Autor: Roman Dremin
Städtische allgemeinbildende Einrichtung
„Rasswjetowsker Allgemeinbildende Oberschule“, 10. Klasse
Leitung:
N.K. Lawrentjewa, Lehrerin für Russisch und Literatur
Städtische allgemeinbildende Einrichtung
„Rasswjetowsker Allgemeinbildende Oberschule“
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die Repressionen – tragische Seiten der Geschichte
Die Personalakte des Urgroßvaters
Verbannung in der Tomsker Taiga
In der Verbannung
Zwei Leben – zwei Tode
Unbegründete Hoffnungen
Schlussbemerkung
Literaturangaben
Aktualität
Trotz der beträchtlichen Anzahl von Veröffentlichungen, welche die Repressionen der zwanziger und fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts betreffen, ist dieses Thema nach wie vor aktuell. Heute sind immer noch tausende Gerichtsakten nicht hervorgeholt und geöffnet worden. Der Schandfleck der Ungerechtigkeit ist bis heute nicht von den Menschen genommen, die während der Zwangskollektivierung unschuldig leiden mussten.
Diese Arbeit soll ein winziges Teilchen der Anerkennung, einen Tribut der Ehrerbietung an diejenigen, die auf ihrem Lebensweg alles ertragen haben, die nicht daran zerbrochen sind, nicht ihren Lebenshunger verloren haben und ihre menschliche Würde behalten haben. Es gibt die Geschichte – die grausame und harte; aber es muss auch eine helle und immerwährende Erinnerung an die uns Nahestehenden, die tragischen Zeiten unserer Geschichte, die Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten der Staatsmacht, die Geduld und den Fleiß der einfachen, vollkommen unschuldigen Menschen geben.
Problem: Während ich in den Archiven des Biriljussker Bezirks forschte, fand ich keinerlei Angaben über Rehabilitationen meiner Verwandten, sie sind auch nicht im Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen enthalten. Aus diesem Grunde beschloss ich, meine Forschungsarbeit dem Lebensweg mir nahestehender Personen zu widmen – der Familie meines Urgroßvaters. Für mich ist es wichtig, mehr über meine Vorfahren zu erfahren, zu verstehen, warum ihnen ein derartiges Schicksal beschieden und was der Grund dafür war. Aber das Wichtigste ist, dass ich ihren guten Namen wiederherstellen möchte, und alles, was mir als Ergebnis meiner Forschungen bekannt wird, soll von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Ziel der Arbeit: Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit für die Familie meines Urgroßvaters, die während der Zwangskollektivierung unschuldig leiden musste, und Verewigung des Gedenkens an sie.
Ausgehend von der Zielsetzung, stellten wir uns folgende Aufgaben:
1. Studium von Literatur und Dokumenten über die Ereignisse der dreißiger und
fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die im Zusammenhang mit der Geschichte der
politischen Repressionen standen.
2. Begegnung mit Dorfbewohnern die in jenen Jahren verfolgt wurden und deren
Befragung.
3. Studium der Personalakte des Urgroßvaters, der in den dreißiger Jahren des
20. Jahrhunderts verfolgt wurde.
Forschungsgegenstand: die Opfer der politischen Repressionen, die Geschichte der Familie meines Urgroßvaters
Forschungsobjekt: die Familie meines Urgroßvaters
Forschungsmethoden: theoretische und praktische
1. Theoretische
- Studium der Materialien des Buches der Erinnerung, Durchsicht von
Foto-Dokumenten, Informationsquellen
- Systematisierung
- Zusammenfassung
2. Praktische
- Suche
- Beschreibung
- Gegenüberstellung
- Analyse
- Synthese
- Verstehen
Geschichte – das ist die Erinnerung des Volkes, die davon Kenntnis gibt, was einmal war. Da ist die Geschichte Russlands, voller authentischer Größe und Erhabenheit, aber da ist auch die grausame und harte Geschichte. Einer der tragischsten Seiten der Geschichte Russlands waren die Verfolgungen in den dreißiger bis fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Bis heute gibt es keine genauen Zahlen über die Repressionsopfer. Offiziell sollen 4 Millionen Menschen verfolgt worden sein – von denen 800.000 den Tod durch Erschießung fanden.
