 1950er Jahre wurde es den meisten deportierten Völkern erlaubt, in ihre historischen Gebiete zurückzukehren, doch die seinerzeit von ihnen verlassenen Ländereien waren längst von Vertretern anderer Völker besiedelt, was erneut einen Anlass für interethnische Konflikte mit sich brachte.
Trotzdem waren die Deutschen als erste den Deportationen unterworfen. Im Sommer 1941 wurde die gesamte Bevölkerung der UdSSR (fast 1,5 Millionen Menschen) zu «Saboteuren und Spionen“ erklärt, die der Aussiedlung nach Sibirien und Kasachstan unterworfen waren. Die Autonome SSR der Wolga-Deutschen wurde liquidiert.
In den verstreuten Ansiedlungen der Bürger, Sondersiedler, die des Vaterlandsverrats und der Unterstützung der deutsch-faschistischen Angreifer beschuldigt wurden, befanden sich insgesamt 2 463 940 Menschen, davon 655 674 Männer, 829 084 Frauen sowie 979 182 Kinder unter 16 Jahren.
Zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges wurden die Wolga-Deutschen, verleumdet wegen Unterstützung des deutschen Faschismus, nach Sibirien und Kasachstan verschleppt. Die Massendeportation begünstigte den Anstieg der deutschen Bevölkerung in der Region (von 3962 auf 77359 Personen); sie wurden über mehr als 40 Bezirke verstreut angesiedelt.
Die Wolga-Deutschen wurden aus ihren Häusern verwiesen, zwangsrepatriiert, fortgeschickt in Gebiete, die weiter von der Frontlinie entfernt waren, insbesondere nach Sibirien. Aufgrund des von der Regierung verabschiedeten Dekrets vom 28.08.1941 wurden alle Deutschen der Sowjetunion, vom Säugling bis zu schwachen, alten Menschen, zu Saboteuren und Spionen erklärt und unterlagen der Ausweisung. Tausende Deutsche verloren ihren Besitz, ihre historische Heimat, ihr nationales Staatsgebilde. Was mussten diese Menschen alles erfahren, die in einem einzigen Moment – alles verloren?
Ortschaft Bettinger (Baratajewka, Borotajewka) – Kanton Unterwalden (Marxstadt) Paninsker Bezirk
BOROTAJEWKA (Bettinger; Baratajewka, Bartenewka), lutherisch-reformatorische Ortsñhaft, gegründet am 3. August 1767. Befindet sich am linken Ufer der Wolga, nahe dem Fluss Wortuba, 95 êì nordöstlich der Stadt Engels. Bis 1917 gehörte die Ortschaft zum Paninsker Kolonisten-Gebiet, Nikolajewsker Landkreis, Gouvernement Samara, Amtsbezirkszentrum. Während der Sowjet-Zeit – ASSR der Wolga-Deutschen, Paninsker (Schenchensker) Bezirk, Kantone Marxstadt, Unterwalden. Gegenwärtig gehört sie zur Sorkinsker Landsiedlung, Bezirk Marxstadt, Gebiet Saratow.
Die deutsche Bezeichnung ergab sich nach dem Namen des Dorfältesten. Nach dem Ukas vom 26. Februar 1768 über die Pflicht, den Kolonien Ortsbezeichnungen zu verleihen, tauchte der Name Baratajewka auf, nach dem Familiennamen des Gebietskommissars Fürst Baratajew. Am Fluss Maly Karaman gelegen, wurde die Ortschaft 1770 an einen günstigeren Ort verlegt. Das Groß-Dorf gründeten 35 Familien aus Hessen-Kassel und Preußen. Der Aufbau der Siedlung begann 1768, bis zu dem Zeitpunkt überwinterten die Kolonisten in den bereits existierenden Kolonien.
