Kommunale staatliche Bildungseinrichtung
Oberschule Gornij
Autorin:
Jewgenia Galmis
Schülerin der 10. Klasse
Kommunale fiskalische Bildungsstätte / Oberschule Gornij
Siedlung Gornij, Atschinsker Bezirk
Leitung:
Irina Iwanowna Konowalowa
Deutsch-Lehrerin
Leiterin des Schulmuseums
1. Einführung
2. Hauptinhalt, Die Verfolgungen in der UdSSR. Die Repressionen in der Region
Krasnojarsk
2.1. Die Verfolgungen im Schicksal der Dorfbewohner
2.2. Die Verfolgungen im Schicksal von F.K. und L.J. Scheinmeier
2.3. Die Verfolgungen im Schicksal von M.T. Popowaja
2.4. Die Verfolgungen im Schicksal von M.A. Felsinger
3. Schlussbemerkung
4. Liste der Verfolgten
5. Literaturangaben
6. Anhang
Geschichte – das ist die Erinnerung des Volkes, die Auskunft darüber gibt, was einmal gewesen ist. Und gewesen ist alles Mögliche. Es gab Dinge, auf die wir mit Recht stolz sein dürfen, die wir sorgsam bewahren, vor denen wir uns verneigen, aber es gab auch andere Ereignisse, über die wir es vorziehen zu schweigen.
Wir leben in dem großen und großartigen Russland. Mich, als Staatsbürgerin, versetzt das Schicksal meiner Heimat, ihre Geschichte, ihre Vergangenheit und Gegenwart in Aufregung. Doch ohne Kenntnis ihrer Wurzeln und Quellen, ohne das Bestreben die abgerissenen Verbindungen zwischen den Zeiten und Geschehnissen wiederherzustellen, ist es nicht möglich, über den Zweck, den Auftrag der Geschichte, über den Platz des Menschen in der Gesellschaft nachzudenken.
Ich lebe im Atschinsker Bezirk. Das ist meine kleine Heimat. Wir sollten nicht nur die Geschichte Russlands, sondern auch die unserer kleinen Heimat kennen, um die Zukunft zu prognostizieren, Einfluss auf die Entwicklung, Gesellschaft, Politik zu nehmen und das Leben besser zu machen. Die Geschichte kennen oder kennenlerne ist sehr interessant. Die Fähigkeit, Ereignisse der Vergangenheit zu analysieren, gibt uns den Schlüssel zu der Kunst, die weitere Entwicklung stattfindender Ereignisse vorauszusehen. Die Geschichte Russlands steckt voller authentischer Größen. Wir sind stolz auf den kämpferischen Ruhm und die ausgezeichneten Arbeitsergebnisse, die wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften unserer Vorfahren, die Russland ihre Kraft, ihre Talente und ihren Mut gaben. Die Geschichte unserer Region, unseres Bezirks, unseres Dorfes ist untrennbar mit der Geschichte unseres Landes verbunden. Alles, was sich in Russland ereignet hat, hat sich stets auf unsere kleine Heimat ausgewirkt und sich in ihr widergespiegelt. Wir sind stolz auf unsere Landsleute, die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges und die Arbeitender und Werktätigen im Hinterland. Über sie ist im Museum unserer Schule eine Menge Tatsachen-Material gesammelt.
In den vielen Jahrhunderten der Existenz unseres Staates gab es nicht wenige Siege, aber auch viele traurige Ereignisse: Kriege, Aufstände, Massenverbannungen. Doch die politischen Repressionen gehören zu den tragischsten Seiten in der Chronik des Landes und der Region des 20. Jahrhunderts. Allein vom 23. August 1937 bis zum 15. Juni 1938 wurden in der Region Krasnojarsk 11620 Menschen erschossen, 5439 in Lager geschickt. In diesen Jahren wurden 500.000 Sondersiedler in die Region Krasnojarsk verschleppt. Unter ihnen befanden sich Deutsche aus dem Wolgagebiet und der Ukraine, Litauer, Letten, Esten, Finnen, Tscherkessen, Polen, Weißrussen, Russen… [3]
Und wie viele Bauern wurden während der Kollektivierung „aus Sibirien nach Sibirien“ gebracht.
Im Geschichtsunterricht, bei Exkursionen in den Museen stieß ich nicht ein einziges Mal auf das Thema „Repressionen“. Dieses Thema interessierte mich sehr, und deswegen beschloss ich, über diese Ereignisse mehr Einzelheiten zu erfahren. Das, was ich dabei über meine Landsleute in Erfahrung bringen konnte, zwang mich dazu, meine kleine Heimat und das Schicksal der Menschen mit ganz anderen Augen zu sehen.
Beim Lesen der Literatur zur Geschichte unserer Siedlung entdeckte ich, dass die Thematik der repressierten Menschen noch wenig erforscht ist und viele Fragen in diesem Zusammenhang noch ungeklärt sind.
Die Aktualität des Themas hängt damit zusammen, dass sich gegenwärtig der Übergang der Gesellschaft von einem Zustand in einen anderen vollzieht. Unter diesen Bedingungen werden viele Ansichten und in der historischen Wissenschaft stehengebliebene Situationen einer Prüfung unterzogen, welche unter anderem auch eine Beleuchtung des Themenkreisen für sowjetischen Historiker darstellen – Kollektivierung und politische Verfolgungen. Die Zahl der Augenzeugen dieses blutigen Dramas wird immer weniger.
Am 30. Oktober begeht Russland den Tag es Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen. Erst nach vielen Jahrzehnten hat die Gerechtigkeit gesiegt und alle wurden rehabilitiert. Doch diese Jahre lassen sich nicht aus der Geschichte fortwischen. An diesem Tag gedenkt unser Land all derer, die den politischen Verfolgungen ausgesetzt waren. Wir glauben, dass unser Interesse an der betreffenden Tragödie und ihren Folgen, die Millionen Schicksale berührten, völlig verständlich ist. Beinahe in jeder Familie gab es Verwandte oder nahestehende Menschen, die in ungesetzlicher, grausamer Weise verfolgt wurden und die besten Jahre ihres Lebens in Gefangenenlagern verbrachten. Eine derart schreckliche Geschichte und eine derart mörderische Tyrannei eines einzelnen Menschen gibt es wohl nicht noch einmal und es hat sie auch bei keinem anderen Volk der Welt gegeben.
Lange Zeit war dieses Thema verschlossen, streng geheim. Man war bemüht, nicht darüber zu sprechen, sich nicht zu erinnern, nicht darüber zu diskutieren. Erst Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts begannen sich die unbekannten Seiten der Vergangenheit allmählich zu öffnen. [2] Als ich die Geschichte der Entstehung unseres Dorfes studierte, erfuhr ich, dass zahlreiche Einwohner Umsiedler aus dem europäischen Teil Russlands sind. Sie gerieten infolge der Repressionspolitik in unsere Region, die unser Staat in den 1930er bis 1950er des vergangenen Jahrhunderts führte. Doch die Informationen über diese Menschen barg einen bruchstückhaften Charakter in sich. Die vorliegende Arbeit ist den Menschen in unserem Dorf gewidmet, die durch den blutigen Fleischwolf der Repressionen gedreht wurden.