Der Kurs in Richtung Kollektivierung wurde auf dem 15. Parteitag (Dez. 1927) verkündet. Sie sollte schrittweise und auf freiwilliger Basis realisiert werden. Man beabsichtigte, bis zum Jahr 1933 15-18% der Bauernhöfe in Kolchosen einbezogen zu haben. Doch die Zwangsmaßnahmen begannen bereits 1928. Stalin forderte die Organisierung von Kolchosen binnen kürzester Zeit [4]. Das Jahr 1930 sollte das entscheidende Jahr für die Verwirklichung einer umfassenden Kollektivierung sein. Deswegen ging Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein Stöhnen durch die Dörfer Russlands – man begann mit der Enteignung der Bauern und der nachfolgenden Aussiedlung aus den heimisch gewordenen Orten all derer, die mit dem Beitritt in die Kolchosen nicht einverstanden waren. Der Massencharakter der Aussiedlung von Bauernfamilien wurde nach der Verabschiedung der Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 01.02.1930 „Über Maßnahmen zur Festigung des sozialistischen Umbaus der Landwirtschaft in den Bezirken umfassender Kollektivierung und im Kampf gegen die Großbauernschaft“ auf den Weg gebracht. Insgesamt wurden in den Jahren 1930-1933 nach unterschiedlichen Einschätzungen bis zu 5 Millionen Menschen gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen [3]. Ein Teil wurde verhaftet und zum Tod durch Erschießen oder zur Lagerhaft verurteilt. 1.800.000 Personen wurden zu „Sondersiedlern“ in unbewohnten Bezirken des Urals, Sibiriens, Kasachstans. Bei den verbleibenden wurde der Besitz konfisziert, sie selber siedelte man in ihren Gebieten und Regionen an. Außerdem floh eine große Anzahl Bauern aus ihren Dörfern in größere Städte und in Industriebetriebe, wodurch sie sich vor den Repressionen, der Kollektivierung und dem Massenhunger retteten.
Aus unserem Bezirk Biriljussy wurden 116 Familien deportiert. Man schickte sie vorwiegend in die Region Tomsk. Die Geschichte der Familie meines Urgroßvaters Grigorij Jemeljanowitsch Sussalkin, der zu jener Zeit im Dorf Iwanowka, Bezirk Biriljussy, Region Krasnojarsk, lebte, war auch mit den Repressionen verbunden, denn das Schicksal meines Urgroßvaters ist untrennbar vom Schicksal des Landes.
Während der Arbeit an diesem Forschungsthema erfuhr ich mehr über meine
Vorfahren. Wie sie lebten, wie sie nach Sibirien gerieten, wie sie all die
Widrigkeiten des Lebens ertrugen, die auf ihr Los entfielen. Als ich mich im
Archiv eingehend mit der Namensliste der Wehrpflichtigen innerhalb des
Bolscheulujsker Amtsbezirks, des Dorfes Iwanowka, befasste, erfuhr, ich, dass
nicht nur mein Urgroßvater aufgrund der Stolypin-Reform aus dem Gebiet Gomel,
Uwarowsker Bezirk, Dorf Klenowza, nach Sibirien gekommen war, sondern auch sein
Bruder Sawelij Jemeljanowitsch (geb. 1895) und ihr Vater Jemeljan Antonowitsch
Sussalkin (mein Ururgroßvater). Im Raum Gomel waren landlose Bauern einem
hoffnungslosen Elend preisgegeben. Nachdem sie davon gehört hatten, dass es in
Sibirien eine Menge freien Bodens gab, zogen die Kleinbauern mit ganzen
Familienclans dorthin um.
Der Reichtum der Familie bestand in ihren schwieligen Händen und dem glühenden
Verlangen auf einem eigenen Stückchen Land wirtschaften zu können. Nach den
Erinnerungen von Uljana Grigorjewna Mazujewa: „Die Bauern waren ganz verrückt
von dem Überfluss an Land“…, und deswegen machten sie sich mit Feuereifer ans
Werk: sie begannen zu roden, zu bauen, den Boden umzupflügen. Und Mütterchen
Erde war großzügig, besonders in Iwanowka. Es schien, als ob man nur einen Pfahl
in die Erde stecken musste – und schon fing er an zu blühen. Die
Arbeitshungrigen Bauern arbeiteten bis zum Umfallen. Sie lebten in ärmlichen
Verhältnissen. In den ersten Jahren säten sie nur wenig, denn es fehlte an
Pferden, Pflügen und Saatgut. Ihre Kleidung nähten sie aus handgewebtem Leinen
(auf einem Teil des Landes hatten sie zu diesem Zweck Flachs angebaut.