Die Kirchengemeinde gehörte zum Kirchspiel Bettinger. Das lutherisch-reformatorische Kirchspiel wurde 1780 bestätigt, zu ihm gehörten die Kolonien Baratajewka, Schaffhausen, Glarus, Basel, Zürich. 1820 teilten sich von diesem Kirchspiel die Kolonien Unterwalden, Susannenthal, Baskakowka, Rjasanowka, Brokhausen, Gokkerberg (Hockerberg) ab. Die hölzerne Kirche der Heiligen Peter und Paul wurde 1808 errichtet, 1871 umgebaut und war für 1000 Kirchgänger ausgelegt. Ein Teil der Einwohner waren Katholiken. 1875 wurde bei der Kirche ein Armenhaus eröffnet, welches man 1903 zu einem kleinen Krankenhaus umfunktionierte.
1857 umfasste die Gemeinde 5720 Desjatinen Land. Auf eine Revisionsseele (mit Revisionsseelen wird die männliche Bevölkerung des fronwirtschaftlichen Russlands bezeichnet, die der Kopfsteuer unterlag und deswegen durch besondere Zählungen (Revisionen) ermittelt wurde. Entsprechend der Anzahl der Revisionsseelen wurde der Boden innerhalb der Dorfgemeinden neu aufgeteilt; Anm. d. Übers.) - insgesamt 730 Männer) entfielen etwa 6,9 Desjatinen Land. Nach dem Stand von 1859 zählte man in den Kolonien 182 Höfe; dort lebten 1409 Personen (720 Männer und 689 Frauen), es gab eine lutherische Kirche, eine Schule und einen Basar. Die Kolonisten betrieben Ackerbau, bauten Weizen, Roggen, Tabak, Kartoffeln an, Gartenbau und Viehzucht wurden vorangetrieben. 1910 gab es bereits 451 Höfe, die Bevölkerung war auf 4366 Menschen (2250 Männer und 2116 Frauen) angewachsen. Als geeigneter Boden waren 7965 Desjatinen ausgewiesen, als ungeeigneter – 1334. Es gab eine lutherische Kirche, eine Amtsbezirksregierung, zwei Gerichts- und Ermittlungsämter, eine öffentliche Wohltätigkeitsbehörde, eine Landpolizisten-Wohnung. Laut der allgemeinen polizeilichen Verwaltung bestand das Groß-Dorf aus einer administrativen, territorialen Einheit. 1910 gehörten zum Baratajewsker Amtsbezirk die Siedlungen: Baratajewka, Glarus, Schaffhausen, Basel, Zürich sowie die Vorwerke: Selenka, Majanga, Salt-Peterdak, Schakger, Schaffhausener Majanga, Züricher Majanga, Baratajewsker Majanga, Züricher Selenka, Kern und Bauer.
Nach der Bildung einer Arbeitskommune (autonomes Gebiet) der Wolga-Deutschen im Jahre 1918 wurde die Ortschaft Bettinger zum Verwaltungszentrum des Bettinger Dorfrats im Kanton Marxstadt. 1926 gehörten zum Bettinger Dorfrat: das Dorf Bettinger, die Siedlung Majanka, die Vorwerke Tränkteich, Brunnen, Fruktovye Sady (Obstgärten; Anm. d. Übers.) und Seifert. Ab dem 1. Januar 1935, nach der Ausgliederung des Kantons Unterwalden aus dem Kanton Marxstadt, und vor der Liquidierung der ASSR der Wolgadeutschen im Jahre 1941, gehörte Bettinger zum Kanton Unterwalden er ASSR der Wolgadeutschen.
Während der Hungersnot 1921 wurden 185 Menschen geboren, 393 starben. Laut Volkszählung des Jahres 1926 zählte das Groß-Dorf 471 Haushalte mit einer Bevölkerung von 2465 Personen (1159 Männer 1306 Frauen). Die deutsche Bevölkerung machte 2461 Personen aus (1157 Männer 1304 Frauen), – 468 Haushalte. In den 1920er Jahren gab es einen Kooperativ-Laden und eine Grundschule.
Im September 1941 wurde die Bevölkerung der ASSR der Wolgadeutschen nach
Sibirien und Kasachstan deportiert. Am 5. Juni 1942 wurde der Bettinger Dorfrat
in den Wortajewsker umbenannt. 1943 gründete man auf den Ländereien der
ehemaligen Kolonien die Lenin-Kolchose.
