Heimatkundliche Forschungsarbeit
Nominiert für das Projekt: „Die Unseren – die Fremden: eine andere Nationalität, eine andere Religion, andere Überzeugungen“
Wettbewerbsteilnehmerin:
Linda Demina
662921, Region Krasnojarsk
Bezirk Kuragino, Dorf Kotschergino
Städtische Bildungseinrichtung – Allgemeinbildende Mittelschule N° 19,
Kotschergino
9. Klasse
Projektleitung der Forschungsarbeit:
Walentina Nikolajewna Nowoselzewa
Lehrerin für Russisch und Literatur
Städtische Bildungseinrichtung – Allgemeinbildende Mittelschule N° 19,
Kotschergino
Kotschergino
2008
Einführung
Kapitel I. Die Geschichte der Deutschen in Rußland, dem Wolgagebiet, Sibirien
und dem Dorf Kotschergino
1. Die Geschichte der Deutschen in Rußland und dem Wolgagebiet
2. Die Ansiedlung der Wolgadeutschen in Sibirien
3. Die Geschichte der Wolgadeutschen auf Kuraginsker Boden, im Dorf Kotschergino
Kapitel II. Kulturelle Traditionen, Sitten und Gebräuche der im Siedlungsgebiet
lebenden Deutschen
1. Hochzeitsbrauch
2. Weihnachten – eines der bedeutendsten Feste im Jahr
3. Das wichtigste Frühlingsfest – Ostern
4. Pfingsten
Schlußbemerkung
„Die Geschichte der Vorfahren ist immer für denjenigen interessant,
der Wert darauf legt. ein Vaterland zu besitzen“.
N.M. Karamsin
Unser heutiges Leben verläuft äußerst hektisch. Die meisten Leute arbeiten viel, um auf der Karriereleiter voranzukommen und genügend Geld für ein würdiges Leben zu verdienen. Es bleibt keine Zeit für Zusammenkünfte und rege Kontakte mit Verwandten und anderen nahestehenden Menschen. Sogar Briefe werden in der heutigen Zeit kaum noch geschrieben, man ruft sich an oder schickt e-mails. Bei einem derartigen Lebenstempo vergessen die Menschen leider, wo ihre Wurzeln liegen und denken über ihren Stammbaum überhaupt nicht nach. Ein Mensch, der seine Wurzeln, die Geschichte seiner Vorfahren und die kleine Heimat nicht kennt, kann sein Volk, seine Heimat nicht wirklich lieben. Zusammensetzung, Ursprung, Ansiedlung, kulturhistorische Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Völkern, materielle und geistige Kultur, Besonderheiten des Alltags – all das lehrt uns die Wissenschaft der Ethnographie. Und je weiter die Zeit voranschreitet, um so aktueller wird das Thema der Erforschung der historischen Wurzeln meiner Landsleute. Wir müssen uns beeilen mit all denen zu sprechen, die noch alles mit ihren „Kinderaugen“ gesehen haben, so lange es noch nicht zu spät ist, alle zu befragen, die über das, was sie gesehen und empfunden haben, noch berichten können.
Das Dorf Kotschergino – ist ein altertümliches Dörfchen, das laut mündlicher Überlieferung einst von Fürst Kotscherga am Ufer des Tuba gegründet wurde. Es stellt eine der Verwaltungseinheiten auf dem Territorium des Bezirks Kuragino dar. Im Dorf wohnen etwas mehr als tausend Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, 87 von ihnen sind mit dem Vermerk „deutscher Nationalität“ gemeldet.
Auf verschiedenen Wegen und aus ganz unterschiedlichen Gründen kamen die Menschen in unser Dorf. In mir fließt deutsches Blut (meine Großmutter ist Deutsche), und deswegen begann ich auch mich dafür zu interessieren, die Deutschen ins entfernte Sibirien, insbesondere in mein Dorf, gelangten, und aus welchen Beweggründen sie sich überhaupt nach Rußland aufgemacht hatten.
Ziel meiner Arbeit ist die Erforschung des ersten Erscheinens von Deutschen in Rußland, dem Wolgagebiet, Sibirien und dem Dorf Kotschergino.
Im Verlauf der Arbeit habe ich versucht, folgende Aufgaben zu lösen:
1) Studium der Geschichte der Deutschen in Rußland und dem Wolgagebiet;
2) Herausfinden der Gründe und des Zeitpunktes für das Auftauchen der Deutschen
in Kotschergino;
3) Erforschung der kulturellen Traditionen und Sitten der im Dorf Kotschergino
lebenden Deutschen, die bis heute erhalten geblieben sind.
Für die Erforschung der Fakten wurden folgende Methoden verwendet: Analyse
literarischer Quellen, Durchsicht von Archivmaterial, u. a. auch von alten
Gegenständen und Reliquien der von uns befragten Dorfbewohner deutscher
nationalität.
Diese Forschungsarbeit widme ich meinen Verwandten und Landsleuten deutschen
Ursprungs.
Kapitel I. Die Geschichte der Deutschen in Rußland, dem Wolgagebiet, Sibirien und dem Dorf Kotschergino
Zu Beginn meiner Arbeit versuchte ich herauszufinden, wie die ersten Deutschen nach Rußland kamen. Ich begann meine Suche mit dem Durchforsten literarischer Quellen zu diesem Thema. Nachdem ich Alfred Rambos Buch „Die ausdrucksvolle Geschichte des antiken und neuen Rußlands“ sowie W.O. Kljutschewskijs „Über die russische Geschichte“ durchgelesen hatte, konnte ich die Frage nach dem Datum und den Gründen des Auftauchens von Deutschen in Rußland beantworten.
In Rambos Buch steht, daß „Iwan der Schreckliche, ähnlich Peter dem Großen, das Tor zu Europa öffnen wollte und neidisch auf die Häfen von Narva, Reval und Riga schaute, die unter der Macht des Livländer Ordens standen. Ungefähr 1547 schickte Iwan den Sachsen Schlitte mit dem Auftrag los, Ingenieure und Meister nach Rußland einzuladen. Der wählte dafür etwa hundert Mann aus. Aber damit war die Eifersucht auf die Deutschen geweckt. Man fürchtete, daß Rußland, wenn es erst einmal zivilisiert war, kein machtvolles Land werden könnte. Der Livländer Orden bat Kaiser Karl V um die Erlaubnis, diese Fremden behalten zu dürfen, und alle von ihnen erreichten Moskau. Iwan der Schreckliche rief die Ausländer nach Rußland, und sie kamen... Er erlaubte dem Dorpater Geistlichen Wettermann in Moskau zu predigen, hörte selbst die Predigten Eberfelds und gestattete, zwei Kilometer von Moskau entfernt, den Bau einer calvinistischen und einer lutherischen Kirche“ [S. 156].
