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Die „Unsrigen“ und die „Fremden“ im Dorf Ust-Kamyschta, Republik Chakassien

Verfasserinnen: Tatjana Viktorowna Detzel und Olga Michailowna Majorowa, Schülerinnen der 10. Klasse an der allgemeinbildenden Oberschule Ust-Kamyschta.

Projektleitung:
Artem Anatolewitsch Ulturgaschew, Geschichtslehrer an der Ust-Kamyschtinsker Oberschule,
Nina Nikolajewna Ulturgaschewa, stellvertretende Direktorin für wissenschaftliche Arbeit.

Übersicht:

I. Einleitung: nationale Zusammensetzung in der Republik Chakassien.
II. „Die Unsrigen und die Fremden“ in Ust-Kamyschta.
1) Die Teilnehmer an den „Großbaustellen“.
2) Die Deportierten.
3) Die Opfer der Konflikte zwischen den Nationen während des Zerfalls der UdSSR.
III. Schlußwort

Einleitung

In der Mitte des sibirischen Südens, in den Tälern des Abakan-Flusses und seiner zahlreichen Nebenflüsse, am Oberlauf des Tschulym und am linken Ufer des mittleren Jenisej lebt das kleine, uralte, turksprachige Volk der Chakassen.

Die Chakassen sind die Ureinwohner des chakassisch-minusinsker Talkessels. Ihre Anzahl betrug 1896 – etwa 40.000, 1959 – 57.000, 1982 – 71.000 Menschen. Die Republik Chakassien nimmt eine Fläche von 61,9 Tausend Quadratkilometern ein. Sie wird bewohnt von 516.000 Menschen, die ungefähr hundert verschiedenen Nationalitäten angehören. Die Chakassen selbst machen einen Anteil von 11,5% an der Gesamtbevölkerung aus.

Der chakassische Boden war nicht immer von Chakassen bevölkert. Nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen tauchten turksprachige Menschen erstmalig vor etwa 2300 Jahren im Abakan-Becken und den Niederungen des Jenisej auf.

Die historische Epoche (7.-3. Jahrhundert v. Chr. bis in die Neuzeit) der Volksstämme, die die Steppengürtel Europas und Asiens besiedelten, wird in der Kunstgeschichte häufig als die Zeit der Skythen bezeichnet. Überall in Chakassien sind in typisch „skythischem, bestialischem Stil“ ringförmig zusammengerollte Raubtiere und galoppierende Rene auf Grabhügeln dargestellt. In der Folgezeit war das südliche Sibirien Teil des Reiches der hunnischen Eroberer (im 1. Jahrh. v. Chr. bis zur Neuzeit).

Im 6. Jahrhundert entsteht auf chakassischem Territorium ein eigener Staat. Es finden Überfälle auf benachbarte Ländereien statt und es entsteht der größte Teil des mittelalterlichen Chakassien. Die historische Zeit (8. – 12. Jahrh.) wird die Epoche der Großmacht genannt.

Im Jahre 1207 fiel eine riesige Armee unter dem Kommando Dschutschis (Jochi; Anm. d. Übers.), dem ältesten Sohn Dschingis Khans, in Chakassien ein. Nach langjährigen Kämpfen um die Unabhängigkeit wurde Chakassien schließlich 1923 den mongolischen Eroberern unterworfen. Nach dem Fall des Mongolischen Reiches machte die chakassische Bevölkerung im 15. und 16. Jahrhundert eine tiefe wirtschaftliche und kulturelle Krise durch. Ihre Schriften verschwanden.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts existierten auf dem Gebiet des chakassisch-minusinsker Talkessels 4 feudale Fürstentümer, wobei sich das Isarsker, Altysarsker und Tubinsker Fürstentum zu einer Föderation zusammengeschlossen hatten. In der Föderation gab es einen starken staatlichen Kern, der aus einem aristokratischen Kirgisen-Geschlecht bestand. Das vereinte Territorium der 4 chakassischen Fürstentümer wurde in den russischen Dokumenten des 17. Jahrhunderts als „Kirgisische kleine Erde“ bezeichnet ( das erste Mal werden „Kirgisen“ in einer Urkunde des Zaren Boris Godunow erwähnt).