Heute ist Worotajewka eine kleine Ortschaft innerhalb des Sorkinsker
Kommunalwesens. Es gibt dort eine allgemeinbildende Grundschule. Das verfallene
Kirchengebäude (der Glockenturm wurde schon früher entfernt) stand bis Mitte der
2000er Jahre; heute ist es aufgrund eines Brandes nicht mehr vorhanden.
Im September 1941 kam das Unheil ins heimatliche Dorf Bettinger an der Wolga. Die Familie Wachtel – Amalia Iwanowna (1918 - 2000) und Iwan Filippowitsch (1910 - 1995) sowie das dreijährige Söhnchen Andrej – wurden gewaltsam nach Sibirien deportiert.
Den Dorfbewohnern gab man 2-3 Stunden Zeit, um ihre Sachen zu packen. Das war katastrophal wenig. Die Menschen konnten für unterwegs keine vernünftigen Sachen zusammensuchen. Sie ergriffen die ersten Sachen, die ihnen in die Finger kamen, und stopften sie in Koffer oder schnürten sie zu Bündeln zusammen. Es herrschte eine furchtbare Panik, Geschrei und Weinen erfüllten das gesamte Dorf.
Bewaffnete sowjetische Soldaten gingen durch die Ortschaften und trieben alle Menschen zur Anlegestelle. Dann mussten die Einwohner sich an Bord eines Lastkahns begeben. Das Gedränge war so groß, dass sie keine Möglichkeit hatten sich nieder zu setzen; und so mussten sie stehen bleiben. Die Frauen und Kinder schluchzten, nur die Männer standen mit versteinerten Gesichtern da. Das war der Beginn einer großen Schicksalsherausforderung, die das deutsche Volk getroffen hatte.
Der Lastkahn wurde von schnellen, kleinen Kriegsschiffen begleitet, die im Wesentlichen mit Torpedos ausgestattet waren. Die Deutschen warteten darauf, dass man sie erschießen und den Kahn versenken würde. Warum geschah das nicht? Das blieb für sie ein Rätsel.
Der Kahn legte an der letzten Wolga-Station an. Anschließend wurden die Menschen wie Vieh auf Güterwaggons verladen und nach Sibirien geschickt. Ein Güterwaggon ist die wichtigste Art von Eisenbahn-Waggons, der dazu geeignet ist, sehr schnell für den Massentransport von Menschen umgerüstet zu werden, sofern dies unbedingt erforderlich wird (das heißt vor allem für die Verlegung von Truppen). Häufig findet eine solche Umrüstung der Waggons aus Mangel an Zeit oder Material jedoch nicht statt.
Der Proviant, den sie mitgenommen hatten, war sehr schnell aufgebraucht. Die Menschen hungerten während der Fahrt. Das Essen, das an sie verteilt wurde, reichte nicht. Die Eltern versorgten damit in erster Linie ihre Kinder. Frisches Wasser war reiner Luxus.
In dem Waggon, in dem sich meine Verwandten befanden, gab es keine Liegen. Der Boden war mit Stroh ausgelegt; das war die einzige Wohnkultur. Zur Verrichtung der natürlichen Bedürfnisse stand in einer Ecke ein Eimer. Es fehlte eine vernünftige Belüftung, deswegen stank es im Waggon dementsprechend. Während der Reise hatten die Menschen keine Möglichkeit sich zu waschen, sie wurden von Läusen förmlich zerfressen. Aufgrund der unhygienischen Bedingungen brach die Ruhr aus; es war schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie die Menschen litten.
Die ersten Züge trafen am 14. September in der Region Krasnojarsk ein und brachte 2270 Menschen mit. Die eingetroffenen Umsiedler wurden in Gruppen zu jeweils 10-100 Leuten auf die verschiedenen Unternehmen verteilt. Ausgenommen waren einzelne, die eine seltenen Beruf erlernt hatten. Sie wurden gesondert untergebracht.