Auf diese Weise definierte ich das Thema unserer Forschungsarbeit: „Die Schicksale von Menschen, die unter den stalinistischen Verfolgungen zu leiden hatten“.
Hypothese: Wir vermuten, dass die Verfolgten nicht zufällig in unser Dorf gelangten; sie verstanden es, ihr Recht auf Leben zu verteidigen, ihre Originalität und Kultur zu bewahren.
Ziel: das Leben derer zu erforschen, die politischen Repressionen ausgesetzt waren, ihr Schicksal anhand von Beispielen meiner Dorfmitbewohner zu erkunden und das Andenken an die Opfer politischer Repressionen zu wahren.
Aufgabenstellung:
1. Literatur und Dokumente über die Ereignisse der zwanziger bis fünfziger
Jahre des 20. Jahrhunderts, die mit der Geschichte der politischen Repressionen
zusammenhängen, studieren.
2. Sich mit einst verfolgten Dorfbewohnern oder ihren Verwandten treffen und zu
den Ereignissen jener Jahre befragen. Informationen sammeln und Erinnerungen
aufzeichnen.
3. Eine Liste der Verfolgten erstellen.
4. Das gesammelte Material im Rahmen einer Forschungsarbeit darlegen.
5. Die fertige Arbeit Schülern und Bewohnern der Siedlung präsentieren, in den
Menschen Mitgefühl und Verständnis für die Schicksale der Verfolgten erwecken.
Forschungsmethoden:
Suche, Analyse, Aufbereitung, Auswertung, Beschreibung, Befragung, Verarbeitung
der Informationen
Eine Neuheit der Arbeit besteht darin, dass das Studium der stalinistischen Repressionen hier nicht nur mit Hilfe von Lehrbüchern realisiert wurde, sondern durch lebhafte Unterhaltungen mit Teilnehmern dieser Geschehnisse, Arbeit mit Archiv-Angaben, vorhandenen Fotos und historischen Dokumenten.
Gegenstand der Forschung: die Erinnerungen einst verfolgter Menschen
Forschungsobjekt: Die stalinistischen Repressionen 1930-1952
Die Repressionen sind eines der tragischsten Seiten in der Chronik unseres Landes und unserer Region. Million Staatsbürger Russlands mussten Hunger, Leid und Entbehrungen durchmachen. Die Ereignisse jener Zeit, die viele Familien betrafen, bleiben ein Leben lang in der Erinnerung. Das System der Repressionen verschonte niemanden: weder Kinder noch Erwachsene – und auch nicht Analphabeten oder Vorgesetzten, nicht einmal Vertreter dieses Systems selber. Schwere Arbeit ab der frühesten Kindheit in „Sonder-Siedlungen“ erschütterte die Gesundheit der Kinder, nahm ihnen ihre Kindheit in den Heimatorten, die Möglichkeit, eine würdige Ausbildung und Arbeit zu erhalten. Unberechtigten Verdächtigungen und das Misstrauen der Umgebung begleiteten sie im Verlauf ihres gesamten Lebens. Doch viele Menschen bekamen keine hartherzige Seele; sie bewahrten ihre Erinnerung und gaben die Geschichte ihres Lebens an die Nachfahren weiter.
Viele Jahre wurde über die Zeit der politischen Verfolgungen in der UdSSR geschwiegen. Bis heute gibt es keine genauen Zahlen über Repressierte, Erschossene. Offizielle lauten die Zahlen: 4 Millionen Personen wurden verfolgt, 800.000 erschossen; dabei machte die politische Elite unter ihnen 5% aus, die übrigen waren Bauern, Arbeiter, Angehörige der Intelligenz
Ende der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts ging ein qualvolles Stöhnen durch die Dörfer Russlands – man begann mit der Entkulakisierung der Bauernschaft und der ihr folgenden Aussiedlung aus den angestammten Heimatorten. Massen-Charakter nahm die Aussiedlung der Bauernfamilien nach der Verabschiedung der Anordnung des Zentralen Exekutiv-Komitees und des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 01.02.1930 „Über Maßnahmen zur Festigung des sozialistischen Umbaus der Landwirtschaft un den Bezirken umfassender Kollektivierung und im Kampf gegen das Großbauerntum“. Insgesamt waren in den Jahren 1930-1933 nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 3 und 4,5 Millionen Menschen gezwungen, ihre Heimatdörfer zu verlassen. Ein Teil von ihnen war verhaftet und zum Tod durch Erschießen oder zu Lagerhaft verurteilt worden. 1.800.000 Personen wurden „Sondersiedler“ in den unwirtlichen Regionen des Europäischen Nordens, des Urals, Sibiriens und Kasachstans. Den Verblieben entzog man ihren Besitz und siedelte sie verstreut innerhalb der Grenzen ihres Gebiets an.
Unter den verbannten in der Region Krasnojarsk befanden sich 32.000 Polen, 30.000 Balten, 65.000 Wolga-Deutsche sowie 35.000 hierher verschleppte Kulaken (wohlhabende Großbauern; Anm. d. Übers.).
Der Anteil der politischen Gefangenen in der Region machte 20-25% aus, außerdem gab es Sektierer und Kleinkriminelle. Insgesamt durchliefen 228.000 Verfolgte unsere Region, davon kamen 50.000 über Atschinsk. Unser Bezirk blieb von den Mühlsteinen des Genozids, der Vernichtungsmaschinerie des eigenen Volkes, die von Stalin und seinem Umfeld erfunden wurde, nicht verschont. Zahlreiche ehrbare Arbeiter des Atschinsker Bezirks wurden Opfer der stalinistischen Repressionen. Sie wurden von den örtlichen „Troikas“ des NKWD verurteilt. [1]
Eine traurige Seite in der Geschichte ganzer Völker wurde geschrieben, als etwa eine Million Menschen aus ihren traditionsgemäßen Wohnorten (Wolga, Kaukasus, Ukraine) in entlegene Bezirke Sibiriens, Mittel-Asiens und Kasachstans verschleppt wurden. Die Einen wurden als potentielle Helfershelfer des Feindes ausgesiedelt. Dabei handelte es sich um Koreaner, Deutsche, Griechen, Ungarn, Rumänen. Andere beschuldigte man der Mittäterschaft zugunsten der Deutschen während der Okkupation: Krim-Tataren, Kalmücken, Völker des Kaukasus. Den größten Maßstab nahmen diese administrativen Deportationen während des Krieges, zwischen 1941 und 1945, an. [2]
Die Schicksale der in dieser Arbeit vorgestellten Dorfnachbarn sind sehr verschiedenartig. Aber es gibt etwas, das sie alle miteinander vereint – die politischen Verfolgungen.