Das Rußland des XVI und XVII Jahrhunderts stellt sich uns als Oststaat dar, der keinerlei Beziehungen zu Europa besaß. Livländische Ritter, Polen, Schweden und Dänen begriffen, daß nur die Barbarei Rußlands das Land auf die niedrigste Stufe unter den schwächsten Nachbarn gestellt hatte, die eifersüchtig aufpaßten, daß aus dem Westen nur keine Menschen, Waffen und Wissenschaften das Land durchdrangen. „Indessen begann Rußland ein europäisches Staat zu werden“. Während der Regierungsziel des Zaren Michael erlangte der Westen bedeutenden Einfluß. In Moskau gab es mehr Ausländer, als irgendwoanders. Der Holländer Winius gründete in Tula eine Fabrik, in der Kanonen, Kugeln und andere gegenstände aus Eisen gegossen wurden. Der Deutsche Marselein gründete ebensolche Fabriken an der Wolga, in Kostroma und Scheksna. Die ausländischen Händler erhielten Privilegien unter der Bedingung, daß sie vor den Russen keines ihrer eigentlichen Produktgeheimnisse verbargen. Man kann sich denken, daß dies der Beginn des Auftauchens der ersten Deutschen im Wolgagebiet war“ [8, S. 207].
In der Regierungszeit des Zaren Aleksej Michailowitsch (1676-1682) festigte sich der europäische Einfluß noch. Besonders bevölkerte sich Rußland damals mit Soldaten, die man aus dem Ausland geholt hatte, damit sie das Kommando über die russischen Regimenter fremdländischer Formation übernahmen: ... ein paar Generäle, bis zu hundert Oberste und eine ungeheure Anzahl Offiziere. 1684 zeigte der ausländische Meister Sommer Peter I die erste Schießerei mit Granaten, was später zu seinem Lieblingsvergnügen wurde“ [8, S.253].
Während der Herrschaft Peters I nahm die Zahl der Ausländer zu, denn die Reformen, die er nun durchführte, waren bereits durch Alekej Michailowitschs Neuerungen vorbereitet worden. Peter übernahm alles von den Ausländern, wobei er nicht immer für eine kritische Bewertung Zeit hatte. Umgeben von Holländern, Engländern, Schotten, Schweizern und Deutschen übernahm er von ihnen Industrien und Handwerk, befahl ausländische Bücher zu übersetzen, und alles, was er sagte, war durchsetzt von ausländischen Wörtern und Begriffen. Er trug sogar holländische oder deutsche Kleidung. Zu seinen Mitarbeitern gehörten auch der Genfer Lefort, der den Posten eines Generals innehatte, der Schotte Gordon, Anführer der Truppen, der Schotte Bruce, der die Artillerie organisierte und zudem die diplomatischen Beziehungen leitete; Osterman – ein geschickter Diplomat; Minich – gebürtig aus Oldenburg, ein hervorragender Ingenieur, der sich mit der Anlage und dem Bau des Ladoga-Kanals befaßte.
In der Zarenstadt Moskau waren die Ausländer verpflichtet, ausschließlich im priviligierten Deutschen Stadtteil zu wohnen, und in Petersburg, der Stadt der Imperatoren, leben Russen und Fremde unmittelbar nebeneinander und schließen miteinander Bekanntschaft.
Während der Regierungszeit der Imperatorin Anna Johannowna „befand sich die Herrschaft in den Händen der Deutschen“. Das Land wurde von Ernst Johann Biron (1590-1772), Anna Johannownas Favorit, und Andrej Iwanowitsch Osterman (Heinrich Johann Friedrich Ostermann; Anm. d. Übers.), 1686-1747 gelenkt. Letzterer war aus Deutschland zugewandert, ein wichtiger Mann des Staates und Diplomat, der seit 1703 in Rußland gelebt hatte. 1741 wurde Ostermann in die Stadt Beresow verbannt, als Elisabeta Petrowna den Thron bestieg, und Biron befand sich von 1740 bis 1761 in der Verbannung. Später erlaubte man ihm als Verbannter in der Stadt Jaroslawl zu leben. Darüber schreibt W.O. Kljutschewskoj in dem Buch „Über die russische Geschichte“ [5, S. 571].
Die planmäßige Ansiedlung von Deutschen verwirklichte sich während der Regierungszeit Katharinas II (1762-1796), Pawels I (1796-1801) und Aleksanders I (1801-1825).
In den riesigen Weiten Rußlands gab es eine Unmenge noch ungenutzter, fruchtbarer Ackerflächen. Um diese Flächen urbar zu machen, gab Katharina II am 22. Juli 1763 ein Manifest heraus, in dem ausländische Staatsbürger dazu eingeladen wurden, sich in Rußland anzusiedeln. Darin heißt es:
1. „Wir gestatten es allen Ausländern, in unser Imperium zu kommen, und sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, niederzulassen.
2. Wir gestatten allen Ausländern, die zur festen Ansiedlung in unser Imperium kommen, ungehinderte, freie Religionsausübung gemäß ihren Kirchensatzungen und Gebräuchen“.
3. „Keiner dieser zur Niederlassung in unserem Lande aus dem Ausland Eingetroffenen soll irgendwelche Abgaben entrichten, noch dazu gezwungen werden, gewöhnliche oder außerordentliche Dienste zu leisten“.
4. „Ausländer, die sich in Rußland niederlassen, sollen während der gesamten Zeit ihres Hierseins nicht wider ihren Willen zum Wehr- oder Zivildienst einberufen werden“. [4, S.4].
Und tatsächlich waren die Deutschen, die sich in den unbewohnten Gegenden niederließen, für die Dauer von 30 Jahren von Steuern befreit; in anderen Gegenden belief sich die Frist auf 10 Jahre. Grund und Boden wurde den Kolonisten als Eigentum „auf ewig“ überlassen, allerdings erbte für gewöhnlich der jüngste Sohn die Landanteile. Ohne ausdrückliches Einverständnis der Gemeindeverwaltung konnte also kein Land verkauft oder übertragen werden. Sie besaßen das Recht auf die Selbstverwaltung ihrer Gemeinden, unterstanden jedoch unmittelbar dem Thron. Die Kolonisten durften das Zarenimperium jederzeit verlassen, sie waren keine Leibeigenen, sondern freie Menschen. Und das zu derselben Zeit, als sie in ihrer Heimat Unterdrückung durch ausländische und eigene Herrscher, wirtschaftliche Not und Beschneidungen bei der Freiheit des Glaubensbekenntnisses erfuhren.