Insgesamt trafen 70.000 Menschen aus der Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Republik der Wolgadeutschen in der Region Krasnojarsk ein. Anfangs wurden viele zur Ansiedlung in die südlichen Regionen geschickt. Am 16. Und 17. September wurden die ersten Siedler mit einem Binnenschiff in Minussinsk abgeliefert. Ein bedeutender Teil der Umsiedler wurde auf die Farmen der Sowchose „Kuraginskij“ sowie der Sowchose des Allunions-Trists zur versorgung der Arbeiter und Angestellten der Gold- und Platin-Industrie mit Lebensmitteln und Industriewaren.
Die Wolgadeutschen wurden in 25 Dorfräten des Minussinsker Bezirks und in der Stadt Minussinsk selber angesiedelt, 133 Familien schickte man in den Jermakowsker Bezirk. Im Idrinsker Bezirk fanden 380 Familien Unterkunft, im Karatussker — 242.
Meine Verwandten kamen in den Idrinsker Bezirk. Ihr Verteilungsort war das Dorf Nischnee Nikulino, das 1868 gegründet worden war. Das Dorf lag inmitten der Taiga, etwa 60 km von der Bezirkshauptstadt entfernt.
An die Sonderumsiedler wurde ein Stück Land zur Nutzung als Gemüsegarten zugeteilt; sie bekamen Saatgut ausgehändigt. Alle erwerbsfähigen Erwachsenen sollten auf jeden Fall Arbeitsplätze erhalten, Kinder — zur Schule gehen. Zudem wurde die Mehrheit der Umsiedler in ökonomisch schwache Kolchosen einquartiert, die nicht in der Lage waren Hilfe zu leisten.
Somit bot Sibirien keine Anziehungspunkte für die neuen Umsiedler: die rauen Winter, Probleme mit Wohnraum und Arbeit. Neues Unheil über die Deutschen brachte die Mobilisation in die Arbeitsarmee. In den Siedlungen blieben lediglich Alte und Kinder zurück. Männer im arbeitsfähigen Alter wurden in die Trudarmee (Holz-Lager) geschickt. Mein Urgroßvater Iwan Filippowitsch fällte ab 1941 Bäume in den Gebieten Kemerowo und Tschita. 1949 schickten sie ihn zu seiner Familie zurück, denn er war aufgrund seines Gesundheitszustands nicht länger in der Lage zu arbeiten. Die Arbeit in der Arbeitsarmee barg im wahrsten Sinne des Wortes Sklaven-Charakter in sich, sämtliche internationalen Vereinbarungen über die Menschrechte und über die Nichtzulässigkeit von Zwangsarbeit wurden verletzt. In der Tat handelte es sich, wie W. Disendorf schreibt, um Konzentrationslager, in denen die Menschen gezwungen waren, unter schärfster Bewachung zu schuften. Nur ein gesunder, kräftiger Mann konnte die tägliche Norm erfüllen. Erfüllte er sie nicht, wurde die ohnehin schon spärliche Ration gekürzt. Unter diesen Bedingungen war es schwierig, seine Kräfte wieder zu erlangen, und so schwanden die Menschen vor den Augen der anderen dahin.
Die Männer holten sie zum Bäume fällen. Die Arbeit ist schwer, die Verpflegung schlecht. Die Menschen bekamen Hungerödeme. Die Frauen tauschten Kleidungsstücke gegen Lebensmittel, um ihre Angehörigen wenigstens mit ein paar Esswaren versorgen zu können. Laut Angaben einer der Quellen wurden in der Trudarmee von Reschoty im Herbst etwa 3000 Gefangene gezählt, im Frühjahr waren noch 300 von ihnen am Leben. Die Deutschen versuchten dieser Hölle zu entrinnen, aber natürlich wurden sie gefunden und zurückgebracht.
Zeitgenossen dieser Ereignisse erzählen mit Schmerz und Tränen in den Augen von jenen Zeiten.