Die Grundlage für meine Arbeit bilden Interviews mit Bewohnern unserer Siedlung. Es gelang uns, von vielen Begegnungen Video-Material aufzuzeichnen. Wenn wir uns mit Menschen treffen, welche die Repressionen miterlebt haben, dann zeigen sie uns immer alter Familien-Fotos. Sie erschüttern uns jedes Mal: Menschen, die gerade erstbegonnen haben ihren Lebensweg zu gehen …. Glückliche Gesichter …ungetrübte Augenblicke …
Und weiter? Die schreckliche Wirklichkeit zahlreicher Lager, in denen sich ihr Leben fortsetzte. Sofern man es als Leben bezeichnen kann.
In unserer Siedlung Gornij wohnen seit jenen fernen Zeiten der stalinistischen Repressionen noch Menschen, die den Verfolgungen ausgesetzt waren, ihre Kinder, ihre Enkel, Menschen unterschiedlicher Nationalitäten: verbannte Deutsche aus Leningrad, Kalmücken, Finnen, Latgalen sowie Wolga-Deutsche. Jene Jahre, jene Zeit erwecken in ihnen keine guten Erinnerungen.
Die Aktivisten des historischen Heimatkunde-Museums der kommunalen fiskalischen Bildungsstätte Gornij, der Oberschule für allgemeine Bildung, haben Material über die Repressierten gesammelt (in dieser Beziehung ist unsere Siedlung einzigartig), haben Museumsstunden durchgeführt, die dem Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Verfolgungen gewidmet waren, bei denen man zu Begegnungen mit am Leben geblieben Augenzeugen jener schrecklichen Jahre einlud. Obwohl es Menschen anderer Nationalität, anderen Glaubens, anderer Überzeugungen sind, achten wir, die Bewohner des Dorfes, sie, begeistern uns für ihren Fleiß und werten die Aussagen „warum wurden wir verfolgt, wessen haben wir uns schuldig gemacht?“ als stillen Vorwurf. Ihr habt euch keinerlei Vergehen schuldig gemacht; man hat euch aus der Heimat verschleppt, weil ihr Deutsche, Kalmücken, Ukrainer wart.
Am meisten erschütterten uns die Berichte derer, die einst in der Trudarmee gearbeitet haben, und davon gab es in unserer Siedlung 11. Einer von ihnen ist Fjodor Karlowitsch Scheinmaier. Die außergewöhnliche Arbeitsfähigkeit und Ordentlichkeit dieses Mannes versetzten uns in Erstaunen. Nachdem er sich bereits in Rente befand, war Fjodor Karlowitsch an unserer Schule weitere 9 Jahre als Mitarbeiter tätig. Immer akkurat, stets hilfsbereit, erledigte er gewissenhaft seine Arbeit und blieb so in der Erinnerung der Schüler und Schulbeschäftigten unvergesslich. Er und seine Ehefrau Lidia Jakowlewn erzählten uns von ihrem Leben. Ihre Erinnerungen haben wir in dem Album „Nur den Namen gab man ihnen zurück“ zusammengestellt, das im Schulmuseum verwahrt wird. Aus Lidia Jakowlewnas Erinnerungen erfuhren wir folgendes:
„Ich wurde am 10. August 1923 geboren. Bis zum Kriegsausbrauch führten wir in gutes Leben im Gebiet Saratow. 1937 bekamen wir eine Tagesarbeitsleistung 18 kg Weizen, außerdem Wassermelonen, Kürbisse, Sonnenblumenöl. Ich wohnte nur 12 Kilometer von Fjodor Karlowitsch entfernt. Ich wohnte in dem Dorf Schumeika, er in Krasnij Jar.
Vater Jakob Petrowitsch und Mutter Anna Jakowlewna
Mein Vater hieß Jakob Petrowitsch, meine Mutter Anna Jakowlewna. Die Brüder arbeiteten in der Fabrik. Ich habe vier Klassen in der deutschen, eine Klasse in der russischen Schule absolviert.“. Aus den Erinnerungen von L.J. Scheinmaier. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen waren gut. Nie wird sie diesen schrecklichen Tag des 1. September 1941 vergessen. An jenem Tag sollten alle das Dorf verlassen; nur Kleidung durften sie mitnehmen. Der Vater befand sich zu der Zeit beruflich auf Reisen, und Lidia Jakowlewna hatte Angst, dass sie sich verpassen könnten. Der Vater kehrte jedoch rechtzeitig zurück. Alle Dorfbewohner wurden auf Fuhrwerke verladen; zu beiden Seiten standen Soldaten, welche sie bis zur Bahnstation begleiteten. Den ganzen Tag warteten sie auf den Zug. Jeweils 45 Personen wurden auf einen Viehwaggon geladen. „Uns transportierten sie über die Nebenstrecke, denn auf den Hauptgleisen fuhren die Züge mit technischen Ausrüstungen für die Front. Eine Toilette gab es im Zug nicht, seine Notdurft konnte man nur dann verrichten, wenn der Zug unterwegs anhielt, und das geschah nur für sehr kurze Zeit (3-5 Minuten). Diese Scham kann ich bis heute einfach nicht vergessen“. Aus den Erinnerungen von L.J. Scheinmaier.
Einen Kurz-Halt gab s auch in der Stadt Omsk, die am Irtysch gelegen ist. Dort wurden sie auf Lastkähne verfrachtet. Es fällt schwer sich vorzustellen, dass ihr neuer Aufenthaltsort eine einzige Baracke sein sollte, in der beinahe alle Bewohner aus ihrem Dorf untergebracht wurden. Eineinhalb Kilometer entfernt befand sich das Tataren-Dorf Retschanoje. Den Vater holten sie am 5. Dezember 1941 in die Arbeitsarmee. Lidia Jakowlewna erhielt die Benachrichtigung für ihre Einberufung in die Trudarmee am 5. Januar 1942. Auf dem Weg nach Tscheljabinsk blieben sie auf einem Abstellgleis stehen. Dort vernahm sie zufällig ein Gespräch darüber, dass einige Deutsche aus Krankheitsgründen nach Hause entlassen worden waren. Den ständig hungrigen Repressierten gab man gesalzenen Fisch zu essen, woran die meisten Menschen starben. Auf diesem Abstellgleis sah Lidia Jakowlewna in den Waggon menschliche Leichen.
