Forschungsarbeit
Autorin: Juliana Aleksejewna Gotowkina
15 Jahre
Wissenschaftliche Leitung: Swetlana Sergejewna Subowa-
Pädagogin für ergänzende Bildung der höchsten Kategorie
Turuchansk,
Schuljahr 2018-2019
Ich träumte von meiner Siedlung
An dem breiten Fluss,
An dem ich mich vor vielen Jahren
Als junger Mensch sehe.
Die Straße zu meiner Siedlung
Ist nicht mit Unkraut bewachsen,
Und die Fischfabrik gibt es schon lang nicht mehr.
Und trotzdem gehe ich im Traum dorthin.
S.A. Syrjanowa (Felsinger)
2007
Meine Arbeit ist der Lebensgeschichte der ehemaligen Sondersiedlerin Sophia Alexandrowna Syrjanowa - Mädchenname Felsinger - gewidmet. Meine Großmutter ist seit vielen Jahren mit Sophia Alexandrowna befreundet, noch aus der Zeit, als Sophia Alexandrowna in Turuchansk lebte. Ich fand die Lebensgeschichte von Sophia Alexandrowna interessant, denn es gibt viel daraus zu lernen. De Titel meiner Arbeit und die Überschriften zu den einzelnen Kapiteln sind – Zeilen aus ihren Gedichten und Erinnerungen.
Sophia Alexandrowna ist ihrer Nationalität nach deutsch. Sie wurde in der Republik der Wolgadeutschen geboren und hat dort gelebt.
1941 wurden die Bewohner der wolgadeutschen Republik nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Sie erhielten einen neuen sozialen Status – den Status der Sondersiedler. Der Turuchansker Bezirk war einer der Verbannungsorte für die Sondersiedler.
Sophia Alexandrowna Syrjanowas Mädchenname lautete Felsinger. Sie wurde am 5. Juli 1930 in der Ortschaft Krasnij Jar im heutigen Gebiet Saratow geboren. 1930 befand sich das in der Republik der Wolgadeutschen (ASSR NP). Die Ortschaft lag 20 Kilometer von Saratow entfernt.
Deutsche Kolonien an der Unteren Wolga tauchten im Jahr 1764 auf. Die Anwerbung von Deutschen und anderen Ausländern nach Russland wurde durch Bedürfnisse des Staates hervorgerufen – die Notwendigkeit, umliegende Ländereien zu erschließen und an die Zarenkrone zu binden.
Die Manifeste Katharinas II vom 4. und 14. Dezember 1762 sowie dem 22. Juli
1763, verkündet durch russische Gesandte in der Schweiz, Holland, Deutschlands
und anderen Staaten Europas, riefen Bürger dieser Staaten dazu auf, sich an den
Ufern der Wolga niederzulassen.
Die Unterbringung der Siedler erfolgte nach Landkreisen (ihr Kreis-Umfang wurde
mit 60—70 Werst definiert, und die Fläche in einer Größe, dass bis zu eintausend
Familien sich dort ansiedeln konnten).
Jede Familie erhielt ein für damalige Vorstellungen großes Stück Land mit fruchtbarem Ackerboden — nicht weniger als 30 Deßjatinen, was dreimal mehr war, als die russischen Bauern zur Verfügung hatten. Wenig später erhielt jede Kolonistenfamilie 60, 132 oder 176 Deßjatinen.
«Was das nur für eine Nation war! Sogar Nachfahren von Franzosen. Aber für die Russen waren die Ausländer – alle Deutsche». Zur Bestätigung ihrer Worte führte Sophia Alexandrowna einige ethnische Bezeichnungen an: Kanton Niederthal (Zugereiste aus den Niederlanden), die Dörfer Frischkraft, Rosenheim (Zugereiste aus Deutschland). An die Namen der Dörfer, die von Franzosen gegründet wurden, kann sie sich nicht mehr erinnern.
Im 18. Jahrhundert akzeptierten die ortsansässigen Völker keine Ausländer, die ihr Land besiedelten. In der Familie Felsinger ist folgende Überlieferung erhalten geblieben. «Als sich meine Urgroßväter in Russland niederließen, gingen einheimische Kirgisen brutal gegen die Neuankömmlinge vor. Und da setzte sich so lange fort, bis die Deutschen und die Dänen (sie waren Lutheraner) eine Kirche mit einer Orgel bauten. Einmal waren all die Unsrigen im Gottesdienst, die Orgel spielte. Die Kirgisen eilten zu ihren Pferden und wollten schon angreifen, doch die Orgelklänge setzten sie derart in Verwunderung, dass sie stehenblieben, um der Melodie und dem Gesang der Psalmen zu lauschen. Danach hörten die Übergriffe auf».