Es war den Deutschen verboten, das Dorf ohne Erlaubnis des Starosten zu verlassen. Zweimal in der Woche mussten sie sich beim Starost und einmal pro Monat in der Kommandantur bis spätestens 10 Uhr abends melden und registrieren lassen. 1946 zogen meine Urgroßmutter Amalia und Urgroßvater Iwan nach Erhalt entsprechender Genehmigungen in die Ortschaft Idrinskoje. Nach dem Schließen der Kommandantur im Jahre 1956 durften die Deutschen sich dann wieder frei bewegen. Aber nur wenige Wolgadeutsche konnten in der Anzahl ins Wolgagebiet zurückkehren, in der die Sowjetmacht sie von dort fortgeholt hatte. Für einen Zeitraum von zehn Jahren war es ihnen nicht gestattet sich dort niederzulassen. An ihren ehemaligen Wohnorten erfuhren die Umsiedler selber schroffe Ablehnung von Seiten der Bevölkerung, die damals von demselben stalinistischen Regime in ihren einstigen Häusern untergebracht worden waren und nun ihren heimatlichen Grund und Boden einnahmen.
Nach dem Krieg blieben viele Wolgadeutsche in der Region, die das NKWD ihnen im Augenblick der Deportation zugewiesen hatte. Nach einer langen Periode der Verfolgungen, richteten sich die Deutschen an den neuen Aufenthaltsorten ihr Leben wieder ein, ihre Anzahl stieg dort auf natürliche Weise an, und es gelang ihnen, ihre einzigartige kulturelle Identität, ihre kulturellen Traditionen zu bewahren.
So blieb auch die Familie Wachtel in den Gebieten; nach dem Umzug wurden in der Familie von Amalia und Iwan neben Andrej (geb. 1938) weitere fünf Söhne geboren: Iwan (1949), Wladimir (1952; mein Großvater), Viktor (1954), Alexander (1956), Arthur (1959).
Während der “Perestroika“ kam die Möglichkeit auf, ins Ausland auszureisen, und zahlreiche Familien emigrierten. Ich fing an meine Mutter zu fragen, weshalb sie damals, in den 1980ern, nicht nach Deutschland gegangen sind, zurück in ihre historische Heimat. Sich so eine Chance entgehen zu lassen! Mama erzählte mir, dass damals, als sie noch die Schule besuchte, viele Familien aus ihrem Ort ihre Papiere zusammensuchten, um nach Deutschland auszusiedeln. Aus der Familie Wachtel war Arthur der Erste, der fortging, er war noch nicht verheiratet, ein junger Bursche, und für ihn war das wahrscheinlich ein Abenteuer. Alle anderen waren hier, in Sibirien, schon fest mit ihren Wurzeln verwachsen. Alle Brüder hatten bereits eigene Familien gegründet, die Kinder waren in Mischehen geboren. Deswegen nutzten aus unserer gesamten Familie nur ein Bruder und noch ein weiterer, Alexander, das Umzugsrecht; letzterer hat seine Dokumente eingereicht und wartet auf die Ausreise-Erlaubnis.
1990 konnte man den Höhepunkt der Umsiedlung beobachten — in der BRD trafen 397.073 Menschen ein. Im Jahr 2000 erreichte ihre Zahl erstmalig nicht die 100.000-Marke. Und 2011 siedelten nur noch 2148 Personen nach Deutschland um – der niedrigste Index in der gesamten Geschichte des Aufnahme-Zeitraums von Aussiedlern seit der Öffnung des Landes. In den letzten Jahren lässt sich ein langsamer, aber stetiger, Zustrom an Aussiedlern beobachten.
Das Leben unter den Bedingungen des Sonderregimes in der Verbannung spiegelt sich negativ in der Anzahl, Sprache und dem kulturellen Alltagskomplex der umgesiedelten Deutschen wider. Mit Beginn der Repressionen gegenüber den Wolgadeutschen wurde diesen das Verbot auferlegt, die Muttersprache zu benutzen; sie verloren ihre materielle und soziale Grundlage, ihre Kultur: man nahm ihnen Schule, Kirche und Zeitungen. Unter derartigen Bedingungen wurden viele kulturelle, ethnische und familiäre Bindungen auseinandergerissen und zerstört.