Das Manifest Aleksanders I vom 20. Februar 1804 hob besonders „Umsiedler, die als Musterbeispiel in der Bauernwirtschaft und im Handwerk dienen konnten“ hervor: „... gute Ackerbauern...“ [4, S. 5].
Pawel I legte als Allergnädigstes Privileg vom 6. September 1800 zusätzliche Rechte fest – „die Befreiung vom Militär- und Zivildienst für alle Zeit, die Befreiung von der Vereidigung vor Gericht und freie Ausübung des Handwerks“ [4, S. 5].
Diese Privilegien, die der Zar den im Elend und unter großen Entbehrung in
Hessen – das ist im Westen Deutschlands gelegen – lebenden Menschen versprach,
erwies sich als attraktiv. Von dort, aber auch aus Bayern, verlief die
Haupt-Umsiedlungswelle in den Jagren 1763/67.
Die Einwanderer gründeten Kolonien in der Umgebung von Samara sowie an der
Wolga. Die Besiedlung Rußlands durch deutsche bauern begann 1763 und zog sich
bis zum Jahr 1842 hin, und manche Kolonien legten ihren Grundstein noch bis
1862. Die schwierige Reise ging für die Umsiedler auf dem Landweg bis nach
Lübeck, und dann mit dem Schiff bis Petersburg. Bis nach Moskau ging es dann
erneut zufuß, anschließend auf der Wolga bis nach Saratow, wo auf unzugänglichem
Territorium die Grundsteine für 104 Siedlungen gelegt wurden. Zwischen 1763 und
1768 ließen sich im Wolgagebiet etwa 8000 Familien mit einer Gesamtzahl von
27000 Seelen nieder. Auf der Bergseite (rechtes Wolga-Ufer) entstanden 45
Kolonien, auf der Wiesenseite (linkes (Wolga-Ufer) 57. Also sind die
Wolga-Deutschen Ausgereiste aus Hessen, aber sie waren auch aus der Pfalz und
aus Württemberg gekommen.
Die Ansiedlung vollzog sich streng nach Glaubensbekenntnis – evangelisch oder
katholisch
(auf der Bergseite 31 / 14, auf der Wiesenseite 14 / 24). Der Kinderreichtum der
deutschen Familien war einer der Gründe für die weiträumige Ansiedlung der
Rußland-Deutschen. Bis 1918 zählten die Familien durchschnittlich 8 Kinder. Bei
allen Deutschen in Rußland entwickelte sich mit der Zeit ein ausgesprochen
deutliches Bewußtsein für ihre kleine Heimat.
Die Umsiedler waren bemüht, auch in ihrer neuen Heimat Deutsche zu bleiben (Anhang 1). Deswegen behielten sie von Anfang an ihre religiösen Bräuche bei, hüteten ihre Muttersprache, ihre Traditionen und gaben sie an die nachfolgenden Generationen. Die Kultur der Rußland-Deutschen in den ländlichen Gegenden wurde im wesentlichen von der Bauernschaft bestimmt.
Sie betrieb Ackerbau, wobei in erster Linie Weizen, Gerste, Hafer und Mais angesät wurde. In ökonomischer Hinsicht hatten die Siedler Schwierigkeiten, aber ihr Fleiß, der Kinderreichtum in ihren Familien, ihre Sparsamkeit und ihre bäuerlichen Fertigkeiten führten zu einer Verbesserung des Lebensstandards. Die Siedler führten ein aktives religiöses Leben. Aus eiogener Kraft bauten sie Kirchen, Sie waren ihr ganzer Stolz und erinnerten mit ihrem architektonischen Stil an die in der Heimat zurückgelassenen Musterbeispiele vom Neoklassizismus des XVIII und XIX Jahrhunderts (Anhang 2). Die Schulen in den deutschen Siedlungen förderten ebenfalls die Wahrung der eigenständigen deutschen Kultur. Der Unterricht wurde in Deutsch abgehalten, und zwar bis zum Jahr 1891. Schulen und Kirchen wurden aus Gemeindegeldern gebaut.
So kam ich zu dem Schluß, daß die Wolgadeutschen aus Deutschland zugereiste Menschen sind, die später zu russischen Staatsbürgern wurden.
Damals lebten die Deutschen in guten Beziehungen zu den Russen. Aber in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts begann in den Kreisen der Adeligen, Politiker sowie der Intelligenz Unmut gegenüber allem Deutschem aufzukeimen. Ihre Privilegien und wirtschaftlichen Erfolge hatten ihren Neid hervorgerufen. Der Französisch-Preußische Krieg und die Bildung des Deutschen Imperiums gaben den Anstoß zur Abschaffung der „auf ewig“ geltenden Rechte und Privilegien. 1874 wurde auch die Wehrpflicht auf die Deutschen ausgeweitet. Während des Ersten Weltkrieges mußten sie als Sanitäter ihren Dienst tun.
Im Jahre 1923 wurde die Autonome Sowjetische Sozialistische Republik (ASSR) der Wolgadeutschen ausgerufen. Sie umfaßte 28,4 Tausend Quadratkilometer. Zentrum der Republik war die Stadt Engels. Die Bevölkerung bestand aus 605 600 Personen (nach anders-lautenden Angaben – ungefähr 400 000); der Anteil der deutschen Bevölkerung betrug 60,5%. Zu Beginn des Krieges 1941-1945 lebten in der ASSR etwa 1,4 Millionen Staatsbürger deutscher Nationalität. Die gewaltsame Umsiedlung der Deutschen aus dem europäischen Teil der UdSSR nach Sibirien und Kasachstan vollzog sich hauptsächlich im August 1941 bis Januar 1942.
Am 28. August 1941 gab das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Ukas über die „Aussiedlung“ der Deutschen aus dem Wolgagebiet heraus. Darin wurden die Rußlanddeutschen einer aktiven Unterstützung der deutschen Truppen beschuldigt. 34000 Wolgadeutsche wurden in Viehwaggons gepfercht und unter unmenschlichen Bedingungen nach Sibirien geschickt.
Aber nicht einmal bis zu meinem Tode
Werde ich jenen Tag und jenes Jahr vergessen haben,
als die Wolgadeutschen nach Sibirien und
auch in noch viel entferntere Gegenden
ausgesiedelt wurden.
Nicht jene, die im Gerichtssaal saßen,
Nicht den Gutshof, nocht das Dorf – das ganze Volk.
W. Sawelew.
Frauen und Kinder wurden in kümmerlichen, provisorischen Unterkünften
untergebracht und wurden der strengen Aufsicht der Sicherheitsorgane
(Sonderkommandanturen) unterstellt.