Bastschuhe waren das einzige Schuhwerk der Umsiedler, ein Holzspan das einzige
Mittel, um in der Hütte ein wenig Licht zu bekommen. Nach und nach kam das Leben
irgendwie zurecht. Schon fingen sie an, sich Häuser zu bauen, sich eine kleine
Hofwirtschaft einzurichten und Bienenzucht zu betreiben, wobei sie der Taiga
immer mehr neuen Boden abrangen und diesen urbar machten. Die Bauernwirtschaft
wuchs dank des außergewöhnlichen Fleißes eines jeden Familienmitglieds. Kinder
wurden geboren, und im Falle des Urgroßvaters waren es sechs. Alle mussten
ernährt, gekleidet und mit Schuhwerk versehen werden. Alle arbeiteten, die
Erwachsenen bis zum Einbruch der Dunkelheit auf dem Feld, die Kinder im
Haushalt. Einmal kam es zu einem Unglücksfall. Als eine der Töchter des
Urgroßvaters, Natalia, sich am Ofen wärmte, geriet aufgrund von Unachtsamkeit
ihr Kleid in Brand. Erwachsene waren nicht anwesend; die Kinder waren
verzweifelt, konnten das Mädchen nicht retten, welches schwere Verbrennungen
erlitt.
Und dann kamen die dreißiger Jahre. Man begann mit der Organisierung von Kolchosen. Alle möglichen Leute gab es im Dorf. Manche arbeiteten bis zum Umfallen, ohne jemals die Hände in den Schoß zu legen, andere versuchten sich vor er Arbeit zu drücken. Aber gut leben – das wollten sie alle. Nun mussten sie ihre Milchkuh, ihre Pferde fortbringen, ihre Maschinen abgeben. Was sollte das denn! Der Urgroßvater war dazu nicht bereit. Er hatte einfach zu viel Arbeit hineingesteckt, zerrissen wurde sein Traum, sein eigener Herr zu sein. Der Urgroßvater wollte der Kolchose nicht beitreten, denn er allein konnte viel besser den Boden bewirtschaften, eine höhere Ernte erzielen, mehr Vieh halten und einen viel höheren Lebensstandard für sich gewährleisten.
Urgroßvater Grigorij Jemeljanowitsch war ein schroffer Mann; er mochte keine Menschen, die tranken oder die Arbeit mieden – und er verbarg diese Einstellung auch nicht. Er hatte in seiner näheren Umgebung sowohl Freunde, als auch Feinde. Daher geriet er schon bald auf die Kulaken-Listen. Er fügte sich nicht in das neue Gesellschaftsmodell ein und wurde somit zum Feind, zu einer unzuverlässigen Person.
Personalakte des Urgroßvaters
Abschrift einer Bescheinigung vom 21.09.1933 darüber, dass G.J. Sussalkins
Hof als Kulaken- (Großbauern-) Hof angesehen wird.