Erst ungefähr 20 Jahre später wurden jegliche Rechtsbeschränkungen bei den Deutschen und ihren Familien-Mitgliedern, die sich in Sondersiedlung befanden, abgeschafft. Sie wurden aus der administrativen Aufsicht entlassen, man erlaubte ihnen, sich in anderen Bezirken des Landes niederzulassen u.a. Doch die ASSR der Wolgadeutschen wurde nicht wieder zu neuem Leben erweckt.
Die russische Kultur nahm starken Einfluss auf die Sitten und Traditionen der Deutschen. So begehen beispielsweise die ethnischen Deutschen, neben ihren nationalen Feiertagen, auch die russischen, und die deutschen Hausfrauen haben gelernt, Gerichte der russischen Küche zuzubereiten: Kohlsuppe, Pelmeni, Blini. Es ist bezeichnend, dass sich gerade in der Küche der Russland-Deutschen eine viel größere Entlehnung vollzog, als in anderen Bereichen von Kultur und Alltag. Das gegenseitige Durchdringen der Kulturen erfasste sogar die Bräuche bei Totenmessen und Leichenbestattungen.
In der Ortschaft Tschistye Prudy wird stets das katholische Weihnachtsfest gefeiert, nach deutscher Tradition gibt es zum Essen eine gebratene Gans. Ebenso werden alle religiösen Festtage im Ort begangen, unter anderem auch die orthodoxen. Überall sieht man Mischehen, daher kommt es bestimmt vor, dass es im Jahr doppelt so viele Feiertage gibt. Doch wie es scheint, ist das nicht richtig. Der Großvater erzählte, dass einmal ein katholischer Priester zu ihnen in den Ort kam und den Einwohnern erklärte, dass in einer Familie entweder der katholische oder der orthodoxe Glauben vorherrschen sollte. Wenn ein Mädchen heiratete, dann sollte es den Glauben des Ehemannes annehmen, ansonsten wäre das eine furchtbare Sünde. Da erinnerte sich der Großvater, dass, als er um die Großmutter warb, die Mutter ihnen verbot, sich weiterhin zu treffen, denn in der Sowjetunion waren die Beziehungen zu den Deutschen auch noch lange Jahre nach dem Ende des Krieges äußerst schlecht. Damals konnte man häufig die an Umsiedler gerichteten, abfälligen Worte „Deutsche", "Faschisten", "Verräter" hören. Die Kinder spielten „Krieg“, und natürlich stand die Gestalt des Feindes fest – es waren die „Fritzen“, wie man die deutschen in der damaligen Zeit häufig nannte. Meine Großeltern heirateten trotzdem, meine Mutter und ihr Bruder wurden geboren. Meine Mama bekam später mich und meine Schwester.
Der Faschismus kennt keine Nationalität. Niemals darf man nur einen Deutschen aufgrund seiner Nationalität als Faschist bezeichnen. Die Kriegsgeschichte weiß, wie bestialisch sie auf dem Territorium der Ukraine und Weißrusslands wüteten, wie Nationalisten und Banderow-Anhänger den deutschen Faschisten halfen. Ich bin der Ansicht, dass ein humanes Herangehen an die nationalen Probleme der einzige Ausweg aus dem geschlossenen Kreis der Feindseligkeit ist. Je mehr ich über Rechte und Freiheit der Person, unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit nachdenke, so finde ich, dass dies auch die wichtigste Bedingung für die Freiheit eines jeden Volkes ist.
Während ich mich mit meiner Forschungsarbeit beschäftigte, interessierte ich mich auch dafür, was in unserer Familie von den Deutschen noch übriggeblieben ist, und was wir von der russischen Kultur übernommen haben.
Es stellte sich heraus, dass zahlreiche Rezepte aus der deutschen Küche in
meiner Familie bis heute erhalten geblieben sind. So stellt Mama beispielsweise
einen sehr leckeren Kuchen her (Teig, Beeren und eine besondere Schicht aus
Streuseln). Den mögen wir am allerliebsten essen. Ganz zu schweigen von Strudel
und Spätzle (Papa streitet darüber, weil er meint, es sei ein russisches Gericht).
