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Die Asche unserer Lieben und die Gräber unserer Vorväter

Verfasserin: Alena Petrowna Holzmann, Schülerin der 11. Klasse an der allgemeinbildenden Oberschule Nr. 12 in Nowotroizkoje, Kreis Minusinsk, Region Krasnojarsk.

Leiter: Oleg Nikolajewitsch Dmitrienko, Geschichtslehrer an der allgemeinbildenden Oberschule Nr. 12 in Nowotroizkoje, Kreis Minusinsk, Region Krasnojarsk.

2004

Alle Menschen befinden sich von Anfang an
und noch bevor irgendwelche Gesetzesakte
erlassen werden, im Besitz von Land, d.h. sie
haben das Recht, sich dort aufzuhalten, wo die
Natur herrscht oder wohin der Zufall sie
verschlagen hat.
Kant

Zwei Gefühle sind uns erstaunlich nahe –
aus ihnen gewinnt das Herz seine Nahrung –
es sind dies die Liebe zur Asche der
Verwandten und die Liebe zu den väterlichen
Gräbern.
A. Puschkin

Nachfolgend das Gespräch, das zwischen einem Mädchen und seiner Großmutter Maria Holzmann stattfand:

- Oma, befindet sich die Asche deiner Lieben eigentlich in Deutschland?

- Nein, mein Enkeltöchterchen, die Asche meiner Lieben liegt in ganz Rußland verstreut, von der Wolga bis ganz nach Sibirien.

- Und wo befinden sich die Gräber unserer Vorväter?

- Auch sie sind in ganz Rußland verstreut.

- Großmama, aber wo ist denn nun unser eigentliches Zuhause – in Deutschland oder in Rußland?

- Meine Heimat liegt an der Wolga, aber das Zuhause ist dort, wo wir leben und leben werden.

So ungefähr gestaltete sich im Jahr 2000 die Unterhaltung zwischen einem 11-jährigen Mädchen und seiner 86-jährigen Großmutter Maria Petrowna Holzmann, Mädchenname Kruk, die im russischen Omperium geboren und Zeugin des stürmischen Aufbaus der sowjetischen Ordnung und des Sowjet-Regimes wurde, bis 1941 in der ASSR der Wolga-Deutschen lebte und dann aus der Zeitung erfuhr, dass „sich offenbar unter der deutschen Bevölkerung der ASSR zahlreiche Spione und Diversanten befinden“ und aufgrunddessen „die wolgadeutsche Republik aufzulösen und deren deutsche Bevölkerung in andere Gegenden der Sowjetunion auszuweisen sei“.

Mit dieser Nachricht fing das in der Sowjetunion lebende deutsche Volk an, sein schweres Kreuz zu tragen, das ihm aufgrund seiner nationalen Merkmale auferlegt worden war. Es setzt ein großer Aufbruch der deutschen Bevölkerung aus ihren festen Wohnorten, und anschließend auch aus dem Lande ein, das im 18. Jahrhundert zu ihrer Heimat geworden war. Meinen Vorfahren, die man im Jahre 1941 gewaltsam aus ihrem kulturellen und historischen Lebensraum fortriß, wurde ein ungeheurer Stoß versetzt, der ihre Nation in eine gewaltige Erschütterung versetzte und zu einer schrecklichen Tragödie führte. All dies löste letztendlich eine Bewegung aus, welche wir heute als Massenausreise nach Deutschland erleben, wo die Menschen ihren endgültigen festen Wohnsitz einnehmen wollen. Vielleicht wird man nicht einer Meinung mit mir sein, aber es kommt mir so vor, als ob man die Ereignisse des Jahres 1941 sowohl als riesigen Exodus der Deutschen aus Rußland als auch als Prozeß der Rückkehr an ihre historischen Ufer bezeichnen kann.

Gerechterweise sprechen wir heute von Massenrepressionen des stalinistischen Regimes gegenüber den Wolga-Deutschen, gerechterweise führen wir Beispiele von Opfern und Tragödien an, gerechterweise zählen wir die Verluste zusammen, aber wir sprechen nur sehr wenig darüber, dass die Mehrheit der heutigen ethnischen und nichtethnischen Deutschen, die Rußland großen Nutzen bringen könnten, aus diesem Lande ausreisen.