Alle Männer zwischen 15 und 60 Jahren sowei Frauen, sofern sie nicht Kinder bis
zu einem Alter von drei Jahren zu versorgen hatten, wurden in die Trudarmme
einberufen, wo man sie wie Vaterlandsverräter behandelte.
Die Trudarmee – das waren Zwangsarbeitslager, die von hohen Stacheldrahtzäunen und bewaffneten Wachen umgeben waren. Sie wurden 1946 aufgehoben. Und erst am 13.12.1955 kam der Ukas „Über die Abschaffung der Beschränkungen im Rechtsstatus der in Sonderansiedlung befindlichen Deutschen und ihrer Familien“.
Und obleich die Deportierten ein Gesuch an die Regierung schrieben, mit der Bitte, ins Wolgagebiet zurückkehren zu dürfen, wurde ihnen dies verweigert.
Rußland ist eine Großmacht, ein reiches Land; es war stets eine Art Leckerbissen, und deswegen hätten auch viele Länder es gern im Krieg erobert. Also fiel am 22. Juni 1941 das faschistische Deutschland ohne jede Vorwarnung in unser Land ein. I.W. Stalin gab die Anweisung, die an der Wolga lebenden „russischen“ Deutschen in andere Territorien auszusiedeln (Anhang 3).
Aus den Erzählungen der Einwohner deutschen Ursprungs, meiner Landsleute, konnte ich genau erfahren, wie sie nach Sibirien geschickt wurden; allerdings lebten einige von ihnen bis zu ihrer Ankunft in Kotschergino in Kasachstan.
Aus dem bericht meiner Großmutter Emma Konstantinowna Demnina erfuhr ich, daß die Familie Bekker (Becker), die Eltern meines Urgroßvaters, in das Dorf Ponomorjowka, Bezirk Jarzewo, Krasnojarsk Region (später Jenisejsker genannt), geschickt wurden – ein Dorf, das sich mitten in der Taiga befand. In der Familie gab es elf Kinder. Den Vater meines Großvaters holten sie in die Trudamee. Ich fand heraus, daß mit „Trudarmee“ die über das Kriegskommssariat organisierte Mobilisierung aller arbeitsfähigen Männer und Frauen, ihre Bildung zu militarisierten Formationen mit dreigliedrigen Strukturen (Arbeitstrupps . Arbeitskolonnen – Arbeitsbrigaden) sowie die Kombination von Elementen des Wehrdienstes, der Produktionsaktivitäten und eines GULAG-ähnlichen Regimes. Die Haftbedingungen der Mobilisierten ähnelten denen in denen Gefängnissen: sie mußten in Reih und Glied unter Bewachung gehen und sich regelmäßig in der Kommandantur melden und registrieren lassen.
In dieser Zeit zog die Mutter meines Urgroßvaters die Kinder ganz allein groß. Von insgesamt elf überlebten nur vier. Die anderen starben aufgrund von Krankheiten oder wegen des Hungers. Mein Urgroßvater hat von Kindesbeinen an gearbeitet, um sein Stückchen Brot zu bekommen, und als er herangewachsen war, bekam er eine Arbeit in der Schmiede. 1956 kam er nach Kotschergino. Hier lebten Verwandte seiner Ehefrau. Das Dorf gefiel ihm, und so zog die Familie um. Men Urgroßvater war ein Meister auf allen Gebieten: er konnte drechseln, tischlern, zimmern, die Nähmaschine und viele andere Dinge reparieren. Von den Dorfbewohnern wurde er sehr verehrt. Er ist bereits vor langer Zeit gestorben, aber meine Landsleute, alles erwachsene Leute,erinnern sich an ihn. Meine Urgroßmutter reiste nach Deutschland aus. Die Familie des Urgroßvaters war kinderreich – es gab elf Kinder. Meine Oma Emma arbeitete in der Kolchose als Schweinehirtin und Melkerin, sie saß auf dem Mähdrescher und war, bevor sie in Rente ging, einige Jahre im Kombinat „Angara“ als Laborantin von Reinigungsanlagen tätig. Sie besitzt Dankesschreiben für gute Arbeit. Verheiratet war sie mit einem russischen Burschen und zog drei Söhne groß, einer von ihnen ist mein Papa – Eduard Walentinowitsch Demin (Anhang 4).
Nachdem ich die Geschichte des ersten Erscheinens der Deutschen im Dorf Kotschergino eingehend studiert hatte, fand ich heraus, daß noch einige deutsche Familien, die seinerzeit an der Wolga im Dorf Bauer gelebt hatten, jetzt in unserem Dorf wohnen.
Maria Andrejewna Bruch (Mädchenname Krieger) wurde 1938 im Gebiet Saratow,
Bezirk Engels, Dorf Bauer geboren. Sie erzählte, daß der Vater während der
Kollektivierung der Kolchose als Brigadier beitrat. Sie litten Hunger, und so
beschloß er Erbsen auszupalen, um den Arbeitern zu essen zu geben. Er wurde
denunziert und daraufhin vom NKWD verhaftet. Neun Monate lang blieb der Vater in
Haft. Ein russischer Lehrer, dessen Bekanntschaft er machte, als man die
Häftlinge an ihre Haftverbüßungsorte schickte, half ihm dabei, einen Antrag auf
Berufung zu stellen. Maria Andrejewnas Mann wurde tatsächlich entlassen. Und
1939 wurden Andrej Jakowlewitsch Krieger und seine Frau Elisaweta
Johann-Jakowlewna in das Dorf Pronewka, Arkalyksker Bezirk, Kotschetawsker
Gebiet verbannt. Anschließend war der Vater in der Trudarmme in Tula. 1948
kehrte er nach Hause zurück. Ende der 1960-er Jahre verließen sie das
Koktschetawsker Gebiet. An die Wolga wollte die Familie nicht zurückkehren. In
Kotschergino lebten Landsleute, und so begaben sie sich dorthin. Hier heiratete
Maria Andrejewna auch. Sie hat drei Söhne. So lange sie denken kann, hat sie in
der
Kolchose als Melkerin gearbeitet. Sie besitzt Auszeichnungen für hervorragende
Arbeitsleistungen, das Abzeichen des „Siegers des sozialistischen Wettbewerbs“
1975 und 1976 für ihre großartigen Arbeitsergebnisse. Noch in ihrer Jugend, als
sie noch in der Koktschetawsker Region lebte, hatte sie an der Erschließung von
neuland mitgewirkt und dafür später eine medaille erhalten. Im August 1986 bekam
sie die Medaille „Für heldenhafte Arbeit“ verliehen (Anhang 5).
