Wasilij Dedkow, Balachtinsker Städtische Oberschule N° 1, Schüler der Klasse10 b.
Projektleiterin: N.G. Lopatina - Pädagogin für ergänzende Bildung
Balachta – 2006
Die Thematik bezüglich der im Herbst 1941 deportierten deutschen Bevölkerung aus dem Wolgabebiet in die entfernten Gebiete Sibiriens, des Altai und Kasachstans lag lange Zeit im Dunkeln; erst in den 1990er Jahren tauchten erste Publikationen darüber auf. Inzwischen sind leider schon die meisten Vertreter dieser alten Generation, die von der Zwangsumsiedlung im reifen Alter heimgesucht wurden, aus dem Leben geschieden. Nun dürfen wir die Lebensgeschichte der Wolga-Deutschen, die ihre Heimat verloren haben, aufschreiben, indem wir uns die Erinnerungen der Kinder und Minderjährigen der damaligen Zeit zunutze machen, das heißt all jener, die in dem Zeitraum zwischen 1924 und 1935 geboren sind. Sie waren in der damals für alle Sowjet-Deutschen so schrecklichen Zeit zwischen 6 und 15 Jahre alt. Heute sind dies schon sehr betagte Leute, aber dennoch sind ihre Erinnerungen von damals nach wie vor klar und schmerzlich.
Im Balachtinsker Bezirk lebten bis 1990 etwa 2000 Deutsche, verstreut auf verschiedene Dörfer. Auf Grundlage der Erinnerungen von insgesamt elf Individuen aus diesem Personenkreis wurde unsere Forschungsarbeit erstellt.
Wenn man heute davon spricht, daß das deutsche Volk am 28. August 1941, nach dem Inkrafttreten des berühmt-berüchtigten Ukas über die Liquidierung der Deutschen Autonomen Republik, all seine Rechte verlor, so entspricht dies nicht der Wahrheit. Auch vor diesem Zeitpunkt waren die Deutschen, ebenso wie alle übrigen Volksgruppen des Landes, keineswegs frei. Bereits unmittelbar nach der Revolution litten alle Völker in fast gleicher Weise an ihren Auswirkungen. Und in der Deutschen Autonomen Republik fanden sie Klassenfeinde, zerstörten Kirchen und führten die Zwangskollektivierung durch.
Hier die Erinnerungen von Frieda Johannesowna Brening an diese Ereignisse:
„In unserem Städtchen im Gebiet Saratow lebten nur <Deutsche. Ich ging bereits zur Schule, als Komsomolzen die Kirche zerstörten. Zuerst machten sie aus der ehemaligen Kirche eine Lagerhalle für Getreide, später wurde der Klub darin untergebracht. Ich kann mich noch an die Lehrerin erinnern; sie war ebenfalls Deutsche; sie führte unsere gesamte Klasse in die Kirche und organisierte dort Tanzveranstaltungen. Wenn ich es richtig verstehe, dann wollte sie uns damit zeigen, daß wir, wie sie sagte, nichts zu fürchten hatten; es gibt Gott nicht, und es ist von seiner Seite auch keine Strafe zu erwarten“.
Die Erinnerungen der Kinder an das Leben in den deutschen Siedlungen vor dem Kriege ist trotz allem voll von klaren, hellen Empfindungen, denn Kindern ist noch kein kritisches Verständnis gegenüber der Realität zueigen.
„Ich wurde 1929 in der kleinen deutschen Ortschaft Brumental (Blumenthal) geboren, - erzählte uns Irma Karlowna Butusowa (Schmidt). Die Familie war glücklich und lebte im Wohlstand. Ein Jahr später wurde der Vater, der in dem Rayon als Staatsanwalt tätig war, in die Rayons-Hauptstadt Seelmann versetzt. Wir lebten gut, ich besuchte die deutsche Schule, wo man Russisch nur in ganz bestimmten Unterrichtsstunden vernahm, vergnügte mich mit meinen Freundinnen, sang traditionelle Lieder. Was das Materielle angeht, so war unsere Familie gut gestellt – es fehlte an nichts. Es schien, als ob ein Segen von oben unsere Familie und die ganze, große, deutsche Siedlung umfangen hielt. Wir lebten ein zurückgezogenes Leben, unsere kleine, beengte Welt war fernab von der sich schnell verändernden russischen Wirklichkeit“.