„Wir gelangten bis nach Tscheljabinsk“, fährt sie in ihren Erinnerungen fort. „Dort arbeitete ich als Dreherin in einer Rüstungsfabrik. Es war eine schwere Arbeit, jeden Tag verbrachten wir 12 Stunden auf den Beinen. Innerhalb dieser Zeit sollte ich die Norm erfüllen und 350 Geschosse am Fließband abfertigen, jedes mit einem Gewicht von 78 Kilogramm. Später wurde die Norma auf 550 Geschosse angehoben. Sie wurden in Kisten verpackt, auf Waggons verladen und an die Front geschickt. Die Fabrikarbeiter erhielten einen Passierschein, den sie auf keinen Fall verlieren durften – ansonsten hätten wir die Fabrik nicht mehr verlassen dürfen. In Briefen durfte man nur Gutes schreiben und vor allem kein einziges Wort über die Rüstungsfabrik. Ich opferte der Fabrik meine drei allerbesten Jahre und bekam dafür nie eine Gegenleistung. Zusammen mit den Russen warteten wir nur auf den Sieg. Ich arbeitete im Hinterland, gab aber all meine Kraft für die Front. Oft lobten sie mich für meine Arbeit und sagten, dass meine Geschosse uns dem Sieg näher bringen würden“… Aus den Erinnerungen von L.J. Scheinmaier.
Und vor ihr lag der 30. August 1945 – der Tag, an dem sie ihren zukünftigen Ehemann Fjodor Karlowitch kennenlernte.
Fjodor Karlowitsch wurde am 17.März 1921 im Gebiet Saratow, Bezirk Engels, Dorf Krasnyj Jar, geboren. Er wuchs in einer kinderreichen Familie auf. Die Mutter hieß Jekaterina Iwanowna, der Vater Karl Karlowitsch, und Fjodor Karlowitsch hatte drei Brüder und zwei Schwestern. Die ganze Familie arbeitete in der Kolchose. Die Brüder verrichteten ihre Arbeit mit Pferderechen.
„Im Oktober 1940 schickten sie mich vom Bezirkskomitee der Komsomolzen-Organisation aus zur Ausbildung für 6 Monate in die Stadt Engels, wo ich an Telegrafisten-Kursen teilnehmen sollte. Dort arbeitete ich bis zur Einberufung in die Armee an einem Telegrafen. Sie mobilisierten mich zum aktiven Heer in die Mongolische Volksrepublik, und zwar zu den Ingenieur- und Techniker-Truppen. Im März 1941 beendete ich die Regimentsschule und wurde Abteilungskommandeur. Im Frühjahr wurde die Truppe näher an die mandschurische Grenze, an den Fluss Chalchin-Gol, verlegt, wo wir Brücken bauen sollten. Kommandeur der Division war Hauptmann Korput. An einem Juni-Tag, um 10 Uhr morgens, wurden wir darüber informiert, dass Hitler in Russland einmarschiert war. Wie viele andere Rotarmisten auch, schrieb ich ein Gesuch für meine Verlegung von der Ost- an die West-Front, wor die Schlacht gegen die Deutschen im Gange war. Der Kommandeur nahm den Antrag nicht an. Er sagte: „Wenn es erforderlich ist, wird man euch auch ohne Papier nehmen…“. Aus den Erinnerungen von F.K. Scheinmaier.
In der Mongolei befand sich Fjodor Karlowitsch bis zum 12. September 1941. Auf Befehl Stalins wurden alle Deutschen in die Trudarmee geschickt. „ fünf- bis sechstausend von uns wurden zusammengesucht, und dann wurden wir auf Güterwaggons nach Kemerowo abtransportiert. Dort zwang sie uns, vier Tage lang Mohrrüben und Kartoffeln zu ernten,. Dann luden sie uns erneut auf Waggons und schickten uns ins Gebiet Nowosibirsk, in das Dorf Ormjakowo, wo wir Holzbeschaffungsarbeiten erledigen sollten. Dort arbeitete ich bis zum 1. Dezember 1942“. Fjodor Karlowitsch erinnert sich schmerzlich an jene schrecklichen Jahre. Fast wäre er an Hunger und Kälte gestorben. Sie bekamen nur Haferbrei zu essen, und die Menge war zudem äußerst gering. Anstelle von Filzstiefeln trugen sie im Winter leichte Stiefelchen – und konnten die etwa bei minus 50 Grad einen Menschen warmhalten?
„…bei strengem Frost wurden die Stiefel zu Stein. Statt eines Halbmantels – ein dünnes Mäntelchen, statt einer warmen Ohrenmütze – eine Schirmmütze. Tassen stellten sie mit einer gewöhnlichen Axt aus Holzklötzen her“… Aus den Erinnerungen von F.K. Scheinmaier.
Von seinen Bekannten erfuhr Fjodor Karlowitsch rein zufällig. An der Bahnstation Taiga begegnete er einem Landsmann. Der erzählte ihm, wie man die Deutschen nach Kasachstan, Krasnojarsk, Nowosibirsk, und Altaisk verschleppt hätte. Viele mussten ihre Kinder im Alter bis zu drei Jahren bei Bekannten oder Verwandten zurücklassen, die nicht der deutschen Nationalität angehörten, oder sie in Kinderheime geben. Schreien und Stöhnen war im Saratower Gebiet zu vernehmen, als man den Müttern die Kinder fortnahm. Der Landmann übergab Fjodor Karlowitsch Familie die Adresse. „Ich schrieb der Mutter einen Brief, auf den ich eine Antwort erhielt. Sie schrieb, dass sie bei der Eisenbahn im Dorf Kamenka arbeite. Den Vater hatten sie in die Trudarmee geholt, zur Holzfällerei im Kirowsker Gebiet – zusammen mit Kaspar Andrejewitsch Grisman. Holz mit der Hand zu sägen ist eine sehr schwere Arbeit. Sie mussten die Bäume auch fällen und anschließend abtransportieren, Baumstümpfe roden; außerdem kochten sie in der Arbeitsarmee Teer, bauten Lastkähne und Boote. In seinem letz6ten Brief teilte der Vater mit, dass er nach Hause kommen würde, weil er krank wäre. Doch die Familie sah ihren Ernährer zu Hause nie wieder…“. Aus den Erinnerungen von F.K. Scheinmaier.
1944 zog Fjodor Karlowitschs Mutter in die Sowchose um, denn hier gab man ihnen auch für die nicht arbeitenden Familienmitglieder Getreide. Bruder Karl holten sie in die Trudarmee in die Stadt Karpinsk im Gebiet Swerdlowsk. Dort arbeitete er beim Kanalbau. Von dort wurde er wegen Krankheit nach Hause entlassen. Das zweite Mal mobilisierten sie in zur Trudarmee an der Station Reschoty. Von dort flohen er und Alexander Pletzer. Der Bruder begann als Schmied in einer Kolchose zu arbeiten. Über all das erfährt Fjodor Karlowitsch aus einem Brief der Mutter. „Nach den Arbeiten in der Holzbeschaffung kam mein Leben mit der schweren Arbeit im Schacht in Berührung. 1942 war ich am Bau einer Eisenbahnlinie zu den Bergwerken beteiligt. Für 1200 Gramm Brot und Suppe ging ich freiwillig im Schacht arbeiten. Aufgrund der Nässe war die Kleidung immer feucht und schwer. Ohne Mittagspausen baute ich auch am Kanal bei der Stadt Kopeisk mit“ … Aus den Erinnerungen von F.K. Scheinmaier.