Die Ausländer durchliefen nach und nach den Prozess der Russifizierung und nahmen Russland als ihre Heimat an. Sophia Alexandrownas Großvater wurden 1914 in die «deutsche» einberufen, zusammen mit anderen Wolgadeutschen. «In den Schützengräben vereinbarten die Deutschen beider Seiten sich nicht gegenseitig zu erschießen, und der Großvater kehrte heimlich nach Hause zurück. Anfangs wollte man ihn sogar verurteilen, aber er hatte fünf Kinder; der Fall wurde irgendwie vertuscht, und dann kam auch schon die Revolution».
Als sich die Sowjetmacht im Lande etablierte, traten die Familie Felsinger und
ihre Verwandten sofort der Kolchose bei, «andernfalls wären sie enteignet worden».
Die Ehe zwischen Sonja Felsingers Eltern wurde nicht registriert. Sonjas Vater –
Alexander Konstantinowitsch – war Russe; er machte eine Ausbildung an der
Arbeiter-Fakultät. «Einmal sah Großvater – ein reinblütiger Deutscher – ihn
irgendwo in Begleitung, und das gefiel ihm nicht. Und er erlaubte die Heirat
nicht. Ich wurde im Haus der Tante geboren, aber aufgewachsen bin ich bei meinen
Großeltern».
Sonjas Großvater arbeitete «bei der Feuerwehr», d.h. bei der Brandwache. «Dort
gab es einen hohen Turm. Ich war neugierig. Wir steigen auf diesen Turm, schauen
uns um. Ganz weit konnte man sehen. Am Abend sah man Saratow, die Brücke über
die Wolga, Engels, Marxstadt».
«Meine Mama konnte gut lernen. Man nahm sie auch in die Komsomolzen-Organisation
auf». Sophia Alexandrownas Mutter absolvierte vor dem Krieg das Institut in
Saratow, sie konnte Russisch und Deutsch unterrichten und erhielt eine
Arbeitszuweisung entweder in Tomsk oder Omsk. Aber nach Sibirien fuhr sie nicht
aus freiem Willen.
Am 28. August 1941 unterzeichnete das Oberhaupt des sowjetischen Staates M. Kalinin das Dekret über die Annullierung der Republik der Wolgadeutschen.
Den umzusiedelnden Deutschen erlaubte man die Mitnahme von persönlichem Besitz, kleines landwirtschaftliches Inventar und Haushaltsgegenstände sowie Lebensmittel für einen Monat. Die Zeit, die man ihnen zum Packen der Sachen gab, war äußerst knapp bemessen, so dass die Familie vor der Abfahrt nur einen minimalen Vorrat an Esswaren vorbereiten konnte.
Als der Große Vaterländische Krieg ausbrach, wurden, nach den Worten von Sophia Alexandrowna, alle Männer im Dorf zuerst in die aktive Armee einberufen. An der Front kamen ihre Verwandten ums Leben. «Von allen Verwandten blieb nur mein Onkel unversehrt. Viele Jahre später erfuhren sie von ihm, dass sie zuerst an die Front geschickt wurden (der Onkel war sogar Dolmetscher) und anschließend – in die Arbeitsarmee., also ins Lager. «Die Arbeitsarmee enthielt Elemente militärischer Formierungen, Arbeitstätigkeiten und Haftordnungen wie in einem Lager». (https://ria.ru/20160828/1475345145.html )
Die Felsingers wurden zusammen mit anderen Familien aus Krasnij Jar deportiert. In dem Sommer hätten sie eine große Ernte gehabt. «Es herrschte wunderbares Wetter. Aber alles mussten wir zurücklassen: den Weizen auf den Feldern, und die Kühe und Pferde in den Ställen gingen alle ein», - erzählt Sophia Alexandrowna. Vor der Abfahrt «schlachteten wir die Ferkel und dörrten das Fleisch. Man setzte uns auf Fuhrwerke, bei irgendjemandem übernachteten wir, fuhren später durch die Steppe und übernachteten irgendwo im Stroh. Sie brachten uns bis zur Bahnstation, anschließend ging es weiter – in «Kälberwaggons» (Waggons für den Transport von Vieh). Mama, Großmutter, Großvater und mich brachten sie nach Sibirien, andere – nach Kasachstan, in den Fernen Osten».
«Der Zug war lang, mit sehr vielen Waggons. Unser Waggon war überfüllt von Menschen, die anderen auch. Die Tür war ein wenig geöffnet, und alles vollgestopft mit Menschen… Doppelstöckige Pritschen gab es; ich kletterte sofort hinauf». Durch die kleine Fensteröffnung sah Sonja, wie die Leute durch die halb geöffnete Tür Speck aus den Waggons hinauswarfen: «Die Menschen haben sich auf die Fahrt vorbereitet, aber der Speck ist schlecht geworden, er war noch nicht richtig fertig. Großmutters Schmortopf mit Griebenschmalz rettete die Familie: «Unsere Oma war klug, sie hatte Griebenschmalz vorbereitet. Du saugst daran – und fühlst dich satt ».