Ziel und Zweck meiner Arbeit ist es, zum Nachdenken anzuregen und meine Gedanken zum Schicksal und zur Geschichte meiner Vorfahren väterlicherseits – Urgroßmutter Maria Petrowna Holzmann sowie Großvater Theopold Viktorowitsch Holzmann – darzulegen, und anhand von Beispielen konkreter Personen und ihrer menschlichen Schicksale Überlegungen über den Aufbau und das Gefüge der russischen Nation anzustellen. Darüber zu berichten, was meine Vorfahren dachten und wie sie damals lebten, als sie sich wie Fremde unter jenen fühlten, die sie irgendwann einmal für die Ihren gehalten hatten, und den Geist der längst vergangenen, schicksalssträchtigen Zeit Mitte des 20. Jahrhunderts nachzuempfinden.

Realisieren konnte ich meine Arbeit mit Hilfe von:

1. Treffen mit Verwandten;

2. Erzählung von Urgroßmutter Maria Holzmann, Großvater Theopold Holzmann und meinem Vater Peter Theopold Holzmann;

3. Archiv-Dokumenten und Büchern;

4. Materialien von Zeitungsjournalisten;

Verfasserin: Alena Petrowna Holzmann, Schülerin der 11. Klasse an der allgemeinbildenden Mitelschule Nr. 12 in der ortschaft Nowotroizkoje, Kreis Minusinsk, Region Krasnojarsk.

Inhaltsverzeichnis

• Anstelle einer Einleitung

1. An der Schwelle grandioser Ereignisse
2. Die verhängnisvollen 1940er Jahre
3. Das Leben nach dem Krieg

* Anstelle eines Nachwortes

Anstelle einer Einleitung

Liebe Urgroßmama, lieber Urgroßpapa! Ich stehe hier auf dem russischen Dorffriedhof vor den väterlichen Gräbern, ich kann unsere Gespräche über euer und letzlich unser aller Schicksal nur in der Erinnerung wieder aufleben lassen. Verzeiht, dass ich euch Sorgen bereite: ihr liegt hier nebeneinander, aber die anderen:

Statistik über die Ausreise von Familienmitgliedern nach Deutschland zwischen 1997 und 2004:

Vorname, Vatersname, Nachname der Ausgereisten

 Verwandschaftsgrad

Alter in Jahren 

Person

 

 

 

männlich

weiblich

Schrainer, I.W.

Familie des Urgroßonkels 

0 - 4

 

10 - 14

2

20 - 30

2

2

30 - 40

 

40 - 50

2

5

60 - 70

 

 1

71 - 80

1

1

Holzmann, E.W.

Familie des Großonkels

0 - 4

 

10 - 14

 

20 - 30

1

1

30 - 40

 

 1

40 - 50

 

60 - 70

1

1

71 - 80

 

Holzmann, W.W..

Familie des Großonkels

0 - 4

 

10 - 14

 

20 - 30

 

30 - 40

 

 2

40 - 50

1

1

60 - 70

 

71 - 80

 

Funkner, A.A.

Familie des Großonkels

0 - 4

 

10 - 14

 

20 - 30

2

30 - 40

 

40 - 50

1

1

60 - 70

 

71 - 80

 

Holzmann, A.I.

Familie des Onkels des Vetters

0 - 4

 

 1

10 - 14

1

20 - 30

1

30 - 40

 

40 - 50

1

1

60 - 70

 

71 - 80

 

Holzmann, E.I.

Familie der Tante der Kusine 

 - 4

1

10 - 14

1

20 - 30

 

30 - 40

1

1

40 - 50

 

60 - 70

 

Insgesamt

 

 

 17

19

 

 

 

36

1

Wie viele andere Landsleute meiner Urgroßeltern, gerieten auch unsere Vorfahren nach der Veröffentlichung des Manifestes der Imperatorin Katharina II vom 22. Juli nach Rußland, in dem sie Ausländer dazu aufrief zur ständigen Ansiedlung nach Rußland zu kommen und dort als Ackerbauern oder Handwerker zu arbeiten.

„Wir beschlossen, dem Aufruf der russischen Imperatorin Katharina zu folgen und uns auf den langen, unbekannten Weg gen Osten zu machen. Ein märchenhaftes Leben lockt uns dorthin, das wir uns in unserer Phantasie in aller Herrlichkeit ausmalen, wenngleich wir uns zu jener Zeit vor dem Unbekannten fürchten. Wir – das sind Deutsche von den Ufern des Rheins und der Ostsee, das sind auch Staatsbürger anderer Nationalität, gebürtig aus Lübeck, Hessen, Berlin, Danzig und Königsberg, Einwohner von Polen und Dänemark, Schweden und Italien, Bewohner von zahlreichen Dörfern, Städten und Ländern Europas“.