Im Jahr 1945 wurde bekannt, dass nicht weit von ihnen entfernt Mädchen deutscher Nationalität leben. Sie arbeiten in der Rüstungsfabrik und produzieren do0rt Geschosse. Und nach einem scheren Arbeitstag erholen sich die jungen Leute beim Tanz. „Ich ging mit meinen Freunden Iwan Maier und David Keil zum Tanzen. Lida hatte an solchen Tanzveranstaltungen bis zu dem Zeitpunkt noch nie teilgenommen, aber jetzt ging sie auch dort hin. Da waren ungefähr dreihundert Leute – und sie haben einander dort gefunden. Meine Freunde fanden bei diesen Tanzvergnügen ebenfalls ihre zukünftigen Ehefrauen. Ich forderte sie zu einer Polka auf, danach tanzten wir einen Walzer. Es war Liebe auf den ersten Blick, wir lernten uns am 30. August 1945 kennen. Unsere Ehe ließen wir registrieren, nachdem ich sie am 23. Januar 1946 offiziell dazu aufgefordert hatte zu mir zu kommen“… Aus den Erinnerungen von F.K. Scheinmaier.
Um s8ich für das gemeinsame Leben mit Fjodor Karlowitsch ein wenig fein machen zu können, fing Lidia Jakowlewna an zwei Fließbändern an zu arbeiten. Das war sehr schwer. Für die Erledigung beider Arbeiten bekam sie Halbschuhe, sechs Meter Stoff und ein Bettlaken. Und als Zugabe für die beiden jungen Leute - ein einziges Kissen. So begann ihr Familienleben, über alle Probleme wurden gemeinsam entschieden, wobei jeder die Schultern des anderen an sich lehnen fühlte. Die junge Familie lebte anfangs im Bergmannsstädtchen. Fjodor Karlowitsch bereitete zusammen mit anderen Arbeitern der Trudarmee eine Stelle für einen neuen Schacht vor.
„1954 schlug Mama vor in die Sowchose umzuziehen. Sie überzeugte uns davon, dass das Leben dort leichter wäre. Die Baracke, in der wir wohnten, bestand aus einem 12 Quadratmeter großen Zimmer und einer Küche von 4 Quadratmetern Größe. Hier lebten alle Kinder, Enkel und ich mit meiner Familie; Lidia und ich hatten 7 Kinder.
Später bekamen wir unsere eigene Wohnung in einem neuen Haus. Ich arbeitete als Tischler, Meister, Vorarbeiter. Als ich bereits in Rente war, arbeitete ich noch neun Jahre an der Schule aus Installateur; meine Tochter Lena überredete mich dazu, denn sie war dort als Wirtschaftsleiterin tätig. Alle sieben Kinder wuchsen als fleißige, freundliche Menschen auf, die stets Eigeninitiative zeigten. Jedes hat seine eigene Familie. Insgesamt haben wir 15 Enkel und 16 Urenkel – und es gibt sogar schon Ururenkel“… Aus den Erinnerungen von F.K. Scheinmaier.
Die Arbeit zu lieben, gut zu lernen, die Eltern zu respektieren – das sind die Eigenschaften, die das Oberhaupt der großen Familie Scheinmaier seinen Kindern, Enkeln und Urenkeln vermittelte.
Auch das Los der verbannten Ukrainer wog schwer. Aus den Erinnerungen der verfolgten Ukrainerin Matrena Timofejewna Popowa.
„Unsere Familie bestand aus sieben Personen. Von Kindheit an veränderte das Schicksal mein Leben. Vater starb. Alles ging schief.. Mama heiratete einen anderen Mann. Wir hatten unser eigenes Haus, Arbeit und ein sechs Zehntel großes Stück Land. Für alles mussten wir bezahlen. Wenn die Kinder herangewachsen waren, gingen sie arbeiten. Ich arbeitete im Schweinestall – den ganzen Tag, von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. Es gab nur wenige Arbeitskräfte, die Belastung war groß. Wir lebten gut, doch eines Tages geriet unser ganzes Leben durcheinander. Am 2.August 1941, nichts von dem herannahenden Unheil ahnend, machte ich mich auf den Weg, um Pilze zu suchen. Es war ein klarer, schöner Tag. Als ich gegen Mittag nach Hause zurückkehrte, bemerkte ich die leere Hütte mit weit geöffneten Fenstern. Unschlüssig begab ich mich zum Dorfrat, denn von dort scholl Lärm und Schluchzen herüber. Ich sah die anderen Dorfbewohner, ihre erschrockenen Kinder. Ohne uns die Sachlage zu erklären brachten sie uns alle zur Bahnstation, verluden uns auf Waggons und transportierten mit unbekanntem Ziel ab. Die Menschen fürchteten sich, sie weinten, sangen Lieder. Einen ganzen Monat waren wir bis nach Krasnojarsk unterwegs; die Stadt war nicht so groß: es gab einfache Häuser, Baracken. Aus Krasnojarsk brachte man uns mit einem Schiff in den Hohen Norden. Sie brachten uns in dem Dorf Kureika unter. Nach und nach lebten wir uns dort ein. Wir wohnten in Erdhütten. Unsere Nachbarn erwiesen sich als Letten. Es gelang mir, mich heimliche eine Zeit lang in dem Haus aufzuhalten, in dem einst Stalin lebte. Mein Leben lang werde ich die kleine Hütte mit der hölzernen Wiege, der Sitzbank und den an den Wänden hängenden Fangeisen und Gewehren in der Erinnerung behalten“… Aus den Erinnerungen von M.T. Popowa.
Nach der Rehabilitierung zog Matrena Timofejewnas Familie nach Gornij. Mit ihnen ging auch die große Familie Woitowitsch. Hier bauten sie sich ihre eigens Häuschen in der Zentralnaja-Straße. Matrena Timofejewna ging auf der Geflügelfarm arbeiten, anschließend in den Schweinestallungen; vor dem Eintritt ins Rentenalter war sie als Technikerin in einem Geschäft tätig. Viele Erschwernisse gab es im Leben der Matrena Timofejewna Popowa; die Jahre vergingen, mit der Zeit begann si vieles zu vergessen, doch der Tag des 2. August bleibt für immer in ihrem Herzen verankert.
Aber niemals wird sie den „großen Führer aller Völker“ dessen beschuldigen.