„Eine Besonderheit des heutigen Chakassien ist seine ethnische Vielfalt. In der Republik leben mehr als 100 Nationalitäten – Chakassen, Tuwinier, Russen, Tataren, Deutsche, Tschuwaschen, Polen und andere“, - schreibt W.N. Tuguschekowa, Doktorin der Geschichtswissenschaften und Direktorin des chakassischen, wissenschaflichen Forschungsinstituts für Sprachen, Literatur und Geschichte. Hier befindet sich Informationsmaterial darüber, daß die alte russische Kultur hier seit fast 300 Jahren existiert und polnische Ansiedlungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auftraten. Das Vielvölkergemisch entstand hauptsächlich im 20. Jahrhundert. Dies hängt vor allem mit der Beendigung des Baus der Transsibirischen Eisenbahn-Magistrale, wirtschaftlichen Reformen, der Deportationspolitik gegenüber den Völkern des Landes, den „Großbaustellen“, dem Verfall der UdSSR ..... zusammen.

So tauchten auch in unserem Dorf Ust-Kamyschta Menschen verschiedener Nationalitäten auf.

M.J. Lermontow, ein russischer Poet des 19. Jahrhunderts, hat ein Gedicht mit dem Titel „Im wilden Norden“ geschrieben. Es geht darin um die Einsamkeit von Kiefern und Palmen. Die Natur hat es so eingerichtet, daß eine Kiefer in der heißen Wüste nicht überleben kann. Aber wenn jemand eine Palme in unsere rauhe Region bringt, dann droht ihr unwiderruflich der Tod durch Erfrieren auf diesem fremden Boden.

Ein Mensch, herausgerissenen aus seiner „heimatlichen Erde“, fühlt sich ebenfalls fremd. Manche, die dazu verdammt sind, bleiben es auch, andere werden irgendwann zu „Unsrigen“. In der hier vorliegenden Arbeit werden wir das Problem der „Unsrigen“ und der „Fremden“ innerhalb unseres sibirischen Dorfes mit seinen 1500 Einwohnern verschiedener Nationalitäten betrachten. In der Schul gibt es 235 Schülerinnen und Schüler. Unter ihnen befinden sich Russen, Deutsche, Chakassen, Ukrainer, Tataren, Usbeken, Aserbeidschaner, Tuwinier. Weder unsere Großeltern, noch Mama und Papa, können sich daran erinenrn, daß es jemals irgendwelche Streitigkeiten und Konflikte aufgrund nationaler Gesichtspunkte gegeben hat. Heutzutage, wenn in Polen, im Iran oder in Israel Kriege wegen der Zugehörigkeit zu einer anderen Nationalität ausbrechen, muß man unwillkürlich darüber nachdenken, wie es uns so gut gelingt, hier innerhalb eines einzigen Dorfes friedlich und freundschaftlich miteinander zu leben. Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, haben wir Menschen unterschiedlicher Nationalität aufgesucht.