Die Erinnerungen der Erwachsenen an die Vorkriegszeit sind nicht so ungetrübt, wie die der Kinder. Der Wohlstand der deutschen Familien war nicht von ungefähr gekommen, sondern vielmehr durch schwere Arbeit erreicht worden. Aber die Jahre vor dem Krieg sind allen wegen ihrer reichen Ernten im Gedächtnis geblieben. Emma Christianowna Weber berichtete uns, daß sie damals drei Jahre in Folge nie zuvor dagewesene Erträge beim Weizen zu verzeichnen hatten. Die Tagesarbeitseinheiten brachten damals so viel ein, daß es zum Schluß keinen freien Platz mehr gab, wo man das Korn hätte hinschütten können – alle geeigneten Lagerräume waren bereits bis unter das Dach gefüllt. Damals trugen sie dann die Getreidesäcke nach Hause und schütteten die Körnchen auf dem Dachboden ihres Hauses aus.
Sie freuten sich auch über die gute Apfel- und Melonenernte.
Nur den Kindern kam es vor, als ob es am Himmel ihres Lebens keine Wolken gab. Die Erwachsenen jedoch arbeiteten viel und schwer, sorgten auf diese Weise für das Wohlergehen der Familie und nahmen mit großem Kummer die Nachricht vom Krieg genen Deutschland auf, aber niemand erwartete die künftige Abrechnung und Bestrafung, die über dieses Volk hereinbrechen sollte.
Es gibt viele Erinnerungen an die Deportation, wir haben sie alle zusammengetragen. Nachfolgend einige Eindrücke von Kindern.
Emilia Friedrichowna Dorsch (Fritzler), die 1941 zwölf Hajre alt war, berichtete:
„Am Morgen des 5. September 1941 wurden wir, die ehemaligen Bewohner der Ortschaft Lugowoje im Gebiet Saratow von NKWD-Mitarbeitern geweckt. Man teilte uns mit, daß wir binnen einer Stunde die allernötigsten Sachen zusammenpacken sollten. Wohin sie uns bringen und warum – das erklärten sie uns nicht. Nachdem wir ein paar Lebensmittel eingepackt hatten, traten wir auf die Straße hinaus, wo wir sogleich von Soldaten mit Maschinengewehren umringt wurden, die uns zur Bahnstation geleiteten. Einige fuhren auf Leiterwagen, die von Pferden oder Ochsen gezogen wurden. Es kam uns vor, als wäre es ein endlos langer Treck. Die Männer gingen mit gesenkten Köpfen, die Frauen und Kinder weinten“.
Aleksander Fedorowitsch Fritzler erinnert sich:
„Am 5. September legten wir uns abends friedlich schlafen, und am nächsten Tag wurde die ganze Familie geweckt, und man befahl ihr sich zur Abfahrt bereit zu machen. Wir packten nur das Allernötigste ein – vor allem Lebensmittel; was konnte man sonst schon groß mitnehmen, wenn vier oder fünf Familien zusammen mit Eßwaren und ein paar Kleidungsstücken auf einem einzigen Leiterwagen untergebracht wurden. Und die kleinen Kinder, die noch nicht laufen konnten, setzte man ebenfalls darauf.