Liste der Kulaken-Familie (Urgroßvater, Urgroßmutter und ihre fünf Kinder)
Bei er Durchsicht der Personalakte des Urgroßvaters lese ich die Karte mit den entzogenen Wahlrechten, die vom 10.05.1930 datiert. In er Familie gibt es fünf Esser (und zu der Zeit kam das siebte Kind, der jüngste Sohn Stepan wurde geboren), Arbeitsfähige – zwei, außerdem 3 Kühe, 2 Pferde. 5 Schafe, 2 Schweine und 6 Rahmen-Bienenstöcke. Außerdem 5,40 Desjatinen an Saatfeldern. Auf dem Hof gab es eine Sämaschine, eine Mähmaschine, Harken, „die es Sussalkin gestatteten, die Bevölkerung auszubeuten“ – so stand es in der Abschrift aus dem Protokoll der außergerichtlichen Sitzung des Präsidiums des Bezirksexekutiv-Komitees in Biriljussy vom 05.05.1930, und in der Karte stand geschrieben, dass die jährlichen Einnahmen vom Verleih der Maschinen nicht ermittelt worden waren. In der Bescheinigung, die dem Urgroßvater darüber ausgehändigt wurde, dass sein Hof ein Kulaken-Hof wäre, schreiben sie, er habe „1927 Landarbeiter und 1928 und 1929 zudem 12 Tage lang Tagelöhner beschäftigt. Ein Teil der Leute haben für Honig gearbeitet, das genau festzustellen ist unmöglich“. Wenn es nicht möglich ist, dies genau zu ermitteln, ergibt sich die Frage: „Auf welcher Grundlage erfolgte die Enteignung?“ Gegenseitige Hilfe war für das russische Volk immer eine Ehrensache, und ganz besonders war das unter Verwandten der Fall; daher kamen während der Erntezeit oder Aussaat alle zusammen und halfen einander. Und man dankte den anderen auch stets für ihre Hilfe. Und womit konnte der Urgroßvater seine Dankbarkeit ausdrücken? Natürlich mit Honig; schließlich besaß er Bienenstöcke und verfügte über hilfreiche Maschinen: eine Getreidemähmaschine oder eine Dreschmaschine. Und außerdem stellte man in wohlhabenderen Familien häufig einen in ärmlicheren Verhältnissen lebenden Verwandten ein, um ihm zu helfen und ihn mit durchzufüttern. Dementsprechend half diese Person auch auf dem Hof – und so kam man auf die „Ausbeutung“. Als wir die Personalakte des Urgroßvaters durchblätterten, zählten wir zehn Abschriften aus verschiedenen Protokollen: des Wahlkomitees des Iwanowsker Dorfrats, das Protokoll einer Sitzung der Armengruppe, eine Versammlung der Dorf-Armen des Dorfes Iwanowka, der Kommission des Biriljussker Bezirksexekutiv-Komitees, die alle mehrmals zusammenkamen. Es ist offensichtlich, dass in dieser Angelegenheit nicht alles reibungslos verlief. Wir lesen das Protokoll der Armen-Versammlung vom 23. November 1930: „Wir haben Sawelij Akulenko angehört – Sussalkin wurden ungerechtfertigt die Wahlrechte entzogen, Michail Scharendo – das war nicht richtig, Loginowa – es war falsch, das zu tun, wir bitten darum, ihm die Rechte zurückzugeben“. Das Protokoll der Sitzung des Wahlkomitees des Iwanowsker Dorfrats vom 28.11.1930 wurde „festgelegt, dass er nicht dem Entzug des Wahlstimmrechts unterliegt, denn dies geschah aufgrund eines Fehlers nicht wegen der Nichtabgabe von überschüssigem Getreide an den Staat; 1927 verfüge er über 27 Tagelöhner, 1928 – über 15, 1929 arbeiteten vier Mann zu festgesetzten Preisen; es waren in erster Linie Arme, und deswegen ist dem Bürger Sussalkin das Wahlrecht zurückzugeben und sein Fall an das Bezirkswahlkomitee zur Überprüfung und Bestätigung weiterzuleiten“. Die Anordnung des Bezirkswahlkomitees blieb unbeugsam: Susalkin war in die Kategorie der Kulaken (Großbauern) einzuordnen. Die Einwohnerin des Dorfes Iwanowka, A.S. Martschenko, erinnert sich: „Aktivisten trieben Grigorka (Urgroßvater) mit den Kindern aus dem Haus und nahmen das ganze Hab und Gut mit. Der eine nahm sich die Kleidung, der andere irgendwelches Material; sie zwangen Jelisaweta (Urgroßmutter) sogar, ihre Ohrringe herauszunehmen.