Die „Fremden“ aus den Reihen der Deportierten

Einen nicht unerheblichen Teil der Dorfbevölkerung stellten die Deutschen, die hier zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges erstmalig in Erscheinung traten. Nach den Erinnerungen meines Urgroßvaters Emmanuel Petrowitsch Detzel, geboren 1904, fürchtete die Regierung, daß die „Rußland-Deutschen“ zu den Faschisten überlaufen würden. Und so fand er sich 1941 in Chakassien wieder. Die Umsiedler hatten aus zweierlei Gründen ein sehr schweres Leben: einmal die Last des Kriegsalltags, zum anderen die Ankunft auf einem für sie völlig fremden Boden. Das einen ständig verfolgende Hungergefühl, Enge, Kälte und Zwangsarbeit – all das hatte das Los für Emmanuel Petrowitsch vorherbestimmt. Von 1942-1946 war er in der Arbeitsarmee im Gebiet Kirow, Wjerch-Ijemsker Bezirk, Siedlung Lesnaja. Sein Sohn, Wladimir Emmanuilowitsch, geboren 1941, mein Großvater, erinnerte sich an die Nachkriegszeit. Vom Charakter her war er ein gutmütiger, geselliger Mensch. Mit seinen Söhnen mochter er abends immer gern Lapta (eine Art Schlagball; Anm. d. Übers.) spielen. Jetzt leben alle, außer meinem Großvater Viktor Wladimirowitsch Detzel, in Deutschland. Großmutter Maria Aleksejewna Detzel, geborene Gladtschenko, Ukrainerin, hat von den Deutschen viel gelernt: Gewissenhaftigkeit bei der Arbeit, Pünktlichkeit, Ordnung am Arbeitsplatz, Sauberkeit in Haus und Hof, Eßkultur. Bei den Deutschen ist es zum Beispiel nicht üblich, zwischendurch ein Stückchen zum Essen in die Hand zu nehmen. Frühstück, Mittagessen, Abendbrot werden strikt am Tisch eingenommen; man sitzt auch nicht auf dem gemachten Bett. Zum Ausruhen setzt man sich allenfalls aufs Sofa. Großen Gefallen fand Großmama auch an einem typisch deutschen Festtagsessen – der Schnitzsupp. Man bereitet sie folgendermaßen zu: aus Trockenfrüchten ein Kompott kochen; separat mittelgroße Mehlklöße herstellen und kochen. Saure Sahne mit Mehl verschlagen und etwas Zucker zugeben. Zum Schluß wird alles miteinander vermischt – Kompottbrühe, Mehlklöße, geschlagene Sahne und Mehl. Man kann die Suppe warm oder kalt essen.

Ein weiteres Nationalgericht ist auch der Krautbrei. Das ist mit Fleisch gedämpfter Kohl und Kartoffelbrei.

Vielen Volksgruppen unseres Dorfes gefiel der Geschmack von Mehlklößen. Der Teig wird in Sauermilch eingerührt und zu einer großen platten Fläche gerollt. Diese wird ausgiebig mit Tafelbutter begossen und zu kleinen Rollen aufgewickelt. In einem tiefen, breiten Topf wird das Fleisch mit dem Kohl geschmort. Aus den vorbereiteten Röllchen werden dann 2-3 cm dicke Stückchen abgeschnitten, die man auf das Fleisch und den Kohl legt. Topf mit einem Deckel verschließen. Die Mehlklöße werden über Dampf gegart; sie werden größer und nehmen die Form von Röschen an. Wenn sie das Aroma von Fleisch und gesäuertem Kohl annehmen, erhalten sie einen ganz besonderen, eigentümlichen Geschmack.

So tauschen die verschiedenen Völker untereinander Kochrezepte aus, wobei dien kleinen Kinder besonders gern Talkan (Talsan; Hafermehl – Anm. d. Übers.) mögen. Die ringsum angebratene Gerste wird durch eine besondere Handmühle (Reibe) gegeben. Man erhält trockene, gemahlene Graupen, die sich sehr lange aufbewahren lassen. Gewöhnlich ißt man sie mit Zucker und Milch. Talkan war in den Kriegsjahren ein besonders gutes Mittel gegen den Hunger. Die Chakassen waren gern bereit, ihr Essen mit den Neuankömmlingen zu teilen. Gastfreundschaft ist ihr nationales Hauptmerkmal. Ein Gast ist bei den Chakassen mehr wert, als die eigene Verwandtschaft. Und deutsche Gäste gab es genug.