Alles, was sich in den Häusern befand, mußten sie zurücklassen, auch das Vieh, obwohl einige es noch rechtzeitig abgeben konnten; abe rim allgemeinen mußten sie alles im Stich lassen. An der Bahnstation luden sie uns auf Güterwaggons: kleinere – die für 50 Personen gedacht waren, und vierachsige für 100 Leute und mehr. Die Transporte wurden von NKWD-Mitarbeitern begleitet. Nach dem, wie sie mit uns umgingen, begriffen wir, daß wir Volksfeinde waren. Aber weswegen? Schließlich waren wir doch genau wie alle anderen gegen den Faschismus. Alle 2-3 Tage gaben sie uns etwas zu essen. Und so ging es, ohne warmes Essen und ohne Trinkwasser, 12 Tage lang. Anhand der Ortsnamen, die an den Bahnhöfen angebracht waren, errieten wir die Richtung, in die unser Zug fuhr. Als wir durch Nowosibirsk kamen, war allen klar, daß uns der Weg nach Krasnojarsk führte. Alle fürchteten sich davor: erstens – das rauhe Klima, zweitens – war es Herbst, und alle hatten bereits begriffen, daß niemand für uns dort Häuser gebaut hatte. Sie waren auf alles vorbereitet.
Irgendeiner der älteren Leute hatte ein Stückchen Glas von zu Hause mitgenommn: falls man Erdhöhlen graben mußte, würde man so wenigstens ein Fenster haben, um das Tageslicht hereinzulassen“.
Aus den Erinnerungen von Irma Karlowna Butusowa (Schmidet):
„Mama erfuhr von den Deportationen durch den Vater. Am Morgen, noch im Halbschlaf, höre ich wie Mama am Telefon spricht und weint. Ich verstand damals von alldem noch nichts und machte mich gegen 10 Uhr auf den Weg zur Schule – der erste Schultag. Als Papa von der Arbeit zurückkam, sagte er, daß die Schule geschlossen wäre, aber ich ging trotzdem hin. Ich komme dort an – und niemand ist da; die Türen sind verriegelt. Ich bekam schreckliche Angst und fing an zu weinen. Bis nach Saratow brachten sie uns mit einem Dampfer, und weiter ging es dann in beheizten Eisenbahnwaggons. In jedem Waggon befand sich ein leitender NKWD-Mitarbeiter, es herrschte eine eiserne Disziplin, aber sie gaben uns gut zu essen. An der Station Schira hieß man unsere Familie und noch ein weiteres junges Paar aussteigen“.
Irma Karlowna Simkina (Ganz) berichtet:
„Sechs Jahre war ich damals alt, als man unsere Familie aus der Siedlung Wiesenmiller, Gebiet Saratow, nach Sibirien verschleppte. Ich weiß noch, wie im August 1941 irgend so ein Onkelchen zu unserem Haus kam und den Befehl erteilte, wir sollten uns fertig machen. Wohin und weshalb – das wußte niemand. Die Eltern waren fassungslos, und überall im Dorf hörte man nur Weinen und Schreien. So wie wir waren wurden wir auf Pferdefuhrwerke verladen. Wir, die Kinder, rannten hinterher, nachdem wir uns zuvor mit Äpfeln und Wassermelonen gestärkt hatten. Dann lieferten sie uns an der Bahnstation ab, verfrachteten uns wie Vieh in Güterwaggons und transportierten uns in unbekannte Richtung ab. Papa und Mama drückten ihre vier Kinder an sich und weinten. Der älteste war zehn, ich sechs, die Schwester vier und der jüngste Bruder gerade zwei Jahre alt. Im September war es bereits kalt. Es kam uns so vor, als ob wir, die Hungernden und Frierenden eine Ewigkeit unterwegs waren. Aber das Schlimmste war, daß niemand Russisch konnte“.
Emilia Iwanowna Schmidt erinnert sich:
„Viele hatten nicht einmal mehr Wäsche zum Wechseln mitnehmen können; sie fuhren in den Sachen, die sie gerade auf dem Leib trugen. – Oft hielt der Zug auf Auslaufgleisen, und wir mußten dort mehrere Tage und Nächte ausharren. Wir bekamen nichts zu essen, es gab nicht genügend Wasser. Die Waggons waren erfüllt von Stöhnen und Weinen. Es waren hauptsächlich Frauen und Kinder, die weinten. Die Männer schwiegen und bissen in ihrer Machtlosigkeit die Zähne zusammen. Die unterwegs Verstorbenen wurden einfach hinaus auf die Gleise geworfen“.