Protokoll der Armen-Sitzung des Dorfes Iwanowka, Bezirk Biriljussy, vom
23.11.1930
Abschrift aus dem Protokoll N° 4 der Sitzung des Biriljusker
Bezirkswahl-Komitees, in dem steht, „ihn in der Liste derer,
denen das Wahlrecht
zu entziehen ist, gemäß § 16, Pkt A
als Ausbeuter fremder Arbeitskräfte stehen zu lassen“
Abschrift aus dem Protokoll der Kommission des Biriljussker
Bezirkswahl-Komitees zur Überprüfung der Verfahren
von Kulaken-Wirtschaften
Im September 1933 brachte man die ganze Familie nach Biriljussy – den Sammelpunkt für alle enteigneten Kulaken. Alle wurden auf einen Lastkahn getrieben und in die Tomsker Taiga geschickt. „Wir schwammen langsam flussabwärts“ – das sind die Erinnerungen meiner Großmutter Fedosja Grigorewna Pribanowa, die damals 18 Jahre alt war. Es war ihnen nicht erlaubt, irgendwelche Sachen mitzunehmen. Die Nachtfröste hatten schon früh eingesetzt, und die Verpflegung war dermaßen kümmerlich, dass sie ständig Hunger hatten. Unterwegs starb Stepan – er war drei Jahre alt. Sie hatten keine Möglichkeit ihn zu beerdigen. Sie warfen den Körper des Kindes, eingehüllt in die Jacke der Großmutter, über Bord. Sie kamen in das Gebiet Tomsk, in den Nowokuskowsker Bezirk, wo sie am Ufer des Flüsschens Tschitschkalo festmachten und abgeladen wurden. Die Siedlung, in der sie von nun an wohnen sollten, heß Biriljusskij, benannt nach dem Ort, aus dem sie gekommen waren. Die Kommandantur befand sich im 3.Suchoretschensker Abschnitt, 12 km entfernt. Schaut man sich die Karte des Tomsker Gebiets etwas genauer an, kann man sehen, dass die Nowokuskowsker Dorf-Siedlung im Südwesten an die Assinowsker Stadtsiedlung grenzt; dort befinden sich beträchtliche Vorkommen an Nutzholz und Torf in den lokalen Sümpfen (Archiv des Assinowsker Bezirks). Ringsherum nichts als Wald, Sumpf und Einöde. Es gab keine Behausungen. In aller Eile begannen sie Erdhütten auszuheben. Darin legten sie Tannenzweige aus, bauten sich Pritschen zusammen und stellten hastig Öfen auf. Sie arbeiteten in der Holzfällerei. Ihre wichtigsten Arbeitswerkzeuge waren Axt, Bügelsäge und Schaufel. Die Sondersiedler waren verpflichtet, die landwirtschaftlichen Flächen zu bearbeiten. In den zugewiesenen Abschnitten sollten sie den Wald abholzen, den Boden roden und das Wurzelwerk beseitigen. Die Männer zersägten das Holz, die Frauen hieben die Zweige ab. Die Arbeitsnorm betrug 2,5 Kubikmeter, aber sie schafften bis zu 5 Kubikmeter. Das Holz wurde auf dem Tschulym geflößt. Geld gab es für die geleistete Arbeit nicht, die Versorgung mit Lebensmitteln und Kleidung war schlecht. Vorgesehen waren 200 g Mehl am Tag, 100 g Kohl, 195 g Kartoffeln. Oft gab es nicht einmal das. Das Ganze ging schließlich so weit, dass sie das Fleisch von zu Boden gestürzten Pferden aßen. Sie begannen Hunger zu leiden. „Die Gefangenen essen jede Art von Abfällen, Schalen und anderen Schund. Aufgrund der unzureichenden Ernährung nahm die Zahl der Erkrankungen unter den Häftlingen zu. Die Leute werden zur Arbeit gebracht und fallen vor Schwäche einfach um…“ [2]
Die Bewohner der Dörfer und Vorwerke halfen so gut sie konnten. Tatjana Wassiljewna Nowikowa, Enkelin der enteigneten Großbäuerin Marina Iwanowna Krupskaja, erzählt, dass Omilein meine Mutter zu J.I. Ilina, die damals 12 Jahre alt war, zum 7-8 Kilometer entfernten Vorwerk schickte; dort lebten weitläufige Verwandte von einer Art Buttermilch (einer milchigen Flüssigkeit, die beim Schlagen von Butter entsteht), und weil sie Mitleid hatten, warfen sie sogar ein Stückchen Fleisch mit hinein.