Natalia Friedrichowna Testowa (Mädchenname Schmunk) wurde im Dorf Nikolajewka, Krasnoturansker Bezirk, geboren, wohin ihre Eltern 1931 aus dem Altai-Gebiet umgezogen waren. Der Vater war von 1942 bis 1946 in der Trudarmee. In der Familie gab es sieben Kinder. N.F. Testowa beendete die pädagogische Fachschule und heiratete dann einen Russen.Seit 1990 lebt sie in unserem Dorf. in ihrer Familie gibt es zwei Kinder. Während ihrer Zeit als Erziehern wurde sie von den Kindern des Kinderheims „Teremok“ (das Tierhäuschen; Anm. d. Übers.) sehr geliebt. Jetzt ist sie in Rente.
Robert Genrichowitsch (Heinrichowitsch) Schneider wurde in Marxstadt, Gebiet Saratow geboren.. Er berichtete, wie sie aus ihrem heimatlichen Wohnort abtransportiert wurden: „Wir fuhren in der Kleidung, die wir gerade an dem Tag angezogen hatten. Zuerst mit dem Auto und dann auf einem Dampfer. Drei Tage blieben wir in Minusinsk, dann ging es weiter nach Schyryschtyk, Bezirk Karatus. Vorn dort ging er 1958 zur Armee. 1961 kehrte er zurück und zog nach Kotschergino um. Sein ganzes Leben arbeitete er in der Kolchose. Jetzt ist er in Rente.
Jakob Jakowlewitsch Fertich berichtete, daß sein Großvater dreißig Jahre zuvor nach Rußland gekommen war. Dessen Familie ließ sich im Gouvernement Saratow nieder. Der Großvater konnte lesen und schreiben, war jedoch tagsüber als ungelernter Arbeiter tätig und hütete nachts Pferde. Jakow Jakowlewitschs Eltern lebten im Dorf Bauer. 1920 heirateten sie, und nach und nach kamen drei Kinder. Im Juni 1941 wurde die Familie in die Region Krasnojarsk verschleppt. Mit dem Zug trafen sie ind er Stadt Abakan ein, in Kotschergino – mit Pferden. Im November 1941 holten sie den Vater in die Trudarmee; er kam zur Holzfällerei. Bis 1942 lebte die Familie in Kotschergino, dann wurden sie nach Ponomarjowka, Bezirk Jarzewo, Region Krasnojarsk ausgewiesen, wo sie bis 1956 lebten. Nachdem sie ihre Rehabilitation erhalten hatten, verließen sie den Ort und ließen sich erneut in Kotschergino nieder. J.J. Fertich arbeitete in der Kolchose als ungelernter Arbeiter, war jedoch hauptsächlich als Zimmermann tätig (er baute Häuser un Farmen). Er besitzt eine Medaille für heldenhafte Arbeit für seine qualitativ guten Arbeiten und die Erfüllung des Plansolls, sowie eine Medaille zum 50. Jahrstag des Sieges für seine Arbeit während des Krieges. Zusammen mit seiner Frau Jekaterina zog er vier Kinder groß. Im Dorf ist er ein sehr geachteter Mann (Anhang 6).
Maria Friedrichowna Wagner (Mädchenname Manweiler) wurde 1937 im Dorf Rosenberg, Schdanowsker Bezirk, Gebiet Wolgograd, geboren. Ihre Familie wurde 1941 nach Tjumen verschleppt. Den Vater holten sie zur Trudarmee nach Krasnoturinsk im Gebiet Swerdlowsk, wohin er später auch die Familie brachte. 1955 fuhr sie zu ihrem Bruder Aleksander nach Kuragino zu Besuch und blieb dort. Kurze Zeit später lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen und heiratete. Anfangs arbeitete sie als ungelernte Arbeiterin, später als Kindergärtnerin. Jetzt lebt sie in unserem Dorf.
Die Eltern von Jakow Adolfowitsch Schmidt lebten bis 1941 im Gebiet Saratow, im Dorf Bauer. Im September 1941schickte man die Familie nach Sibirien, in die Region Krasnojarsk. Zu der Zeit besuchte er die 4. Klasse, verließ sie jedoch am 1. September. Im Oktober trafen sie in Kotschergino ein. Im Alter von elf Jahren arbeitete er bereits außerhalb – hütete Schafe. Als er herangewachsen war, erlernte er an der Motoren- und Traktoren-Station in Kuragino den Beruf des Traktoristen. Da er der Nationalität nach Deutscher war, holte man ihn auch nicht zur Armee. 1950 heiratete er Anastasija Iwanowna Karpowa. Sie zogen sechs Kinder groß. Anastasij Iwanowna ist im Besitz der Medaille „Veteran der Arbeit“ sowie zahlreicher Ehrenurkunde, die sie für ihre gute Arbeit bekommen hat. Jakob Adolfowitsch arbeitete in der Kolchose auf dem Traktor, züchtete Kartoffeln und Mais. Für hervorragende Arbeitsleistungen und hohe Produktionsergebnisse erhielt er Ehrenurkunden, wertvolle Geschenke und Medaillen (Anhang 7).
So wurde aus den Erzählungen meiner Landsleute klar, daß sie alle aufgrund ihres deutschen Ursprungs zu Beginn des Krieges im Jahre 1941 deportiert wurden. Aber all diese Leute haben stets fleißig und mit gutem Gewissen gearbeitet, ein aufrichtiges Leben geführt – und das tun sie auch heute noch, inmitten der russischen Bevölkerung. Sie haben internationale Familien gegründet, und sie tun es auch jetzt noch. Man braucht gar nicht lange nach Beispielen zu suchen – meine eigene Familie ist eine von ihnen. Diese Menschen haben die Traditionen ihrer Vorfahren gewahrt, halten aber auch die Traditionen des Landes in Ehren, in dem sie leben. Schon lange sehen sich selbst als Russen an. In unserem Bezirk wohnen Deutsche auch noch in anderen Dörfern: in Wragino, Bajdowo, Marinino, Sagorje und Roschtschinsko. Und sie sind alle zu Opfern des Krieges geworden, den Hitlers Deutschland entfesselte.
Bei der Erforschung des Zeitraums, in dem die ersten Deutschen in Sibirien auftauchten, beschloß ich herauszufinden, ob sie ihre Kultur am neuen Wohnort bewahrten. Deswegen fragte ich in meinen Gesprächen mit den bereits betagten deutschen Landsleuten nach den kulturellen Traditionen, Sitten und Gebräuchen, die sie bis heute beibehalten haben. Als ich sie zuhause besuchte, bemerkte ich, daß die duetschen Höfe sich durch besondere Sauberkeit und Ordnung auszeichnen. Es gibt einen Wirtschaftshof, in dem sich das Vieh befindet sowie einen sauberen Innenhof mit dem eigentlichen Haus, der Sommerküche und einer Garage. Die Häuser sind über die gesamte Fassade mit Holzschnitzereien verziert, mitunter auch nur an den Fensterläden und Simsen, und blau oder grün angestrichen. Vor allem die neueren Häuser aus den 1970er – 1990er Jahren werden geschmückt. Aber man darf nicht meinen, daß diese irgendetwas mit Tradition oder nationaler Besonderheit zu tun hat. Es ist eher Ausdruck des Bemühens, eine gewisse Gemütlichkeit und Feierlichkeit auf dem Hofgelände zu schaffen.