Mit dem Wissensstand und den Erkenntnissen über die Ereignisse, die dann in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts folgen sollten, mag man vermuten, dass unseren „väterlichen Gründern“ mit ihrer Entscheidung ein verhängnisvoller Fehler unterlaufen ist. Ich sehe das ganz anders: wenn der Umzug nach Rußland ein Gebot ihres Herzens, Verstandes und eigenen Willens war und auf einer historischen Notwendigkeit beruhte, dann ist ihre Wahl richtig gewesen. Denn in ihrer neuen Heimat lebten und schafften sie, gründeten Familien, zogen Kinder groß und waren glücklich.

Eine besonders dichte deutsche Diaspora siedelte sich an den Ufern der Wolga an. Aufgrund eines von Lenin verabschiedeten Dekretes wurde hier im Jahre 1918 die Arbeitskommune der Wolga-Deutschen eingerichtet, die 1934 in eine autonome Republik mit der Zentrumshauptstadt Engels umgebildet wurde.

Ein großer Irrtum: im 19. Jahrhundert zweifelte niemand daran, dass die Zukunft besser ausehen würde. Aber schon im 20. Jahrhundert war sich wohl jedermann klar darüber, dass alles eine ganz schreckliche Entwicklung nehmen würde.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fallen uns eher symbolische „Kleinigkeiten“ vor dem Hintergrund der bevorstehenden Ereignisse auf.

Von 1916-1920 erfolgte zunächst durch die Zarenregierung, und später, nach deren Sturz, durch die Soviets, die Schließung aller deutschen Kirchenschulen.

Von 1926-1936 vollzog sich die Ausplünderung der deutschen Bauern unter dem Zeichen der „Entkulakisierung“, mit ihrer anschließenden Verbannung und physischen Vernichtung. Von 1931-1935 wurden alle deutschen Kirchen zerstört.

Zwischen 1936 und 1940 schloß mann dann alle deutschen Schulen.

2

Den Beginn des Großen Vaterländischen Krieges 1941 verstanden alle in unserem Lande lebenden Nationen, darunter auch die Sowjet-Deutschen, als allgemeine Tragödie für das Volk, und sie waren bereit, ihr Vaterland zu verteidigen. Nach unvollständigen Angaben gingen vom 22.-24. Juni 1941 beim Kriegskommissariat 1.060 Gesuche von Bürgern der Autonomen Republik der Wolga-Deutschen ein, in denen sie den Wunsch äußerten, als Freiwillige in die Reihen der Roten Armee einzutreten. Im folgenden Kriegsmonat stieg die Zahl der Gesuche auf 25.000 an, aber die deutschen Männer wurden für den Einsatz an der Front nicht angenommen.

Am 28. August 1941 trat dann der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR Nr. 21-160 „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Gebieten lebenden Deutschen“ in Kraft.

Vor mir liegen Fotos aus den Vorkriegsjahren. Auf ihnen lächeln mir glückliche Neuvermählte, unschuldige Kleinkinder, Jungen und Mädchen entgegen, die wahrscheinlich friedliche Pläne für ihr zukünftiges Leben schmieden werden.

Nach Angaben des Historikers W.G. Fuks (Fuchs) wurden aus dem Gebiet Saratow und der Republik der Wolga-Deutschen 423.110 Personen vertrieben. Sämtlich Zwangsumsiedler wurden in insgesamt 158 Transporten abtransportiert. Von diesen kamen 33 in der Region Krasnojarsk an. Das Verschickungsdatum vom Bahnhof in Engels war der 20. September, das Ankunftsdatum der ersten Zwangsumsiedler an ihrem Endbestimmungsort, der Stadt Abakan – der 5. Oktober 1941. Demnach waren die Menschen mehr als zwei Wochen unterwegs gewesen. Während dieser Zeit mußten sie große Unbequemlichkeiten erfahren, denn die meisten von ihnen waren Kinder.

Von Moskau bis ganz an den äußersten Rand der Erde,
von den Bergen im Süden, bis zu den Meeren im Norden
läuft der Mensch wie der Herr über seine
unermeßlich große Heimat herum.
Überall ist das Leben frei und ungebunden,
und die wasserreiche Wolga fließt dahin.
Die jungen Menschen finden bei uns immer einen Weg,
und den Alten erweisen wir unsere Ehre und Hochachtung.