Nacheinander wurden alle von Krankheiten niedergeworfen. Das unheilvolle Wort „Typhus“ brach über die Siedung herein. Auch die Urgroßmama erkrankte. Man brachte sie nach Suchoretschenskoje; dort befanden sich die Kommandantur und ein Lazarett. Die Großmutter berichtete, wie sie nach der Arbeit am Abend die 10 Kilometer zum Krankenhaus lief, um ihre Mama zu besuchen. „Sie ließen mich nicht hinein. Ich trat ans Fenster und sah hinein. Meine Mama hatte lange Haare, sie waren geflochten und hingen von der Pritsche bis auf den Boden herab. Mama trug ein weißes Hemd. Nachdem ich eine Weile dort gestanden und hineingeschaut hatte, lief ich die 10 Kilometer durch die Taiga wieder zurück“. Als Großmama das nächste Mal dorthin lief, war die Pritsche leer. Ihr Leben lang blieb sie traurig darüber, dass man sie nicht Abschied nehmen ließ, dass man ihr keine Gelegenheit gab, zum Abschied eine Handvoll Erde zu werfen. Die Urgroßmutter wurde in einem Gemeinschaftsgrab bestattet. Der Urgroßvater blieb mit vier Kindern zurück. Nachdem sie den Winter überlebt hatten, beschloss die Großmutter zu fliehen. Sie unternahmen den Versuch zu Beginn des Sommers. Doch das Schicksal ließ sie offensichtlich nicht aus dieser Gefangenschaft entkommen. Sie wurden von Wachen gejagt, gefasst und mit Seilen an Pferde gebunden – und so brachte man sie auch in die Siedlung zurück. Viele ergriffen die Flucht, vor allem Frauen mit Kindern, Mädchen. „Mein Omilein flüchtete mit zwei Kindern“, - erinnert sich T.W. Nowikowa. Die dritte Flucht fand Anfang Herbst statt. „Dieses Mal waren wir wachsam und vorsichtig, - erzählte die Großmutter, - wir gingen durch den Wald, nicht so dicht am Weg. Wieder gab es eine Verfolgung. Die Wachen waren zu Pferde unterwegs und sprachen untereinander: „Falls sie uns in die Finger geraten, werden wir sie an Ort und Stelle verprügeln“. Zwei Wochen lang liefen sie durch die Wälder. Wohin sie eigentlich liefen – das wussten sie nicht. Hauptsache sie würden aus dieser Zwangsarbeit fortkommen. Eine Rückkehr nach Iwanowka war gefährlich. Im Dorf Petrowka lebte eine Tante mütterlicherseits – Agafja Nikolajewna Kulagina. Sie war es dann auch, welche der Großmutter Unterschlupf gewährte. AL die Tante erfuhr, dass es ein Gesetz gab, nach dem Frauen, die geheiratet und ihren Nachnamen geändert hatten, keinerlei Verfolgungen ausgesetzt waren, fand sie einen Bräutigam für sie – den Neffen ihres Ehemanns Kirill Wassiljewitsch Gribanow. Und am 05.03. 1935 fand die Hochzeit statt – ganz bescheiden und in kleinem Kreis. So ging eine der schrecklichsten Seiten in der Lebenschronik meiner Großmutter zu Ende. Der Urgroßvater kehrte mit den Kindern 1937 zurück. Man erlautbe ihm nicht, sich in Iwanowka niederzulassen, sondern schickte ihn in das Sondersiedler-Dorf Bokowoje. Dort starb er dann auch. Das genaue Todesdatum ließ sich nicht feststellen. Beim Standesamt liegen in den Geburten- und Todesregistern keine Angaben vor. In den Aufzeichnungen über die Höfe in der Siedlung Bokowoje für das Jahr 1939 lassen sich ebenfalls keine Informationen finden.
Grigorij Jemeljanowitsch Sussalkin (nach der Verbannung mit seiner zweiten
Frau und ihren Kindern)
Nach dem Tode des Urgroßvaters nahm Großmama die beiden Brüder Wassilij und Aleksej auf. Bis zum Krieg wohnten sie bei ihr. In den Kriegsjahren hielten es „Kulaken-Söhne“ für ein großes Glück, an die vorderste Front zu kommen. Der Hass gegenüber dem Feind, der Wunsch wenigstens irgendwie der Roten Armee ein wenig zu helfen, erfuhren auch Großmutters Brüder Aleksej und Wassilij.