“Ich war gerade erst 1 Jahr alt, als unsere Familie aus ihrem Heimatdorf Kamenka im Gebiet Saratow ausgesiedelt wurde: Mama – Elisabetha Iwanowna, Papa – Wilhelm Wilhemowitsch, und zwei Geschwister. In Güterwaggons bzw. „Viehwagen“, wie sie im Volksmund heißen, brachte man uns nach Chakassien“, - erinnert sich Elvira Wilhelmowna Warankina (Beilmann). Nach den kreuzförmig gebauten Häusern an der Wolga war das Leben in Baracken die Hölle. Und ihr Vater wurde in die Arbeitsarmee, nach Nischnij Tagil, einberufen – zum Holzabflößen. Er kehrte erst im Jahre 1949 zurück. „Mama arbeitete in der Kolchose auf dem Feld, mich nahm sie immer mit. Bruder August, der 1933 geboren wurde, hütete die Schafe und half etwas dazu zu verdienen. Die Chakassen nahmen uns sehr freundlich auf, hatten Mitleid und teilten ihr letztes Stückchen Brot zur Hälfte mit uns. Sie Hatten begriffen, daß wir nicht aus freiem Willen hierher gekommen waren. Und da fürchtete sich der bezirksbevollmächtigte Milizionär. Bis 1953 standen wir unter der Aufsicht der Kommandantur. Einmal im Monat kam der Bevollmächtigte aus der Bezirkshauptstadt, um uns zu registrieren. Das versetzte die Menschen in Angst und Schrecken“. Innerhalb der Familie sprachen sie Deutsch; deswegen ist Elvira Wilhelmowna bis heute noch vollständig der alten deutschen Sprache mächtig. Chakassisch wurde ihre zweite Sprache, weil sie unter lauter chakassischen Kindern im Ulus Ust-Kinderla, Askissker Bezirk, aufwuchs. Erst in der 1. Klasse begann sie Russisch zu lernen, hier in Ust-Kamyschta, wohin die Familie 1949 nach Wilhelm Wilhelmowitschs Rückkehr aus der Arbeitsarmee umzog.

Elvira Wilhelmowna arbeitete 15 Jahre als Melkerin, Seite an Seite mit Menschen unterschiedlicher Nationalitäten. Gemeinsam feierten sie Feste, sangen Lieder. Viele sind bereits in Vergessenheit geraten.

- Jetzt, jetzt erinnere ich mich wieder ein bißchen. Es ging so ähnlich, wie diese russischen Tschastuschki (kurze Lieder der mündlichen Volksdichtung; Anm. d. Übers.), - sagt Oma Elja hastig und fängt an zu singen. Mama und ich können den Text kaum mitschreiben, während er aus ihren Gedanken hervorquillt:

Liesja, Liesja, wart mol bißja
Bleib mol bißja steh’n Windermol
Kussi gebe kannscht ach wiederkehre.

Schrejk siwer di naß
Schtid Majk schweers
Haus toch klebich an
Finschter kom raus
Kom raus kom raus
Was soll ich traus tichse
Liebe hab ich vin sil

(Der Liedtext wurde nach dem Gehör aufgeschrieben – wahrscheinlich handelt es sich um schwäbischen Dialekt; Anm. d. Übers.).

Unter den Rußland-Deutschen gab es manche, die in der Sovjet-Armee dienten. Die 1941 geborene Ella Adamowna Rulgeiser zog mit ihren Eltern 1942 nach Chakassien um. Ihr Vater, Adam Iwanowitsch Rulgeiser, nahm auch am orginsker Krieg teil und war Soldat beim Feldheer während des Großen Vaterländischen Krieges. 1942 wurde er aus der Armee entfernt und zur Baustelle des Blei-Zink-Kombinats in Ust-Kamenogorsk verschleppt. Und Ella Adamowna und ihre Mutter Rosa Iwanowna lebten währenddessen in Chakassien und warteten auf den Vater. „Ich war keinerlei Gehässigkeiten seitens der Ortsbevölkerung ausgesetzt. Ich besuchte die Askissker Schule, danach beendete ich mit Auszeichnung das Krasnojarsker Institut für Pädagogik. Ich arbeitete in der Schule in Jesino und fuhr später nach Krasnojarsk“. Nachdem sie ihren wohlverdienten Urlaub genommen hatte, kehrte Ella Adamowna wieder zu ihrem Mann nach Chakassien zurück. Die wunderbar warme Erde und die Menschen ließen sie erneut heimisch werden. Chakassien sieht sie als ihre Heimat an, denn auf dem Boden ihrer Vorfahren, im Dorf Vollmer, Gebiet Saratow, verbrachte Ella Adamowna nur eine ganz kurze Zeit ihres Lebens.