Aus den Jahren 1941 bis 1958 gibt es in unserer Familie keine Fotografien, allerdings existieren Bescheinigungen (Nr. 816 vom 18.09.1941) über die Umsiedlung in die Region Krasnojarsk und über die Freilassung aus der Sonderansiedlung (vom 02.02.1956, auf Grundlage des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet vom 13.12.1955).

Aufgrund dieses Dokuments sehen wir tatsächlich, dass der Mensch in seiner unermeßlich großen Heimat bis an die allernördlichsten Randgebiete gelangen konnte. Aus den Erzählungen und Erinnerungen meiner Urgroßmutter und meines Großvaters weiß ich, dass dies für die jungen Leute der Weg in die „Arbeitsarmee“ und für die Alten der Weg ins Jenseits bedeutete.

Die eigentliche Aussiedlung der Bewohner aus der Republik der Wolga-Deutschen von August bis September 1941 verlief in unterschiedlicher Weise. In einigen Dörfern gab man den Deutschen fast gar keine Zeit zum Zusammenpacken ihrer Sachen, man deportierte sie gleich in den ersten Septembertagen, nur ein oder zwei Tage nach der Ankündigung des Ukas. Wie die Großmutter berichtete, wurde ihr Dorf Preiß (Preuß) im Kanton Seelmann am 16.09.1941 von NKWD-Einheiten umstellt, am 17.09.1941 gab man ihnen vormittags Gelegenheit zum Packen, und nachmittags wurde bereits die gesamte Dorfbevölkerung zur Bahnstation abtransportiert. Man muß den NKWD-Truppen Gerechtigkeit wiederfahren lassen, denn sie führten die Operation für die Aussiedlung ordentlich und korrekt durch. Wie bekannt, gestalteten sich zu jener Zeit die militärischen Aktionen an den Kriegsfronten weniger erfolgreich.

Aus der Familie meines Vaters wurden am 18. September 1941 Anna Johannowna Holzmann (geb. 1895), Viktor Eduardowitsch Holzmann (geb. 1914), Maria Petrowna Holzmann (geb. 1914), Erika Viktorowna Holzmann (geb. 1934), Ewald Viktorowitsch Holzmann (geb. 1936), Wladimir Viktorowitsch Holzmann (geb. 1938), Theopold Viktorowitsch Holzmann (geb. 1940), Viktor Viktorowitsch Holzmann (der 1941 in Chakassien geboren wurde und unmittelbar nach der Geburt verstarb), Ewald Eduardowitsch Holzmann (geb. 1916), Anna Johannowna Holzmann (geb. 1920) und Leonid Ewaldowitsch Holzmann (geb. 1940) nach Sibirien zwangsausgesiedelt. Diese Liste läßt sich auch bei meinen Urgroßeltern fortsetzen, denn sie hatten selbst viele Kinder und auch die Familien ihrer Eltern waren kinderreich.

Leiden – das ist der Anstoß zu aktivem Handeln,
und nur darin fühlen wir unser Leben.
Kant.

Unter den vorherrschenden Existenzbedingungen vermindet sich während der Zwangsumsiedlung und während des Lebensprozesses selbst die Anzahl der Vor- und Familiennamen in erheblichem Maße. Ich sage dazu nur folgendes: im ersten Jahr nach der Ankunft in der Ortschaft Ktasnopol, Altai-Gebiet, Chakassien, verlor die Urgroßmutter drei von fünf Kindern.

Was behauptet Seneka? Wo befinden sich die Toten? Eben dort, wo auch die Ungeboren sind.

Von der Altersstruktur her waren die Deutschen im Jahre 1941 sehr „jung“. Die deutsche Volksgruppe bestand zu drei Vierteln aus Kindern und jungen Menschen im Alter zwischen 0 und 35 Jahren. Der Rückgang der Geburtenzahlen und das Ansteigen der Sterblichkeitsrate war bei den Deutschen ganz besonders tiefgreifend. Der Rückgang beim Geburtenzuwachs wurde durch das Auseinanderreißen der Familienbande für einen langen Zeitraum, die Mobilisierung von Mänenrn und Frauen in die Arbeitsarmee, hervorgerufen.Die extrem hohe Sterblichkeitsrate, besonders bei Kindern, war das Ergebnis der stark erschütterten Gesundheit ihrer Mütter, der Unmöglichkeit, sie normal zu hüten und zu versorgen, des Fehlens der elementarsten gewöhnlichen Alltagsbedingungen. Es ist unglaublich, wie man 7 Jahre lang in einer Erdhütte leben kann, ohne die russische oder chakassische Sprache zu kennen, und mit Leuten Umgang zu haben, die sich ihnen gegenüber mehrheitlich wie zu Vaterlandsverrätern verhielten. Man kann leben, aber nur unter den größten seelisch-moralischen und menschlichen Opfern.