Heinrich Heinrichowitsch Schmidt vertraute uns eine Geschichte an, die er von den Eltern vernahm:
„Ich wurde eine Woche nach Beginn des Großen Vaterländischen Krieges geboren, und im August desselben Jahres, als ich gerade erst einen halben Monat alt war, siedelten sie die Wolga_Deutschen, basierend auf der berühmt-berüchtigten Verordnung des Präsidiums des Obersten Sowjets, ins tiefste Hinterland um - nach Sibirien, Kasachstan, Mittel-Asien. Das war für alle eine große Tragödie, auch für meine Eltern. Mutter war so erschüttert, daß sein mich schon in die Wolga werfen wollte, damit wenigstens ich in heimatlichen Gefilden bleiben konnte. Aber natürlich tat sie es dann doch nicht“.
Um die am Leben Gebliebenen von Krasnojarsk in den Balachtinsker Bezirk zu schaffen, trieben Wachmannschaften sie zur Anlegestelle und luden ihre Fracht auf Lastkähne, die bis nach Daurska fuhren.
Aleksander Fedorowitsch Fritzler fährt mit dem Bericht fort:
„An der Anlegestellte erwarteten uns Vertreter der Kolchosen und Sowchosen, die für sich Arbeiter auswählten und in die verschiedenen Dörfer brachten. Und so kam unsere Familie nach Malye Syry. Man brachte uns in der Wohnung zweier alter Leute unter. Man kann sich vorstellen, wie man sich uns gegenüber in der ersten Zeit verhielt. Allein das Wort „Deutsche“ flößte den Ortsbewohnern großen Schrecken ein, und dann auch noch Verschleppte! Das bedeutete, daß sie zudem auch Faschisten waren.. Die Kolchose war arm, man unterstützte uns – mit einen Laib Brot und einer Flasche Kerosin“.
Emilia Friedrichowna Dorsch (Fritzler) fährt mit den Erinnerungen über die Ankunft ihrer Familie in Balachta fort:
„Wir kamen nachts dort an. Als wir unseren neuen Wohnort genauer in Augenschein nahmen, da fingen wir vor lauter Verzweiflung an zu weinen. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen, wie wir hier leben sollten. Ein großes Problem stellte die Sprachbarriere dar: wir sprachen schlecht Russisch. Aleksander Friedrichowitsch, mein älterer Bruder, half uns aus der Not. Zu jener Zeit hatte er bereits die 7. Klasse hinter sich gebracht und konnte bei der Balachtinsker Dorfkonsumgenossenschaft, von der er auch eine Wohnung gestellt bekam, Arbeit finden. In Balachta ließen wir uns dann auch nieder.
Ich war 12 Jahre alt, als ich anfing als Hausangestellte zu arbeiten, um den Lebensunterhalt mit zu verdienen. Nachdem ich etwa drei Jahre gearbeitet hatte, so lange, bis die Familie einigermaßen auf den Füßen stand, verließ ich diese Arbeitsstelle und kehrte zu meinen Verwandten zurück. Man benahm sich uns, den Umsiedlern, gegenüber wie zu Vieh und nannte uns noch lange „die Fritze“. Besonders schwer war es für die Kinder dies zu verstehen.
Aus dem Bericht der Irma Karlowna Butusowa (Schmidt):
„Als wir an der Station auf den Bahnsteig hinaustraten, stand dort eine Unmenge Menschen. Sie waren alle zusammengekommen, um sich echte Deutsche anzusehen. Viele wunderten sich: „Schau mal, an denen ist gar nichts Besonderes – die sind ja genau wie wir, - ertönten die enttäuschten Stimmen. Die Sibirer hatten schreckliche, gehörnte Ungeheuer erwartet, so wie die sowjetische Propaganda sie dargestellt hatte. Die Umsiedler wurden auf Leiterwagen verfrachtet und in das Dorf Tschebaki gebracht. Es fiel mir schwer, mich an die russische Sprache zu gewöhnen, ich hatte Schwierigkeiten mit dem Lernen in der Schule, aber ich besuchte beharrlich weiter den Unterricht und eignete mir schließlich nach und nach die fremde Sprache an. Man muß auch die Freundlichkeit der einfachen Sibirjaken anmerken. Nicht ein einziges Mal vernahm ich von den Ortsbewohnern das Wort „Faschist“ oder andere Beleidigungen. Wir lebten einträchtig miteinander: das allgemeine Elend, das über dem Land schwebte, schweißte alle fest zusammen“.