Der aus Vollmer stammende Konstantin Gottliebowitsch Baumgärtner erinnert sich, daß seine Eltern mit der Wohnraum-Beschaffung mehr Glück hatten, als die anderen Verbannten. Die Einwohner von Wjerch.Kandyrla stellten ihnen ein kleines, aber separates Häuschen zur Verfügung. Der kleine Kostja, der in mitten lauter Chakassen aufwuchs, lernte deren Sprache schnell. Bis zur siebten Klasse ging er in Maly Monok zur Schule. Mit Dankbarkeit erinnert er sich an seinen Lehrer Jakob Iwanowitsch (den Nachnamen weiß er nicht mehr), der mit viel Mühe, auf verschiedene Gegenstände zeigend, den chakassischen und deutschen Kindern die russische Sprache beibrachte. Bis heute spricht Kostja nicht akzentfrei Russisch. Lächelnd erinnert er sich an die Geschichte, als man ihn beinahe von der Schule gejagt hätte, weil er zu Ostern bemalte Eier mit zum Unterricht genommen hatte, um sich damit mit seinen Altersgenossen zu bewerfen. Das Ganze endete damit, daß die Eltern in die Schule bestellt wurden.

Heute ist Konstantin Gottliebowitsch Baumgärtner einer der am meisten geachteten Menschen im Dorf. Mehrere Jahre in Folge nahm er den ersten Platz beim Getreidedreschen ein, war Teilnehmer an landwirtschaftlichen Wettbewerben. Weit in der Vergangenheit liegt der staubige, entbehrungsreiche Weg mit den ungeschickt auf einen Leiterwagen geworfenen wenigen Habseligkeiten. Der Weg, der ihnen die zweite Heimat eröffnete – Chakassien.

Die Opfer der Konflikte zwischen den Nationen während des Zerfalls der UdSSR.

Zur Zeit der Perestrojka beherbergte das Dorf Menschen, die ihren angestammten Wohnort aufgrund zwischennationaler Konflikte verlassen mußten. Und die hiesige Erde nahm auch weiterhin in aller Stille immer neue Flüchtlinge, vor allem aus Mittel-Asien und dem Kaukasus, auf. Manch einer blieb hier wohnen, andere kehrten irgendwann in die Heimat zurück.

Jegana Sulejman Kysy Nabijewa, geboren 1963, zog auf Anraten von Aserbeidschanern, die hier einmal gelebt und den Ort später wieder verlassen hatten, mit ihrem Mann hierher. Sie wurde in der Stadt Jewly, Aserbeidschanische SSR geboren, ging dort zur Schule und heiratete. Acht Jahre lanh hatten sie keine Kinder. Dies war der Grund, weshalb sie sich dazu entschlossen, nach Chakassien zu fahren. Sie ist den Ärzten der Frauenberatungsstelle in Abakan, der Natur und dem heilenden Klima dieses Landes sowie den einfachen Menschen in ihrem Dorf dankbar dafür, daß eine Tochter das Licht der Welt erblicken konnte. Die Nabijews haben viele Freunde – Deutsche, Russen und Chakassen. Als „Fremde“ fühlen sie sich hier nicht. Liebend gern nehmen sie an den verschiedenen Dorffesten teil, bereiten nationale Gerichte zu, beobachten mit Interesse die örtlichen Sitten und Gebräuche. Betrübt sind sie über die feindselige haltung der Bezirksbehörden. „Wenn nur ein Aserbeidschaner etwas Schlechtes getan, ein Gesetz übertreten hat, dann bedeutet das doch noch nicht, daß wir alle so sind“, - klagt Jegana Sulejman Kysy. Ihrer Meinung nach sind das „Fremde“ für dieses Land.

Wir wollen versuchen, die Begriffe „Unsrige“ und „Fremde“ weiterzuentwickeln und noch näher zu definieren, und wenden uns dem Artikel von Maria Terentewna Kabelkowa „Über einige Besonderheiten der russischen Mentalität“ zu: „ ...Die Gesellschaft teilt sich immer mehr in „wir“, „sie“, „die Unsrigen“ und „die Fremden“. „Fremde“ – das sind Feinde, die man vernichten darf (und dazu kann jeder zählen, der sein Leben selbständig in die Hand nimmt – Farmer, Geschäftsleute und Menschen, die nicht so denken wie viele andere, Vertreter einer anderen Nationalität)“. Dafür gibt es in unserem Leben, besonders in den russischen Hauptstädten, genügend Beispiele. Und in der Welt findet man ihrer noch mehr. In dem oben erwähnten Artikel wird eine äußerst erschreckende Zahl vom Zentrum für Soziologie genannt: demnach leiden 75% aller Russen an Xenophobie, d.h. Nationalismus. „Die Gründe dafür sind der Zerfall der UdSSR, die Wirtschaftskrise, bewaffnete zwischennationale Konflikte, die Migration der Bevölkerung in Rußland, usw. ... Von Natur aus sind unsere Russen sehr empfänglich für Internationalisierung und Integration unter den verschiedenen ethnischen Gruppen, aber man braucht dazu korrekte Aktionen und Einwirkungen „von oben“; denn bei „denen da unten“ reicht schon ein gesunder Menschenverstand aus“.