Das Schicksal verwöhnte sie nicht. Als sie noch kleine Kinder waren, erfuhren sie, was es bedeutet, enteignet worden zu sein, wie schwer es war, ohne Mutter aufzuwachsen. Trotzdem verbitterten sie nicht. Man kann sich nur wundern, wie sehr diese Kinder sich anstrengten, um zu überleben, ihre Persönlichkeit zu wahren und echte Menschen zu bleiben, um ein wenig von der Weisheit der Erwachsenen zu sammeln, das man sich seine Heimat nicht aussuchen kann, sie aber liebt und verteidigt und dabei vielleicht sogar sein Leben opfert. Nachdem er sein Alter um ein Jahr höher angegeben hat, zieht Großmamas Bruder Wassilij an die Front. 9 Monate diente er – dann starb er am 9. März 1944. Begraben wurde er im Dorf Korostowo im Wolotschinsker Bezirk. Gebiet Chmelniza in der Ukraine. Nachdem Aleksej Grigorjewitsch Sussalkin im Januar 1942 die Betriebsfachschule absolviert hatte, wurde er an die Front einberufen. Er dient als Panzerschütze auf einem T-34 beim 2. Panzer-Zug der 89. Panzer-Brigade. Er wird zum Sergeanten ernannt. Am 3. Februar 1944, bei der Einnahme der Ortschaft Beljanki im Gebiet Witebsk, wurde sein Panzer beschossen; er kämpfte bis zur letzten Patrone. Augenzeugen-Berichten zur Folge verbrannte er in seinem Panzer. Zwei Leben, zwei Tode mit nur einem Monat Unterschied. So kämpften „feindliche Elemente“, „Kulaken“. Lange wurde der Todesbescheid von einem der Brüder verwahrt, doch dann ging er mit der Zeit verloren. Aber im Gedächtnis meiner Großmama blieben sie bis an ihr Lebensende verankert. Ihre Fotos werden in unserem Familienalbum verwahrt. Naive Kindergesichter. Jeder von ihnen hatte sein eigenes Vorkriegsleben mit Freud und Leid verbracht, mit Träumen und Hoffnungen, die sich nicht hatten verwirklichen können.
Aleksej Sussalkin (rechts)
Wassilij Grigorjewitsch Sussalkin. 1943.
Aleksej Grigorjewitsch Sussalkin. Ausbildung an der
Betriebsfachschule. 1942.
Im Verlauf der Forschungsarbeit „Die Repressionen im Schicksal der Familie meines Urgroßvaters“ wurden unterschiedliche Materialien, Dokumente, Fotografien, Erinnerungen von Verfolgten und ihrer Angehörigen studiert. Während ich an der Geschichte der Familie einer Vorfahren forschte, konnte ich mir das ganze Ausmaß der Repressionen nicht vorstellen. Eine Menge Zeit ist vergangen, bei vielen sind Fotos, Briefe, all das, was die Leute im gewohnten Leben umgab, aus verständlichen Gründen nicht erhalten geblieben. Lediglich die Erinnerungen und die Stempel „Tochter oder Sohn eines Volksfeindes“, welche sie jahrelang verfolgten, sind geblieben. Als er Staat anfing, von Rehabilitation und Schadensersatz zu sprechen, waren es nicht mehr viele, die diesen Tag erlebten. Im Jahre 1991 wurde das Gesetz „Über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen“ verabschiedet. Im ganzen Land wurden Kommissionen zur Wiederherstellung der Rechte Rehabilitierter geschaffen. Großmama wandte sich an die Innenbehörde der Region Tomsk mit der Bitte, sie zu rehabilitieren, doch es kam die Antwort „Wir verfügen über keinerlei Informationen in Bezug auf die Aussiedlung G.J. Sussalkins und seiner Familie sowie seinen Verbleib in Sonderansiedlung…“
Und auch im Buch der Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen in der Region Krasnojarsk wird nichts über die Familie Sussalkin gesagt; daher ist diese Arbeit ein kleines Pünktchen der Anerkennung, der Ehrerbietung ihnen gegenüber, die auf ihrem Weg alles ertragen haben, nicht daran zerbrochen sind, nicht den Hunger auf Leben verloren und ihre menschliche Würde bewahrt haben. Die den „Sondersiedlern“ auferlegte schwere körperliche Arbeit erschütterte die Gesundheit der Kinder, nahm ihnen ihre Kindheit, die Möglichkeit eine vernünftige Ausbildung und eine ordentliche Arbeit zu bekommen – sie veränderte ihr ganzes Leben. Aber viele wurden deswegen nicht herzlos, sondern wahrten die Erinnerung und gaben sie an die Nachfahren der Geschichte ihres Lebens weiter. ne Großmutter Fedosja Grigorewna Gribanowa wurde 86 Jahre alt. Bis ans Ende ihrer Tage behielt sie ihren scharfsinnigen Verstand, ihr klares, phänomenales Gedächtnis, wobei sie ihr Leben lang bedauerte, keine Ausbildung erhalten zu haben. Sie behielt in ihrer Seele stets den Glauben an die Gerechtigkeit, die Liebe zur Heimat, Ehre und Würde. Sie war keine Vorgesetzte oder Führerin, doch sie war immer nach Kräften bemüht, anderen Menschen zu helfen. Sie zog gute und fürsorgliche Kinder groß, glaubte an Gott, wurde nicht verbittert und haderte auch nicht mit dem Schicksal. Sie starb im Jahr 2000. Sie wurde ausgezeichnet mit den Regierungsorden „Für heldenhafte Arbeit im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945“, der Jubiläumsmedaille „50 Jahre Sieg im Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945“. Die Seelenstärke, der Mut, der Fleiß und der Lebensmut meiner Verwandten, welche die Feuerproben der Geschichte durchlaufen mussten, stützen auch uns, die wir in der Gegenwart leben. Man möchte sich zutiefst vor ihnen allen verneigen und ihnen „danke“ sage.