Die Deutschen im Dorf haben ihre Nationalsprache nicht verloren. In den Familien sprechen vor allem die alten Leute in ihrer Muttersprache, während die Kinder meist kein Deutsch können, vor allem, wenn sie aus einer Mischehe hervorgegangen sind ein Russe und eine Deutsche – oder umgekehrt). Die Umgangssprache der Bewohner unterscheidet sich von der heutigen Sprache – sie mutet eher etwas altertümlich an. Auch die Aussprache ist eine andere, zum Beispiel, wenn die Rede vom Schulterjoch zum Wasserholen ist („tragt“ wird wir „tracht“ ausgesprochen).
Die Deutschen der älteren Generation haben nicht nur ihre Nationalsprache
bewahrt, sondern auch ihre Tradition. Ich versuche von den Bräuchen der
Deutschen in unserem Dorf zu erzählen. Als Grundlage für meinen Bericht dienten
Informationen, die ich von Jakob Jakowlewitsch Fertich, Maria Andrejewna Bruch,
Robert Genrichowitsch Schnaider, Maria Friedrichowna Wagner, Jakob Adolfowitsch
Schmidt und Emma Konstantinowna Demina erhielt.
Wenngleich die Umsiedler von Kotschergino aus den Gebieten Wolgograd und Saratow kamen, war ihre Religionszugehörigkeit doch ein- und dieselbe: sie gehörten der lutherischen Kirche an. Das hinterließ seine Spuren auch in der deutschen Bevölkerung von Kotschergino. Große Aufmerksamkeit verdient der Hochzeitsbrauch, bei dem ein Kranz (Rosenkranz) und Blumen (Sträuße) in den Nationalfarben zusammengestellt werden. Der Kranz wird folgendermaßen hergestellt: mit Hilfe von Draht werden Blumen aus farbigem Krepp-Papier, Tannanschmuck hineingeflochten, und auch Schweineborsten, auf deren Spitzen man kleine Wachströpchen hart werden läßt. Auf die gleiche Weise werden auch die Blumensträuße gebastelt. Dieser Schmuck wird auch nach der Hochzeit weiter aufbewahrt. Der Hochzeit geht die Brautwerbung voraus (das Freien). Für gewöhnlich geschieht dies einen Monat vor der Hochzeit. Die Eltern des Bräutigams besorgen sich einen Brautwerber, der zu den Eltern der Braut geht und folgende Worte zu ihnen spricht: „Ihr habt da ein gutes Kälbchen und wir ein gutes Stierchen“, „ihr habt ein gutes Mädchen und wir keinen schlechten Bräutigam“. Wenige Tage vor der Hochzeit nimmt der Brautwerber oder seine Freunde einen Stock und geht damit durchs Dorf, schaut bei jedem kurz ein und lädt die Leute zur Hochzeitsfeier ein. Die angenommenen Einladungen werden mit einem Bändchen am Stock festgebunden. Am Vorabend der Hochzeit wird für Braut und Bräutigam ein Abend ausgerichtet – der Abschied vom Junggesellendasein. Die Hochzeit wird drei Tage land gefeiert. Am ersten Tag holen der Bräutigam und seine Freunde die Braut aus dem Elternhaus und bringen sie in sein Haus, wo man sich auf die Hochzeit vorbereitet. Für gewöhnlich werden die jungen Leute an der Tafel so platziert, daß sie von allen am besten gesehen werden können – in der Mitte. Nach den ersten Tänzen und Reden zu Ehren des jungen Paares beginnt der Brauch des Beschenkens. Die Paten schenken Geld, Kissen, Stoffe und dergleichen mehr. Die Übergabe wird begleitet von Liedern, kurzen Vierzeilern und Tänzen. Dafür werden sie von der Braut mit Wein bewirtet.
Das Hauptereignisbei den Hochzeitsriten ist der Zeitpunkt, wenn der Braut der Blumenkranz weggenommen wird. Die jungen Leute setzen sich in die Mitte, und die Gäste stehen drum herum und singen ein dem Brauch entsprechendes Lied. Sie nehmen der Braut den Kranz ab und legen ihr ein Tuch um. So wird sie zur jungen Hausherrin (Anhang 8).
Am zweiten Tag der Hochzeitsfeierlichkeiten bewirtet das junge Paar seine Gäste mit Pfannkuchen, und die Besucher „benehmen sich wundersam“: die Neuankömmlinge werden mit Ruß eingerieben und man verlangt von ihnen, daß sie sich freikaufen, und sie kleiden sich als Braut und Bräutigam um. Der dritte Tag heißt „Schwänzchen“. Da werden die Brautwerber, Köche und all jene mit Essen und Trinken bewirtet, die bei der Ausrichtung der Hochzeit mitgeholfen haben.
Das Hochzeitsritual (nach den Erinnerungen von Amalie Bekker)
Um die Braut wurde geworben, und sogleich vereinbarte man auch den Tag, an dem die Hochzeit stattfinden sollte. Am Tag der Hochzeit wurde die Braut herausgeputzt; sie zog ein weißes Kleid an, auf ihrem Kopf wurde ein Kranz aus kleinen Wachsblumen befestigt; er ist ziemlich schwer. Der Brautschleier ist ziemlich lang, an die Brust wurde ein kleines Kränzchen aus Wachsblumen geheftet. Weiße Schuhe. Der Bräutigam im schwarzen Anzug, weißem Oberhemd. An der linken Brustseite trug er ein langes weißes, zu einer Schleife gebundenes Band mit einer Blume. Während der Übergabe der Geschenke saßen Braut und Bräutigam in der Mitte des Raumes und nahmen die Gaben entgegen. Die Braut bekam Geschenke von ihren verwandten: bestickte Handtücher, Bettwäsche oder etwas zum Anziehen. Die Angehörigen des Bräutigams schenkten diesem Dinge, die eher für Männer gedacht waren: Werkzeug, Kleidung, Haustiere. Nach der Aushändigung der Geschenke wurde es fröhlich: man sang und tanzte. Der Freund des Bräutigams leitete die Hochzeitsfeier. Die Tische waren je nach Wohlstand der Famuilie mehr oder weniger reich gedeckt. Gewöhnlich gab es Gebratenes, Koteletts, Süßigkeiten, Rübenmus, Kuchen („dünne Kuchen“) – die bei den Deutschen besonders beliebt waren, und Kreppel (Krapfen).