Die Volkszählung, die im Jahre 1959 in der UdSSR durchgeführt wurde, zeigte, dass die Wechselbeziehung der Geschlechter bei der deutschen Dorfbevölkerung der Region Krasnojarsk in einem größeren Maße zerstört war, als die des russischen Volkes. Der Anteil der Frauen unter ihnen betrug ca. 54,6 % (bei den Russen 53,3 %), bei den Männern – etwa 45,4 % (bei den Russen – 46,6%. Das heißt es waren fast genauso viele, wie auch 1941 im Moment der Deportation. Außerdem kämpften die deutschen Männer nicht an der Front. Deportation und Zwangsumsiedlung hatten weit schlimmere Auswirkungen auf sie, als es beim übrigen Volk durch die Folgen des Krieges der Fall war.

Von den vier erwachsenen Mänenrn der Familie Holzmann wurden alle vier in die Arbeitsarmee mobilisiert, zwei von ihnen kamen um, einer wurde zum Invaliden der 1. Stufe.Am erstaunlichsten ist es, dass zahlenmäßig genau so viele starben, wie auf den Schlachtfeldern, jedoch nicht durch Kugeln, Granatsplitter oder andere Geschosse, sondern vor Hunger und Kälte sowie durch Ruhr und die Verhöhnungen und Verspottungen der Kriminellen und der Wachmannschaften.

3

Wir hängen alle von jenen Zeiten ab, denn wäre mein Urgroßvater nicht zurückgekehrt, dann würden weder meine Familie noch ich auf dieser Welt existieren. Mein Urgroßvater, Viktor Eduardowitsch Holzmann, ist ein aktiver Wirtschaft, ein Mensch, der sich gern mit leitenden Posten befaßt und seit 1940 Kommunist. Die wahre Kraft dieses Menschen lag nicht in dem Drang etwas zu tun, sondern vielmehr in seiner unerschütterlichen Ruhe. Ich weiß nicht, was er über seine Heimat und die Staatsmacht dachte, die mit ihm derart umgesprungen sind; er hat darüber nie gesprochen. Ich weiß nur aus Erzählungen meines Großvaters Theopold Viktorowitsch, dass der Urgroßvater den Geruch von Tannennadeln nicht ertragen konnte, und alle seine Nachkriegskinder dazu zwang, zuhause grundsätzlich nur Deutsch zu sprechen.

Die Urgroßmutter verwahrte stets einen großen Vorrat an Trockenfrüchten, Salz, Streichhölzern, Bohnen und Papirossi. Das wurde deswegen gemacht, damit es in schweren Zeiten nicht nur Zieselmäuse, Brennesseln und gefrorene Kartoffeln vom Kolchosacker zu essen gab.

1971 begibt der Urgroßvater sich zu den Orten, an denen die Asche der Verwandten ruht, und zu den vorväterlichen Gräbern auf dem Gebiet der ehemaligen ASSR der Wolga-Deutschen, dorthin, wo sich irgendwann einmal die Ortschaft Preuß, Kanton Seelmann, befand. Der Urgroßvater entdeckte tatsächlich die Gräber seiner Vorfahren, und ich vermag nicht zu sagen, was für ein Gefühl ihn dabei durchdrang – wahrscheinlich Liebe, vielleicht auch Enttäuschung, ein gewisses Unwohlsein, Unverständnis und Sehnsucht, aber das weiß Gott allein. War für ihn die Erdhütte in Chakassien zur Heimat geworden, die Orte, an denen sie vorübergehend leben mußten, bis sie endgültig und für immer Zuflucht in Nowotroizkoje gefunden hatten? Ich glaube das Elternhaus, das ist für meine Urgroßväter die Erinnerung an die vernichtete Heimat im Wolga-Gebiet, die Gräber der lieben Verwandten, in denen ihre kleinen Kinder beerdigt wurden.

Abschied und Rückkehr, Besitz und Verlust, Leben und Tod, Vergangenheit und Zukunft – sie alle gehören zusammen, bilden eine Einheit, und ihnen allen wohnt stets das steinerne und unausrottbare Antlitz der Ewigkeit inne.

Wenngleich seit der Deportation mehr als 60 Jahre vergangen sind, und es Stalin schon seit 50 Jahren nicht mehr gibt, wurden die Beschuldigungen und Anklagen erst im März 1991 vom deutschen Volk genommen, und die Frage über die Wiederherstellung iher Autonomie ist bis heute nicht entschieden worden.