Meine Großmama Fedosja Grigoewna Gribanowa (rechts). 1961.
Fedosja Grigoewna Gribanowa (2000).
Man möchte sie alle namentlich nennen,
Aber sie haben die Listen weggenommen, und man wird sie nie erfahren.
Eine große Decke habe ich für sie gewebt
Aus dürftigen Worten, die nicht bis an ihr Ohr herandringen.
Ich erinnere mich an sie immer und überall,
Ich werde sie auch in neuem Elend nicht vergessen.
A. Achmatowa
Es gibt sie, die grausame und raue Geschichte. Aber es muss auch eine gerechte, helle und ewige Erinnerung an die Nahestehenden geben, an die tragischen Zeiten unserer Geschichte, an die Grausamkeit und Ungerechtigkeit der Staatsmacht, der Behörden, an die Geduld und den Fleiß der einfachen Menschen, die sich überhaupt nichts zu Schulden kommen ließen.
Die theoretische und praktische Bedeutung der vorliegenden Arbeit definiert sich dadurch, dass die Ergebnisse zum Gedenken an jene verwendet werden können, die in die Mahlwerke der Staatsmaschinerie gerieten, die die Repressionen erlebt und die Herausforderungen des Schicksals in Würde ertragen haben – wie meine Verwandten, die vom Staat nicht rehabilitiert wurden, aber von den anderen Bewohnern im Dorf geachtet, geliebt und geschätzt waren. Ich bin sehr stolz auf meine Großväter und Großmütter. Sie alle haben großen Respekt verdient. Das zusammengetragene Material könnte für einen breiten Leserkreis interessant sein, die sich mit der Geschichte Russlands, ihrer Familie, ihrer Region, ihrem Bezirk beschäftigen; aus diesem Grunde wurde das Material ans Bezirksmuseum übergeben und kann im Schulunterricht, in den Lehrstunden der Weisheit, in Literatur- und Geschichtsstunden zum Thema „Stalinistische Repressionen“ zur Verwendung gelangen.
1. W.N. Semskow. Das Schicksal der „Kulaken“-Verbannung, Nowosibirsk, 2001,.
– S. 20
2. S.A. Papkow. Der Stalinistische Terror in Sibirien 1928-1941. Nowosibirsk,
1997
3. A.N. Jakowlew. Rehabilitation. Politische Prozesse in den 1930er-1950er
Jahren, M. 1991
4. Die Geschichte Russlands des 20. Jahrhunderts. Schulenzyklopädie; Redaktion
A.W. Schubin. Moskau, Olma Press
5. L.N. Lopatin, N.L.Lopatina. Kollektivierung und Entkulakisierung in den
Erinnerungen von Augenzeugen. – Moskau, 2006, S. 523.
6. Enzyklopädie der Region Tomsk, Bd. 2 (2009), Band ASinLag
7. Buch der Erinnerung, Bd. 1, „Niemand vergisst…“, Bd. 3 (1941-1945)
8. N.A. Laktionowa. Stellt ein Denkmal für das Dorf auf. – Krasnojarsk, 2004.
9. gato.tomica.ru
10. asino@asino.tomsknet.ru
11. Wikipedia.com
- Angaben aus dem Biriljussker Archiv und den Archiven der Region Tomak
- Zeitung „Neuer Weg“, N° 31, 2011 und 2009, N° 7