Mit Einbruch der Nacht begannen die Freundinnen der Braut ihr die Hochzeitstracht auszuziehen, und sie zog gewöhnliche Kleidung an. Die Hochzeitskleidung der Braut bestand aus – Bluse, Mieder, Rock und Schürze.
Besondere Kleidung wurde auch für Neugeborene genäht: Taufhäubchen und Hemd, das dem Kind vor der Taufe angezogen wurde, und das es später bis an sein Lebensende aufbewahrte.
Jetzt feieren sie die Hochzeit genauso wie die Russen, aber die Trauerfeiern verlaufen anders. Die Großmütter singen auf der Beerdigung Gebete, und nach der Bestattung umkreisen die Angehörigen das Grab dreimal, wobei die Frauen gleichzeitig die Totenmesse singen. Nach der Beerdigung gibt es eine warme Mahlzeit. Für den Leichenschmaus werden Fleischgerichte, Kuchenbrötchen und Wecken gereicht; aber Pasteten mit Fisch gibt es nicht; am dritten Tag bekommen die Trauergäste nur Kompott.
Weihnachten ist eines der bedeutendsten Festtage des Jahres. Das Wort Weihnachten bedeutet „geweihte Nacht“. Diesem Fest geht eine vierwöchige Fastenzeit – Advent – voran. Der Sinn dieser Zeit ist die Vorbereitung aud Weihnachten. Zum Feiertag versucht man alle Arbeiten im Haus fertig zu bekommen. Es wird eine Tanne aufgestellt und mit selbstgemachten Spielsachen oder Süßigkeiten geschmückt: Kringel, Konfekt. Zu Ehren der Tanne singt man das Lied „O, Tannenbaum“.
Am Abend des 24. Dezember gingen Erwachsene und Kinder zur Festtagsliturgie. Sie nahmen nach dem Gebet ein einfaches Abendessen zu sich. Viele stellten für die Kinder „Nucklis“ her: sie schnitten Brot in kleine Würfelchen, zerstießen Mohn mit Zucker, mischten alles durcheinander und übergossen das Ganze mit aufgekochter Milch, die auf dem Ofen stand.
Aus der Erzählung von Jakob Jakowlewitsch Fertich: „Von allen Festtagen feiern wir immer Weihnachten (Ende Dezember) und Ostern (das deutsche Osterfest).
Am frühen Ostermorgen, und auch abends spät, wird gebetet. An Weihnachten findet im Haus großes Reinemachen statt, es wird gekocht und gebacken. Am Abend setzte man sich an den Festtagstisch. Man wartete nicht bis Mitternacht“.
Nach dem Volkskalender ist der wichtigste Feiertag im Frühling Ostern. Es ist ein beweglicher Feiertag, der jedes Jahr am ersten Sonntag nach Frühlingsvollmond begangen wird, zu Beginn des Frühjahrs, also zwischen Ende März und Mitte April. Jede Familie macht vor Ostern gründlich Haus, Hof und Garten sauber. Traditionsgemäß wurden Eier bemalt. Es hieß, daß der Osterhase die Ostereier und Geschenke zum Osterfest brachte. In der Mitte eines solchen Hasen versteckt man ein Osterei. Und so kam es zu der Legende über den eierlegenden hasen, den die Deutschen, die aus Deutschland emigriert waren, mit sich nach Rußland nahmen.
Einen Tag vor Ostern bastelten Erwachene und Kinder Osternester für den Osterhasen, in die er – so lautet die Legende – die Ostereier und kleinen Gaben für die Kinder legte. Dafür waren bereits zuvor in speziellen Kästchen und Körbchen Weizen- oder Hafersamen ausgesät und herangezüchtet worden. Zu Ostern keimte die Saat. Dort hinein wurden in aller Heimlichkeit, von den Kindern unbemerkt, bunte Eier, Konfekt, Gebäck und andere Süßigkeiten gelegt. Wer keinee Weizenkörnchen aussähte, der machte sich seine Osternester mit Hilfe einer Mütze oder hob draußen eine kleine Grube aus, die er dann mit Heu oder Moos auslegte. Zu Ehren des Osterhasen wurden Lieder gesungen oder Gedichte aufgesagt.
Die Kinder beschäftigten sich zu Ostern gern mit Ostereierspielen. Sie bauten kleine Hügelchen aus Sand und ließen dann die Eier herunterrollen. Derjenige, dessen Ei am weitesten gerollt war, hatte gewonnen. Nach dem österlichen Mittagessen machten sie sich auf den Weg, um Verwandte zu besuchen.
Auf dem Ostertisch der Deutschen fand sich immer der berühmte Riwwelkuche, ein spezieller Osterkuchen sowie eine Kuchen, der zu einem Zopf geformt war und in dessen Mitte, in künstlichem Grün, ein Osterlamm saß.
Auch Pfingsten ist eines der großen Kirchenfeste. Zu diesem Feiertag wurden an den Häusern Veränderungen vorgenommen. Man tünchte sie mit gelbem oder rotem Lehm, innen wurden die Wände mit Kalk geweißt und der Fußboden mit Gras und Blumen ausgelegt. Am Bett stellte man eine Birke mit sich gerade entfaltenden Blättern auf. Birken wurden auch am Tor, draußen im Hof, aufgestellt. In der Straße wurden Schaukeln aufgestellt, die Jugendlichen führten Reigentänze auf, sangen Lieder und auf den Tisch kamen Krapfen und süße Suppe.
Im Verlauf meiner Untersuchungen fand ich heraus, daß die Deutschen zum zahlenmäßig größten Ethnos auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR gehören. Gegenwärtig leben im Dorf Kotschergino 87 Personen deutscher Nationalität (Anhang 9). In der Sowjetzeit war die Zahl der Deutschen noch viel höher, was durch Aufzeichnungen im „Wirtschaftsbuch“ – einem Archivdokument des Dorfrates von Kotschergino belegt ist (Anhang 10). Seit Anfang 1990 sind viele deutsche Familien in ihrer historische Heimat – nach Deutschland – ausgereist.
Die Geschichte des deutschen Volkes, das auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion lebte, weist in vielerlei Hinsicht tragische und traurige Mekrmale auf.
Während ich am vorliegenden Thema arbeitete, nahm ich auch einiges an Literatur zur Hilfe, begegnete Menschen deutscher Nationalität, die bereit waren, ihre Erinnerungen mit mir zu teilen. die mir ihre Fotos, ihre Ehrenurkunden zeigten. Ich besuchte auch das N. Martjanow-Heimatkundemuseum in der Stadt Minusinsk, das Archiv und Zentrum der deutschen Kultur in der Siedlung Kuragino.