Nachfolgend die Erinnerungen einstiger deutscher Minderjähriger und heute bereits betagter Leute, denen wir in den Dörfern des Balachtinsker Bezirks zumeist ohne jegliche Verbitterung und sogar mit Mitleid begegneten:
Die Familie Trott, der kleine Sascha, zwei seiner Schwesterchen und ihre Mama gerieten nach Wilenka:
„Hier wurden wir vorübergehend beim Dorf-Imker I.P. Pliskowskij untergebracht. Sie benahmen sich uns gegenüber ganz gut: sie überließen uns als Behausung ihrer „gute Stube“, gaben uns Essen und Trinken. Der Hausherr fuhr häufig mit seinen Söhnen zum Bienenstock und nach dann auch mich mit. Wladimir Bachar war damals Vorsitzender der Kolchosfarm. Er zeigte für alle Neuankömmlinge Verständnis, half mit Kohle aus, teilte ihnen kleine Landparzellen zu“.
Die deutschen Familien auf dem Territorium des Balachtinsker Bezirks hatten ein sehr schweres Dasein. Die Familie bestanden in ihrer Mehrzahl aus Müttern mit mehreren Kindern (die Väter befanden sich zu der Zeit in der Arbeitsarmee, genauso wie alle Minderjährigen über 14 Jahre). In der Bezirkshauptstadt wurde in den Kriegsjahren vom Industrie-Kombinat das Trocknen oder Dörren von Kartoffeln organisiert, die dann an die Front geschickt wurden. In den Abendstunden kamen die deutschen Frauen, halfen beim Kartoffelschälen und brachten ihre Kinder mit. Am Ende der Arbeitsschicht wurden die Arbeiter mit gekochten Kartoffeln verpflegt, und die Mütter hofften, daß man auch ihren Kindern etwas zuteilen würde. Uns so war es gewöhnlich auch, das heißt man hatte großes Mitgefühl mit den verbannten Deutschen.
Aber es gab auch ander Verhaltensweisen, von denen wir durch Irma Karlowna Ganz erfuhren:
„Wir gelangten in die Region Krasnojarsk, den Balachtinsker Bezirk, wo wir in eine Kolchose kamen, die sich heute auf dem Gebiet von Grusenka befindet. Noch heute habe ich schreckliche Angst, wenn ich daran denke, was wir alles durchgestanden haben, was die Mama alles auf sich nehmen mußte! Denn im Dezember 1941 holten sie Papa in die Arbeitsarmee. An Mamas Rockzipfel blieben alle Kinder und die Großmutter hängen. Und 1942 wurde in Grusenka noch ein weiteres Mädchen geboren. Man brachte uns in irgendeinem kalten Häuschen unter. Mutter gab mir und der Schwester ein Leinentäschchen, mit dem wir losgingen und um Almosen bettelten
Einige Leute gaben uns gutmütig Brot und Kartoffeln, andere jagten uns fort, beschimpften uns als Faschisten.