Die Schicksale der verfolgten Menschen unterschiedlicher Nationalität sind außergewöhnlich schwierig. Doch ungeachtet all der durchgemachten Schwierigkeiten, sind sie stolz und unabhängig. Hier das Schicksal einer weiteren Frau – Minna Andrejewna Felsinger.
Minna Andrejewna wurde für sieben lange Jahre zur Arbeit in der Trudarmee mobilisiert. „Alle deutschen Männer im Alter von 15 bis 55 Jahren sowie alle deutschen Frauen wurden einberufen und zu Arbeitskolonnen zusammengestellt. Viele kehrten nie mehr zurück, und diejenigen, die wieder nach Hause kamen, waren kranke Menschen. Zuerst hoben sie Gräben für eine Erdölleitung aus. Die Norm für den ausgehobenen Boden pro Tag belief sich auf zwei Meter Länge, einen Meter Breite und zwei Meter Tiefe, - erinnert sich Minna Andrejewna. Ich war 17 Jahre alt, als ich in die Arbeitsarmee kam. Arbeitswerkzeuge waren – Brechstange, Schaufel und Spitzhacke. (Es gelang ihr, diese Spitzhacke von dort mitzunehmen, und nun befindet sie sich im Heimatkunde-Schulmuseum. Anm. d. Autorin). Erfüllst du die Norm nicht, bekommst du auch kein Essen. Die Arbeit war für Frauen nicht geeignet, es war Schwerstarbeit, Zwangsarbeit. Ich musste auch Baumstämme aus dem Eis herausmeißeln und sie dann auf einen Lastkahn verladen. Aufgrund der ständigen Durchnässung erkrankte ich an Malaria. Ich trug Säcke mit Zement, eine Arbeit, die selbst die Kräfte vieler Männer überstieg. So viele Jahre danach muss ich immer wieder darüber nachdenken, woher wir die ganze Kraft genommen haben, um eine solche Arbeit zu erledigen. Wahrscheinlich kam uns unsere Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges und eine Wiederbegegnung mit unseren Verwandten zu Hilfe. Vom Sieg erfuhr ich am 9. Mai 1945. An diesem Tag löschten wir ein Feuer in der Taiga. Aus lauter Freude warfen wir unsere Werkzeuge umher und dachten, dass nun die Freiheit käme, dass wir in unsere Heimat an der Wolga zurückkehren könnten. Doch alles kam ganz anders“… Aus den Erinnerungen von M.A. Felsinger.
Die Zeit verrann, aber sie fühlten sich auch weiterhin als Gefangene. Denn es war unerlässlich, sich auch weiterhin regelmäßig in der Kommandantur zu melden.
Sie verließen Sibirien erst 1948. Spitzhacke, Schaufel und Brechstange mussten sie mitnehmen und erneut Zwangsarbeit leisten – noch weitere drei Jahre lang. In all diesen Jahren arbeitete Minna zusammen mit ihrer Mutter und Schwester Lida. Die feindlich gesinnte Kommandantin, eine Deutsche, wollte uns trennen, die Mama an einen anderen Arbeitsplatz schicken, aber entgegen dem Willen der Kommandantin gelang es uns trotzdem beisammen zu bleiben. In Kasachstan blieben die minderjährigen Brüder Viktor und Wasja sowie Schwester Mila. Nach dem Krieg erfuhren sie, dass sie an einer Vergiftung und an Hunger starben. Die Kinder hatten Ähren aufgesammelt, und die waren giftig gewesen. „Bis heute ist nicht bekannt, wer die jüngeren Geschwister beerdigt hat; die ganze Familie war in der Trudarmee“… Aus den Erinnerungen von M.A. Felsinger.
Als die alte Frau während der Begegnung im Museum davon erzählte, weinte sie; so schwer wurde ihr bei der Erinnerung ums Herz. Mina Andrejewna erinnert sich, wie zerrissen die Filzstiefel waren, aber mit bloßen Füßen ging sie nicht zur Arbeit. Besagte Kommandantin entzog ihr daraufhin 25% der Essensration für den gesamten Monat. Hier in Sysran begegnete sie ihrem zukünftigen Mann Fjodor. Er war ein hochgewachsener, stattlicher, schöner Mann. Sie sahen sich zum ersten Mal beim Tanz. Ungeachtet des schwierigen Lebens, mochte sie gern singen und tanzen. In der Arbeitsarmee wurde Sohn Viktor geboren. Ab 1949 lebte die Familie in der Siedlung „Gornij“. Mina Andrejewnas Mann arbeitete als Schmied, sie selbst fuhr Stallmist, verrichtete Arbeiten auf den Frühbeeten. In der Siedlung wurden auch noch drei Töchter – Lida, Tamara und Elvira – geboren. Die Familie wahrte ihre Traditionen und Gewohnheiten: sie feierte Weihnachten, Ostern und im Oktober das Erntedankfest.
Wie viele Herausforderungen auf das Los der repressierten Dorfmitbewohner entfielen! Es war ein langer, schwarzer Streifen in ihrem Leben. Wie viele qualvolle Jahre mussten sie erleben, wie viel durchmachen – denn schließlich blieb niemand verschont, nicht einmal die kleinen Kinder. Als wir das Material für unsere Arbeit sammelten, war es so, als ob wir die Menschen noch einmal dazu zwangen, diese für sie so schwierigen Zeiten zu erleben.
Viele von ihnen sind bereits alt und krank, wir mussten ihre Erinnerungen aufzeichnen und uns dafür zu ihnen nach Hause begeben. Es gab Tränen, und es herrschte eine unvorstellbare Schwere. Wir hatten Mitleid mit ihnen und fragten uns jedes Mal aufs Neue: „Wie konnten die Menschen so etwas durchstehen?“
In der Siedlung lebten verbannte Kalmücken, bis heute heißt die Stelle um den Ortsteich „Kalmücken-Grund“. Die Enkel der Kalmücken, ihre Urenkel besuchen unsere Schule. Material über das Leben der verbannten Kalmücken wird auch von Mitgliedern der Museumsforschungsgruppe gesammelt.
Hier leben auch Verwandte einst verbannter Finnen: die Familien Kuronen und Roine. Emil Andrejewitsch Roine lebte im Gebiet Leningrad und leitete dort den Kujsowsker Klub. 1938 wurde er Repressionen ausgesetzt. Er verbüßte seine Haftstrafe im Gebiet Magadan an der Kolyma. „Wir wohnten in einer Baracke ohne Fenster und ohne Toiletten; man hatte uns dort wie „Heringe in ein Fass“ gestopft, - erinnerte sich Emil Andrejewitsch; täglich wurden die Kranken und Schwachen erschossen, und mitunter wurde ganz schlicht und ergreifend jeder Zehnte abgezählt. Ich kam 1951 frei und war berechtigt, mich nur innerhalb der Region Krasnojarsk nieder zu lassen. Hier heiratete ich, nachdem ich mir als Frau die ebenfalls repressierte Witwe Maria Friedrichowna Franz mit ihren vier Kindern ausgesucht hatte. 1968 wurde ich rehabilitiert. In den Dokumenten stand geschrieben „Nicht schuldig“. Aus den Erinnerungen von E.A. Roine.