Aus meinen Gesprächen mit ehemaligen Wolgadeutschen, die einst in unser Dorf kamen, erfuhr ich, daß sie sich ihrer Wurzeln erinnern, Traditionen, Sitten und Gebräuche wahren. Sie haben viel durchgemacht: Repressionen, Verbannung, Hunger, Kälte und Erniedrigungen, aber sie sind gute, fleißige Menschen geblieben. Sie haben im Laufe ihres Lebens hohe Auszeichnungen erhalten. Das Schicksal vieler von ihnen kann dem Menschen einer beliebigen Nationalität als Beispiel dienen. Ich bin stolz auf meine Vorfahren und schäme mich nicht, daß in meinen Adern deutsches Blut fließt.
In unserem Dorf leben Menschen unterschiedlicher Nationalität, aber keiner ist dem anderen gegenüber feindlich gesinnt. Deutsche und Russen gründen Familien. Wenn ich durchs Dorf gehe, dann fällt mir auf, daß die Gehöfte meiner Landsleute, Deutsche in bereits fortgeschrittenem Alter, gepflegt und akkurat aussehen.
Im Verlauf meiner Firschungsarbeit und der Analyse des zusammengetragenen Materials, kam ich zu folgender Schlußfolgerung:
1. Die Wolgadeutschen fanden in Sibirien eine neue Heimat, kommen inzwischen schon seit vielen Jahren freundlich mit den alt eingesessenen Einwohnern aus und gründen internationale Familien.
2. Ungeachtet erheblicher Erschwernisse haben die Deutschen aus dem Wolgagebiet stets gewissenhaft ihre Arbeit verrichtet; vielen von ihnen wurden dafür Auszeichnungen verliehen.
3. Die Deutschen in Sibirien haben ihre nationale Kultur, ihre Sitten und Gebräuche, Sprache und Religion bewahrt.
Im Hinblick auf das Sammeln und Systematisieren von Materialien zur Geschichte der Wolgadeutschen in unserem Dorf habe ich mein Ziel erreicht. Außerdem habe ich im Verlauf meiner Forschungstätigkeit Material über traditionelle Siteen und Gebräuche sowie besondere Feiertage der im Dorf Kotschergino lebenden Deutschen erhalten.
Ich hoffe, daß meine Arbeit zum Exponat für unser Schulmuseum Verwendung findet, und daß Schüler und Erwachsene daraus viel Interessantes und Nützliches erfahren.
1. Wirtschaftsbuch des Dorfes Kotschergino. Archiv der Verwaltung des
Dorfrates von Kotschergino. Band 1, 1943 – 1945. Fond P-122, Vereichnis 3, Akte
N° 1
2. Rehabilitationsbescheinigung N° 1/3 – 8587
3. Bescheinigung N° 852 über die Registrierung von Einwohnern deutscher
Nationalität auf dem Territorium des Dorfes Kotschergino
4. Dokumente aus den Familienarchiven von Emma Konstantinowna Demina
(Mädchenname Bekker), geb. 1951, Maria Andrejewna Bruch (Mädchenname Krieger),
Dorf Bauer, Bezirk Kamenka, Gebiet Saratow, geb. 1938, Natalia Friedrichowna
Testowa (Schmunk), Dorf Nikolajewka, Krasnoturansker Bezirk, geb. 1949, Jakob
Adolfowitsch Schmidt, geb. 1931, Robert Genrichowitsch Schnaider, Geburtstort
Marxstadt, Gebiet Saratow, geb. 1934, Jakob Jakowlewitsch Fertich, geb. 1926 im
Dorf Bauer, Bezirk Kamenka, Gebiet Saratow, und Maria Friedrichowna Bauer
(Manweiler), geb. 1937 im Dorf Rosenberg, Schdanowsker Bezirk, Gebiet Wolgograd.
1. I.A. Becher, A.J. Kaljuga. Zur Frage der Deportation der Sowjetdeutschen.
2. M. Bugaj, Kommentare. Moskau, Gotika-Verlag, 2000.
3. J.A. Brjuchanowa, Kalendarische Sitten und Gebräuche bei den Deutschen des
XIX. bis Anfang des XX. Jahrhunderts. Frühlingszyklus. Moskau, Gotika-Verlag,
2000.
4. G. Wins. Deutsche in Rußland und der GUS 1763-1997. Moskau – Stuttgart, 1998.
5. W.O. Kljutschewskaja. Über die russische Geschichte.
6. Menschen und Schicksale. XX. Jahrhundert. Thesen aus Vorträgen und
Mitteilungen der wissenschaftlich-praktischen Konferenz. Krasnojarsk, 2003.
7. Martjanowsker Heimatkunde-Lesungen. Minusinsk, 1999.
8. A. Rambo. Malerische Geschichte des alten und neuen Rußland.
9. I.W. Stalin. Dokumentensammlung (1940er Jahre). Moskau, Gotika-Verlag, 2000.
Kartenfragment der Region Saratow, Wolga-Gebiet
Links: Kirche des Heiligen Klemens in der Stadt Saratow
Rechts: Lutherischer Kirche der Heiligen Peter und Paul in Moskau
(Foto aus dem Buch: „Deutsche in Rußland und der GUS...“)
Fragment aus den Seiten der Dokumentensammlung (1940er Jahre), „...sind die
Deutschen in Arbeitskolonnen zu mobilisieren“
Hochzeitsfoto von Emma Konstantinowna Demina (Bekker), 1968,
(Foto aus dem Familienarchiv von E.K. Demina)
Die Eltern von Maria Andrejewna Bruch: Andrej Jakowlewitsch Krieger und
Jelisaweta (Elisabeth) Johann-Jakowlewna
(Foto aus dem Jahre 1960, aus dem Familienarchiv von M.A. Bruch)
Jakob Jakowlewitsch Fertich (Foto von 1970, aus dem Familienarchiv von J,.J.
Fertich)
1980. Kartoffelzüchterbrigade in der Kolchose „Iljitschs Vermächtnis“.
Links: Jakob Adolfowitsch Schmidt
(aus dem Familienarchiv von A.J. Schmidt)
1956. Hochzeitsfoto von Maria Friedrichowna Wagner
(aus dem Familienarchiv)
Bescheinigung N° 852 über die Registrierung der Bewohner
deutscher Nationalität im Dorf Kotschergino
Seiten aus dem „Wirtschaftsbuch“ der Verwaltung des Dorfrates von
Kotschergino
Foto aus dem Jahre 2008
Blatt 1
Blatt 2