Wir meinen, daß man mit Genauigkeit vorgehen muß, um zum Gegenteil zu gelangen. Keine Staatsmacht soll sich in zwischennationale Beziehungen einmischen. Schließlich bekriegen sich die Staatsmächte der Völker. Nehmen wir nur die Ukraine, Kirgisien oder Grusinien (Georgien).

Meiner Ansicht handelt es sich bei dem Problem bezüglich der „Unsrigen“ und der „Fremden“, das zu Konflikten führt, um eine Angelegenheit, die durch die Staatsmacht provoziert wird. Der Eine muß unbedingt an die Macht gelangen, der Andere muß sich bewähren, um die Macht zu halten, und der Dritte – muß die existierende Macht aus dem Weg räumen. Und wir in unserer Schule, unserem Dorf, unserer Republik leben ruhig und in Frieden miteinander.

Schlußwort

Abschließend, indem wir das Gesagte verallgemeinern, möchten wir auf die These zurückkommen, die bereits zu Beginn dieser Forschungsarbeit ausgesprochen wurde. Welches sind die Voraussetzungen für ein konfliktloses Leben zwischen unterschiedlichen Religionen und den Ansichten verschiedener Nationalitäten in unserer Region?

Erstens ist da die den Ortsbewohnern innewohnenede Eigenschaft der ethnischen Toleranz, die Bereitschaft fremdartige Kultur anzunehmen, und zwar sowohl in materieller wie in geistiger Hinsicht.

Zweitens hat jedes Ethnos, das hier irgendwann einmal aufgetaucht ist, Elemente der nationalen Kultur von den Ortsansässigen übernommen. Oft kann man an den Kulturstätten der Chakassen Menschen anderer Nationalität sehen, die ebenfalls gelernt haben, die Geister von Feuer, Wasser und dem Berg zu nähren.

Drittens rufen Menschen eine gewisse Achtung hervor, die die Sprache der Ortsansässigen erlernt haben. Bei den Chakassen genießt ein solcher Mensch die Liebe und Ehrerbietung des gesamten Volkes.

Viertens werden sowohl in Schulen und Hochschulen, als auch an den Wohnorten verschiedene Veranstaltungen durchgeführt, vor das Vorstellen verschiedener Volkskulturen sehr begrüßt wird. Es entwickeln sich nationale Sportarten.

Mitte der 1990er Jahre begann man in Chakassien national-kulturelle Zentren der Deutschen, Polen und Tschuwaschen zu schaffen. Mehr und mehr interessierten sich die Menschen für ihre Kultur. Ein Mensch, der seine Kultur kennt, nimmt auch immer mit Interesse einen Menschen aus einer „fremden“ Kultur an. Ein Mensch, der seine Wurzeln nicht kennt, wird es nicht lernen, die Wurzeln eines anderen zu schätzen.

Bibliographie

1. Aktuelle Probleme der Geschichte des Sajan-Altai und der benachbarten Territorien.
Abakan, 2001

2. Aktuelle Probleme bei der Vorbereitung von Spezialisten in der Hochschule. Abakan, 1996

3. W.G. Karzow. Wovon erzählen die Hügel des Jenisej. Abakan, 1961

4. S.W. Kiselew. Kurzer Abriß der uralten Geschichte der Chakassen. Abakan, 1951

5. L.P. Kyslasow. Die Geschichte Chakassiens von der Urzeit bis 1917. Moskau, Wissenschaft, 1993.

6. Mündliche Zeugenberichte und Erinnerungen der Dorfbewohner von Ust-Kamyschta,  Republik Chakassien.


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