Anstelle eines Nachwortes

Liebe Urgroßmutter, lieber Urgroßvater! Eure Kinder, meine Onkel und Tanten, trafen eine klare Wahl hinsichtlich ihres Vaterlandes. Ich bin mütterlicherseits Ukrainerin, väterlicherseits Deutsche, und trotzdem kann ich weder Ukrainisch noch Deutsch. Eine Ukraine-Deutsche also, und zwar eine russische!

Wie M. Tschwanow in seinem Artikel „Wir – die Russen“ schrieb, „gibt es da irgend so ein schreckliches Geheimnis. So, wie das Geheimnis unseres National-Charaktersd: wir sind stark durch unser irrationales Denkvermögen, unseren Geist und unsere Moral, und im Elend helfen wir jdem und geben ihm das Letzte, was wir selbst hergeben können. Vielleicht sind wir mehr, als nur ein Volk? Möglicherweise ist das unser großes Kreuz, das wir in der Geschichte zu tragen haben – Humus und Mist für die anderen Völker zu sein. Verzeihen Sie diese Ausdrücke. Vergessen Sie nicht: immer und immer wieder hat man uns aus Rußland verjagt, als ob seine Erde für irgendein anderes Volk auserwählt war. Als ob man wußte, und vielleicht hat man es tatsächlich gewußt, dass wir außerhalb der Grenzen Rußlands keine Diaspora bilden werden, sondern unser Blut, unseren Verstand und unsere Seele anderen Völkern geben: die Unseren werden bereits wieder Deutsche, wenn nicht die Kinder, so doch die Enkel, und mehr noch die Urenkel: egal, was sie werden - nur keine Russen“.

Mein Vaterland, mein Geschlecht wurde von euch bestimmt, aber auch für meine Verwandten, die im Ausland leben, wurde irgendwann einmal alles vorherbestimmt. Wo ist jener Weg, der mich vor dem großen Aufbruch schützen kann? Oder soll vielleicht das Verlassen meiner Heimat, meines Vaterlandes auch mein Schicksl sein!?

Wahrscheinlicher ist wohl die Überzeugung des Eklesiasten, dass „die Geschlechter kommen und gehen, aber die Erde bleibt ewig unverändert. Die Sonne geht auf und unter und kehrt wieder an die Stelle zurück, wo sie aufgehen wird. Der Wind weht aus dem Süden, wechselt die Richtung und kommt von Norden, er dreht sich auf seinem Weg und kehrt zurück auf seine ursprüngliche Bahn. Alle Flüsse fließen zum Meer, trotzdem läuft das Meer nicht über; an den Ort, von wo die Flüsse ihren Fluß beginnen, kehren sie auch zurück, um dann erneut zu fließen“.

Liebe Urgroßeltern, ihr wart und werdet die Quelle unseres Flusses sein. In unserem Fluß lieget die Erinnerung an euch, das Wissen über die Vergangenheit. Unser Fluß hat eine Abzweigung, die zu einem anderen Meer führt. Welche Richtung mein Fluß nehmen wird, hängt davon ab, wie sich diejenigen benehmen, die darin Strudel verursachen oder einen Staudamm bauen können.

Ein denkender Mensch erfährt Kummer und Leid, die möglicherweise sogar zur Zerstörung von Sittlichkeit und Moral führen können, und die ein oberflächlicher Mensch nicht versteht: gerade dann, wenn er anfängt, über alles Unglück nachzudenken, das das Menschengeschlecht so heftig unterdrückt und quält, und ohne Hoffnung auf etwas Besseres erfährt er Unzufriedenheit durch die Vorsehung des Schicksals, welches die Weltordnung lenkt. Aber man darf die Vorsehung nicht mißbilligen (wenngleich sie für uns hier, in unserem irdischen Leben, einen so schweren Weg vorherbestimmt hat) – sie ist sogar in höchstem Maße wichtig: teils deswegen, damit wir, die wir die Schuld auf diese Vorsehung geschoben haben, nicht unsere eigene Schuld aus den Augen lassen, die möglicherweise der einzige Grund, die einzige Wurzel für all unser Übel ist.
Kant.

Quellen- und Literaturangaben

I. Unveröffentlichte Quellen

1. Minusinsker Stadt-Archiv

II. Veröffentlichte Quellen

2.

3. Literatur zum Nachschlagen

Literatur


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