Emil Andrejewitsch und Maria Friedrichowna zogen noch zwei weitere Kinder groß. Sohn Andrej wurde Soldat, Tochter Anna – Chemielehrerin.
An unserer Schule arbeiten die Kinder und Enkel einst verfolgter Menschen – es handelt sich um die Chemie- und Biologie-Lehrerin Anna Emiljewna, die Grundschullehrerinnen Natalia Iwanowna Bondar und Tatjana Michailowna Baranowskaja, den Arbeitskundlehrer Viktor Friedrichowitsch Diehl, die Deutschlehrerin Irina Iwanowna Konowalowa, die Bibliothekarin Lidia Aleksandrowna Kalinina sowie die Wirtschaftsleiterin der Schule Jekaterina Karlowna Andrejewa. Hinter jedem der Nachnamen steht eine gesonderte Geschichte, aber gemeinsam ist ihnen das Schicksal unserer leidgeprüften Heimat.
Ziel der vorliegenden Arbeit war das Studium der Besonderheiten in den Schicksalen der in unserem Dorf lebenden einstigen Verfolgten. Wir haben gemeinsam mit dem Projektleiter versucht zu beweisen, dass diese Menschen überleben, dieses innere Kernstück bewahren konnten, die man Menschlichkeit nennt. Als Ergebnis unserer Arbeit an dem Thema bestätigte sich unsere Hypothese, dass die Repressierten nicht rein zufällig in unserer Ortschaft gelangten; sie alle konnten nach Abschaffung der Meldepflicht in der Kommandantur dort niederlassen, wo Bekannte und Verwandte auf sie warteten; sie machten ihre Rücke krumm, zerbrachen jedoch nicht, sondern verstanden es vielmehr, ihr Recht auf Leben, ihre Eigenarten und ihre Kultur zu wahren.
Die schwierigen Bedingungen des sibirischen Lebens konnten sie nicht in Angst und Schrecken versetzen, denn sie büßten die Lebendigkeit ihres Verstandes ein und verstanden es, sich im Leben nützlich zu machen. Es lohnt sich allein, sie um ihre Standhaftigkeit und Beherrschtheit zu beneiden; nicht jeder ist in der Lage, all das zu erdulden, was sie ertragen haben – und dabei auch noch, im wahrsten Sinne des Wortes, Mensch zu bleiben.
Es ist ihnen nicht nur gelungen zu überleben, sondern sich auch die Ehre und
den Respekt ihrer Umgebung zu verdienen.
Erst am 28. Februar 1856 wurden alle Deutschen auf Grundlage eines Ukas des
Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 15. Dezember 1955 aus der
Zwangsansiedlung entlassen.
Der Staat gab seine Schuld in Bezug auf die Verfolgten zu. 1991 wurde das Gesetz „Über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen“ verabschiedet.
Der 30.Oktober ist der Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen. An diesem Tag finden im ganzen Lande Gedenk-Veranstaltungen, Versammlungen und Zusammenkünfte statt, an denen auch Politiker und gesellschaftliche Akteure, Menschenrechtler, ehemalige politische Gefangene, Jugendliche, Verwandte und Nahestehende jener Menschen teilnehmen, die einst politischen Verfolgungen ausgesetzt waren. Da Vergessen ihrer Vorfahren, der Wunsch, nichts über sie erfahren, um ihr Schicksal nachempfinden zu können, kann nicht nur für jede einzelne Familie traurige Folgen haben. Die Geschichte eines Landes setzt sich aus kleinen Familiengeschichten zusammen. Wir studieren die Geschichte, um ihre Fehler nicht zu wiederholen. Aber es ist unsere Pflicht, unsere Vergangenheit unvoreingenommen in Ordnung zu bringen. Ein Mensch, der ins Stolpern geraten ist, sieht stets zu, dass er die Gründe für seinen Sturz erfährt und so eine Wiederholung vermeiden kann. „Um ein Leben in der Gegenwart beginnen zu können, muss man erst die Vergangenheit wieder gut machen“, - sagte der Schriftsteller Anton Tschechow. Und das lässt sich nur durch Glaubwürdigkeit und Erinnerung bewerkstelligen.
Insgesamt gesehen kam ich während der Arbeit an dieser Thematik zu nachstehenden Schlussfolgerungen:
- Im Lande fanden in erheblichem Umfang Repressionen statt
- Das Schicksal vieler meiner Dorfmitbewohner und ihrer Verwandten hängt mit den
politischen Repressionen zusammen, welche das Leben dieser Menschen in
bedeutendem Maße beeinflussten.
- Gemeinsam mit den Eltern litten auch die Kinder, die, ebenso wie die
Erwachsenen, Hunger und Kälte, Elend, Unglück und Schwerstarbeit durchmachen
mussten.
- Die zusammengestellten Listen der Repressierten werden weitergeführt und
ergänzt.
- Das aufgezeichnete Video-Material ist von großem Wert, denn es handelt sich um
die lebendige Stimme von Menschen, die diese schwere Etappe im Leben des Landes
am eigenen Leib erfahren haben.
Da jedes Jahr im Schul-Museum der „Tag des Gedenkens an die Opfer politischer Repressionen“ durchgeführt wird, kann die hier vorliegende Arbeit für den Museumsunterricht, aber auch von den Klassenlehrerinnen im Geschichtsunterricht verwendet werden.
Wir laden noch am Leben befindliche Zeugen jener schrecklichen Jahre zu Begegnungen ein. Als Mitglied des Museumrats war ich daran interessiert, Material über Menschen mit einem auch für die damalige Zeit interessanten schweren Schicksal zusammen zu tragen. Mit großem Schmerz erinnern sich die Menschen an diese Zeit ihres Lebens, aber keiner von ihnen denkt im Zorn daran zurück oder hegt Groll gegen die Sowjetmacht. Die Leute, welche die schrecklichen Jahre der Repressionen durchgemacht haben, bejammern weder die Vergangenheit noch die Gegenwart. Sie sind gutmütig und aufmerksam. Und sehr häufig sind sie in schwierigen Minuten als erste zum Helfen zur Stelle. In der Regel sprechen sie nur selten über jene Zeit – noch nicht einmal mit den Verwandten. Über vieles aus ihrer schweren Vergangenheit sind häufig nicht einmal ihre eigenen Kinder im Bilde. Ihre Erinnerungen an das vergangene Leben teilen sie verbunden mit dem Wunsch, Lehren für die Kinder und Enkelkinder daraus zu ziehen, für die Bestätigung der Rolle, die sie in den Ereignissen der Vergangenheit gespielt haben, für die Selbstrechtfertigung in den Augen der Zeitgenossen. Mit jedem Jahr wird ihre Zahl weniger, doch jene Zeit bleibt in der Erinnerung haften, und das heißt – auch in unserer. Denn es ist schließlich bekannt, dass, wenn man die Geschichte vergisst, sie sich eines Tages wiederholen wird. Diese Arbeit besitzt eine Perspektive und ist in dieser $Richtung auch noch nicht beendet. Vor uns liegen noch viele bisher nicht stattgefundene Begegnungen in der heimatlichen Siedlung, den Nachbarorten Orlowka und Berjosowka sowie dem Studium von Archiv-Materialien. Die Dorfbewohner wahren das Gedenken an die Menschen, die in den Jahren der Repressionen zu leiden hatten.