Heute hat sich alles schon so vermischt, dass es manchmal schwierig ist genau zu
definieren, was wir von den Russen oder von anderen Völkern übernommen haben.
Schlussbemerkung
Viele Schicksale der Deutschen ähneln einander, trotzdem aber ist jede dieser Geschichten einzigartig - Ähnlichkeiten in den Schicksalsherausforderungen, die das Land ihn bescherte. Und eben das totalitäre System des Staates, welches hinter der objektiven Wirklichkeit des Krieges das schwere, tragische Schicksal seines Volkes nicht merken wollte. Im vorliegenden Fall der Russland-Deutschen, wie übrigens auch anderer Nationalitäten, die in die Maschinerie der Repressionen gerieten. Alle Deutschen berichten von beinahe den gleichen Momenten in ihrer Biographie: gewaltsame Aussiedlung, Trudarmee, die feindliche Gesinnung der Ortsbewohner, die bereits im Vorwege von den örtlichen Behörden darauf vorbereitet worden waren, und später dann das einsetzende „Tauwetter“, bei dem die Beziehungen zwischen Russen und Deutschen sich erwärmten. Sich heute erinnernd, sagt die russische Bevölkerung, wie diese unglücklichen Menschen arbeiteten, ohne auch nur einen Augenblick die Hände in den Schoß zu legen. Auch Nachtschichten nahmen sie an und suchten sich keine leichten Arbeiten. Anders ging es einfach nicht. Schließlich mussten sie, die Deutschen, sich gegenüber Russland von ihrer Schuld wegen ganz Deutschland, wegen der deutschen Faschisten, loskaufen.
Die Beeinträchtigung der nationalen Gefühle verstärkt nicht nur die Spannungen in den Gebieten, in denen Menschen Seite an Seite leben, die in anderen Sprachen sprechen, führt nicht nur zu Flüchtlingsbewegungen. Es kann auch eine ganz andere Situation daraus entstehen – Hass gegenüber denen, die das Leid am Volk verursacht haben.
Nur eine weise nationale Politik des russischen Staates kann die Schwierigkeiten dieses Problems bewältigen, d.h. eine respektvolle Haltung gegenüber den nationalen Interessen schafft die Möglichkeit zur Entwicklung eines ergebenen Staatsbürgers, der auf seine Heimat stolz sein wird – auf Russland, das einen würdigen Platz unter anderen Staaten und Völkern der heutigen Welt einnimmt.
Während ich die Vorbereitungen für diese Arbeit traf, starb im Herbst mein Großvater. Das war ein schwerer Schlag für unsere Familie. Aber ich bin froh, dass es mir noch gelungen ist mit ihm zu reden, vieles zu erfahren; und später werde ich meinen eigenen Nachfahren diese wertvollen Informationen weitergeben. Ich möchte meine Nachforschungen zum vorliegenden Thema gern fortsetzen, die Kenntnisse des heimatkundlichen Materials ausweiten und die Erinnerungen der noch lebenden alten Ortsbewohner über diesen Zeitraum der Geschichte festhalten. Es wäre schön zu sehen, wenn meine Arbeit ein kleines Fünkchen zum Studium dieser Seite der Geschichte beitragen könnte.
1. Bruhl, W.I. Die Deutschen in West-Sibirien. Toptschicha, 1995. – 224 S.
2. Wolter, G.A. Die Zone der totalen Ruhe. Moskau. «Incan» 1991.
3. German À.À. Die Geschichte der Republik der Wolgadeutschen. In Ereignissen,
Fakten, Dokumenten. Ì.: Gotika, 2000. – 320 S.
4. German À.À. Die Geschichte der Republik der Wolgadeutschen. Lehrbuch. ÌSÍÊ –
Presse 2005.- 542 S.
5. Geschichts- und Sachkunde-Unterricht in der Schule. Ì. Schul-Presse ¹5 2002.
6. Material der Schulbibliothek der Ortschaft Tschistye Prudy, Balachtinsker
Bezirk
Anhang