Dann starben das dreijährige Brüderchen und das einjährige Schwesterchen. Vor lauter Hunger. Man begrub sie ohne Sarg auf dem Friedhof von Grusenka. Nach Mamas Erzählungen lebten wir vier Jahr in Grusenka. Dann zogen wir in das Dorf Kamenka um, das heute schon nicht mehr existiert. Mama ging nachts als Viehwärterin, tagsüber suchte sie verschiedene andere Arbeitsstätten auf. Meine Schwester und ich wischten im Kontor und in der Schule die Fußböden, der Bruder war Hilfsarbeiter. Nachts suchte Mama die Stätte auf, an der das Vieh begraben wurde; dann brachte sie das Fleisch verendeter Kühe und Pferde mit. Das gab sie uns zu essen, damit wir bloß nicht verhungerten. Tief eingeprägt hat sich in unsere kindliches Gedächtnis ein besonders schrecklicher Vorfall. Ich kann mich noch heute genau daran erinnern und muß dann weinen. Mama wurde schwerkrank, sie hatte hohes Fieber. Der Verwalter, Dmitrij Andrejewitsch Ustinow, ließ Mama zu sich ins Kontor rufen. Sie erklärte, daß sie heute nicht arbeiten könnte. Aber der Verwalter schlug sie mit der Peitsche. Als sie Mama nach Hause brachten, war sie ganz voll Blut; einen ganzen Monat lang lag sie im Bett. Wir saßen um sie herum und weinten. Mit wem sollte man darüber auch schon reden? Sei still und weine“.
Heute läßt es sich schwer erklären, was der Anlaß für diese unmenschliche Strafe war , aber es freut einen, daß es in den Erinnerungen der Deutschen, die im Balachtinsker Bezirk gelebt haben, solche unheimlichen Geschichten nicht mehr gibt. Im Gegenteil, viele die während des Krieges Kinder under Minderjährige waren, haben andere Erinnerungen.
Heinrich Heinrichowitsch Schmidt:
„Ich möchte sogleich anmerken, wovon die Eltern auch sehr viel erzählt haben, daß es von Seiten der ortsansässigen Bevölkerung keinerlei Diskriminierungen uns gegenüber gab. In der ersten Zeit halfen die siberischen Ureinwohner den Neuankömmlingen bei der Suche nach einer Bleibe, waren mit warmer Kleidung und Essen behilflich. Und dann war ich auch schon herangewachsen, lief mit der ganzen Horde Dorfkinder durch die Gegend, und niemandem kam es damals in den Sinn zu fragen, wer welcher Nationalität angehörte. Alle arbeiteten und feierten gemeinsam, Kummer und Freude wurden miteinander geteilt“.
Aber man kann auch nicht unbedingt sagen, daß die Leute sich den deportierten Deutschen gegenüber sehr freundschaftlich verhielten. Die Erklärung dafür ist ganz einfach: das Land befand sich im Kriegszustand mit den Vertretern eben jener Nationalität, und im Dorf trafen bereits die ersten Todesnachrichten von gefallenen Soldaten ein. Außerdem hatte dass nicht besonders gut und sehr einfach lebende sibirische Kolchosdorf auch so schon nicht genug zu essen und bekam nun auch noch Bevölkerungszuwachs – die Menschen mußten irgendwo untergebracht und wenigstens in der allerersten Zeit von irgendetwas ernährt werden.
Friedrich Friedrichowitsch Wamboldt erinenrt sich:
„Als man die deutschen Familie nach Trjasutschaja brachte, da kamen alle Dorfbewohner aus ihren Häusern, um zu sehen, wie wir aussahen. Man konnte auch folgende Worte hören: „Na, sowas! Ihr seht ja genau so aus wie wir, tragt auch Hosen und Hemden. Und wir dachten schon – daß an euch Wolle und Hörner wachsen!
In die Schule gehen ließen sie uns nicht; sie hänselten und beleidigten uns. Von überall hörte man nur: „Fritze! Fritze!
Wir besaßen nicht das Recht, das Dorf zu verlassen, und mußten uns einmal monatlich bei der Kommandantur melden – bis 1956. In den ersten drei Jahren teilte man uns noch nicht einmal ein Stückchen Land zu. Wir tauschten unsere Kleidung gegen Eßbares und gingen selbst in Sachen aus Sackleinwand. Um uns irgendwie zu ernähren, sammelten wir auf dem Feld die Ähren auf, die nach der Getreideernte zurückgeblieben waren“.