1. Aromatschewa, Anna Kasparowna
2. Aul, Emilia Andrejewna (Trudarmee)
3. Aul, David Davidowitsch (Trudarmee)
4. Beller, Iwan Genrichowitsch
5. Beller, Emilie Andrejewna
6. Buss, Anna Andrejewna
7. Buss, Emilia Iwanowna
8. Diehl, Maria Kasparowna
9. Diehl, Friedrich Andrejewitsch
10. Diehl, Fjodor Davidowitsch
11. Dinkel, Alexander Alexandrowitsch
12. Eidemiller, Emilie Jakowlewna
13. Felbusch, Anna Iwanowna
14. Felbusch, Karl Iwanowitsch
15. Felsinger, Amalia Genrichowna
16. Felsinger, Fjodor Jakowlewitsch
17. Felsinger, Jekaterina (Katharina) Kasparowna (Trudarmee)
18. Felsinger, Mina Karlowna (Trudarmee)
19. Franz, Viktor Friedrichowitsch
20. Fritz, Irma Friedrichowna
21. Fritz, Viktor Johannowitsch
22. Fritz, Fjodor Kasparowitsch
23. Gafner (Hafner?), Bogdan Bogdanowitsch
24. Gorn (Horn?), Andrej Andrejewitsch
25. Gorn (Horn?), Maria Friedrichowna
26. Grismann, Kaspar Andrejewitsch (Trudarmee)
27. Grismann, Sophia Fjodorowna
28. Groo, Anna Friedrichowna
29. Hofmann, Lidia Friedrichowna
30. Jordan, Jekaterina (Katharina) Friedrichowna
31. Jordan, Karl Iwanowitsch
32. Kinstler, David Davidowitsch
33. Kinstler, Anna Friedrichowna
34. Kinstler, Anna Davidowna (Trudarmee)
35. Kinstler, Emilia Alexandrowna
36. Kolesnikowa, Emilia Andrejewna
37. Kufeld, Genrich (Heinrich) Gottfriedowitsch
38. Kuronen, Aleksandr Aleksandrowitsch
39. Laubach, Kaspar Friedrichowitsch
40. Lewscha, Anna Friedrichowna
41. Loresch, Maria Fjodorowna (Trudarmee)
42. Merz, Alexander Iwanowitsch
43. Müller, Irma Friedrichowna
44. Müller, Viktor Friedrichowitsch
45. Nikonjez, Fjodor Wasiljewitsch
46. Nikonjez, Anastasia Kusminitschna
47. Pechowa, Lidia Larlowna
48. Porschenko, Anna Genrichowna
49. Popowa, Matrjona Timofejewna
50. Ritter, Friedrich Iwanowitsch
51. Ritter (Genrich (Heinrich) Genrichowitsch
52. Schawrin, Nikolaj Iwanowitsch
53. Schawrina, Jekaterina Iwanowna
54. Scheinmaier, Fjodor Karlowitsch (Trudarmee)
55. Scheinmaier, Lidia Jakowlewna (Trudarmee)
56. Schnaider, Lidia Kondratjewna
57. Staigerwaldt, Jekaterine (Katharina) Iwanowna
58. Tregubowa, Matrjona Wasiljewna
59. Wald, Iwan Davidowitsch
60. Wald, Lina Kasparowna
61, Wamboldt. Lidia Andrejewna (Trudarmee)
62. Wischnewskaja, Irma Andrejewna
1. Archiv der Abteilung Sozialfürsorge bei der Stadtverwaltung: Fragebogen,
Dokumente, Listen, Adressen verfolgter und rehabilitierter Staatsbürger der
Stadt Atschinsk und des Atschinsker Bezirks.
2. Archiv der Atschinsker Abteilung der Allunionsgesellschaft „Memorial“ beim
städtischen Kargapolow-Heimatkunde-Museum.
3. A.A. Gordon, E.W. Klopow „Was war das?“ Gedankengänge zu den
Grundvoraussetzungen zund Ergebnissen dessen, was mit uns in den 1930er und
1940er Jahren geschah. Verlag Moskau, politische Literatur, 1989.
4. Buch der Erinnerung an die Opfer politischer Repressionen der Region
Krasnojarsk. Buchverlag „Verlagsprojekte“, Krasnojarsk, 2004.
5. Erinnerungen von F.K. und L.J. Scheinmaier
6. Erinnerungen von M.T. Popowa
7. Erinnerungen von M.A. Felsinger
8. Erinnerungen von E.A. Roine
In diesem Anhang befinden sich Fotografien der Familie von Fjodor Karlowitsch Scheinmaier.
Fjodor Karlowitschs Mutter Jekaterina Iwanowna (zweite von rechts, obere
Reihe) und Frauen aus demselben Dorf, die im August 1941 in ein- und demselben
Waggon nach Sibirien ausgesiedelt wurden.
Fjodor Karlowitsch (erster von links), seine Brüder Ewald, Karl und deren
Kinder
An einem Tisch versammelten sich Fjodor Karlowitschs Verwandten
mütterlicherseits.
In der Familie wurde viel und gern gesungen, und Musikinstrumente waren ein
nicht weg zu denkender Teil der Familie – wenn die Menschen „umzogen“, kamen sie
immer mit
(Dorf Orlowka im Atschinsker Bezirk, 1959)
Fjodor Karlowitschs Familie (alle Kinder) mit Freunden
Lidia Jakowlewna und Fjodor Karlowitsch im wohlverdienten Ruhestand
Fjodor Karlowitsch mit seinen geliebten Enkelkindern Tatjana, Oksana und
Lilia
Sohn Aleksander und Tochter Liana, Tochter Jelena zu Besuch bei den Eltern,
1998
Die Familie wurde vervollständigt durch die beiden Urenkel Nikita und Artur.
1995 erhielten Fjoor Karlowitsch und Lidia Jakowlewna zu Ehren des Sieges-Tages von W.M. Subowa, dem Oberhaupt der Regionalverwaltung, Dankesschreiben für ihre mutige Arbeit in den Jahren des Krieges, weil sie dadurch den Sieg näher gebracht hatten.