Im Hinblick auf die Behausung hatten es alle besonders schwer.
Die Familie Foos und acht weitere Familienwurden im Dorf Trjasutscha im Gebäude der ehemaligen Bäckerei untergebracht. Es ist wirklich schwierig sich das heute vorzustellen, aber es war tatsächlich so.
Die deutschen Familien waren sehr kinderreich. Nachfolgend einige Familien und ihre Mitglieder, die zur Ansiedlung in das Dorf Trjasutschaja gerieten:
Familie Foos: Heinrich Heinrichowitsch, Maria Karlowna, ihre Kinder – Maria, Irma, Amalia, Mina, Andrej, Katerina und Emma.
Familie Wamboldt: Friedrich Friedrichowitsch, Maria Christoforowna, ihre Kinder – Maria, Friedrich, Irma und Wolodja.
Familie Fritzler: Katerina Petrowna und ihre Kinder – Emilia, Aleksander, August und Maria.
Die Familienväter und alle Minderjährigen über 14 Jahre wurden bald darauf in die Arbeitsarmee geholt, die Mütter blieben mit den kleinen Kindern zurück. Um überhaupt überleben zu können, mußten die Kinder schon früh mit zur Arbeit herangezogen werden. Von Schule und Lernen war da natürlich keine Rede.
Irma Friedrichowna Schmidt erinenrt sich:
„Als ich neun Jahre alt war, kam ich, zusammen mit meine Eltern und Geschwistern, in die Siedlung Ugolny im Balachtinsker Bezirk. Wir wurden in einem großen Haus untergebracht, wo bereits einige ebensolcher repressierter Familien wie wir wohnten. Die erste Klasse besuchte ich nur wenige Monate: mit Einsetzen der kalten Jahreszeit konnte ich den Schulbesuch vergessen – es fehlte an warmer Kleidung. Ich weiß nicht, wie wir überlebten, denn es herrschte schreckliche Hunger; manchmal mußten wir sogar Zieselmäuse fangen, um etwas zu essen zu haben. Einmal mußten mein Bruder und ich ins Nachbardorf gehen, um Mamas alten Rock gegen Kartoffeln einzutauschen. Es herrschte grimmiger Frost; fast wären wir unterwegs umgekommen; wie durch ein Wunder blieben wir am Leben“.
Mit 12 Jahren begann Irma der Mutter beim Kühemelken auf der Farm zu helfen, mit 16 wurde sie gleichberechtigte Melkerin – die ganze Kuhherde hatte Vertrauen zu ihr.
Es ist nicht verwunderlich, daß wir jetzt, da wir uns mit den betagten Deutschen, die im Balachtinsker Bezirk und in Balachta wohnen, unterhalten, zu hören bekommen, daß sie Analphabeten sind und nicht mehr, als die Buchstaben ihres Nachnamens kennen, damit sie wenigstens Unterschriften leisten können, daß sie weder lesen noch schreiben können. Ihre Kinder- und Jugendzeit war vergiftet von Erniedrigungen, Kränkungen, Hunger, all ihre Kräfte übersteigender Arbeit, dem Verlust von Verwandten, der Trennung (oft für immer) vom Vater und den älteren Geschwistern sowie dem Fehlen vonSchul- und Ausbildungdmöglichkeiten. Aber der Beitrag, den diese ehemaligen Kinder und Minderjährigen vergangener Kriegstage für die wirtschaftliche Entwicklung der Region, beginnend mit den 1940er, bis hin zu den 1990er Jahren, geleistet haben, ist gewaltig.
Leider können wir unseren Bericht nicht mit Hilfe von Fotos illustrieren. Auf den ersten Seiten unserer Arbeit wird erwähnt, daß die Menschen aus ihren Häusern vertrieben wurden, ohne daß man ihnen Zeit zum Zusammenpacken von Dokumenten und Fotos gab.
Alle Bilder, die unsere Gesprächspartner heute in ihrem besitz haben, stammen bereits aus der Gegenwart.