«Wir fuhren durch ganz Mittel-Asien, nicht direkt nach Sibirien. Ich weiß noch, dass es kalt war, da waren Berge und solche Äpfel». Ab und an hielt der Zug an den Stationen. An einer dieser Bahnstationen sah Sonja ein Denkmal: Lenin und Stalin auf einer Bank sitzend.
«Ich erinnere mich, dass man ein-zweimal an den kleinen Bahnhöfen hören konnte, wie aus jedem Waggon Menschen ausstiegen; für sie wurde ein Abendessen gekocht – Suppe oder so etwas in der Art. Man brachte ihnen heiße Brühe in Töpfen».
Bis zu ihrem Verbannungsort waren sie einen ganzen Monat unterwegs. In Krasnojarsk lebten sie lange Zeit am Ufer, an der Nord-Anlegestelle. Dann wurden sie zur Sonderansiedlung einem Taiga-Dorf nahe der Stadt Atschinsk zugewiesen. Sophia wunderte sich, dass es dort solide Häuser gab und die Menschen irgendwie «ganz in Lumpen gekleidet» waren.
«Wir gingen dorthin, wo man uns befohlen hatte. In der Ecke sitzt eine alte Frau, sie betet, bekreuzigt sich. Ich denke: «Das ist eine Hexe!». Aber die Hexe gab uns Brot und Milch. Wie kann man das vergessen?».
Am neuen Wohnort bekam Sophia Freundinnen. «Von wegen…. Zusammengeharkt haben sie die „antisowjetischen Elemente“ auf der «Maria Uljanow“ (das Schiff wurde mit Holz angetrieben) und uns auf «Lenins Schwester» nach Turuchansk gebracht. Sophia Alexandrowna erinnert sich, dass sie nicht gleich in Krasnojarsk aufs Schiff gingen, sondern von einem öden Stückchen Land in der Nähe des Dorfes Paschino, am rechten Ufer des Jenisseis. «Dort war Einöde, Menschen in Zelten, die warteten auf Schiffe». In Anhang 1 – einer der Raddampfer, mit denen Sondersiedler in die Verbannung gebracht wurden.
Sophia Alexandrowna erzählt nur wenig über die Fahrt in die Ansiedlung. «Das Schiff war völlig überfüllt. Ich weiß nicht, wer sich in den Kajüten aufhielt, wir jedenfalls mussten im Korridor und auf den Treppen ausharren». Jemand riss Sophia Alexandrowna die wunderschön gestrickte Mütze vom Kopf.
Sie weiß noch, dass Herbstzeit war. Anfangs war es auf dem Jenissei ruhig, aber dann setzte ein heftiger Sturm ein. Irgendwann begann während der Fahrt der Lastkahn mit den Lebensmitteln zu sinken, und alles wurde auf die «Maria Uljanowa» umgeladen. Alle hatten Angst, dass das vollkommen überladene Schiff sinken würde.
Es war eine schwierige Reise, und nicht jeder überstand sie. «Wem es beschieden war zu überleben, der kam unversehrt am Ziel an».
«Die Turuchansker Leitung war nicht auf dem Laufenden, dass so viele Menschen eintrafen». Aber irgendeiner schnappte den Satz auf: «Die haben sie sowieso nur zum Sterben hierhergebracht». Die Sondersiedler wurden zwischen zwei großen Hohlwegen abgesetzt (zwischen dem Flugplatz und Turuchansk; jetzt sind die Wege zu einem verschmolzen, und in der Mitte ist eine Insel entstanden; Anm. d. Autors). Von irgendwoher nahm man ein Segeltuchzelt. Dort wurden die Kinder untergebracht. Draußen schneite es ein wenig. Die Männer entfachten ein Feuer am Ufer und erhitzten Steine, die sie dann ins Zelt brachten, damit die Kinder sich aufwärmen konnten. So verbrachten sie die erste Nacht.
Danach wurden die Sondersiedler in einem ehemaligen Pferdestall einquartiert. Er befand sich gegenüber der Tierklinik. Drinnen stand eine Rund-Ofen mit Ofenrohr, die Futtertröge sind noch erhalten geblieben. Hier wurden hölzerne Liegestellen aufgebaut;12-15 Familien fanden dort Platz. In dem Pferdestall war es sehr kalt.
Dann wurden die Leute aus dem Pferdestall umgesiedelt. Sophia Alexandrownas Familie ließ sich in dem Haus gegenüber der Kirche in der Partisanskaja-Straße nieder. Es handelte sich um ein halb verfallenes Haus mit einem Halbgeschoss. Auch dort war es sehr kalt. Die Wände waren mit Eis bedeckt. Die Familie zog deswegen in einer große Erd-Hütte an Flussufer, in der mehrere Familien lebten; dort war es warm.
«Die Deutschen waren diejenigen, die sich unter diesen Bedingungen am besten akklimatisierten», - sagt Sophia Alexandrowna. Und sie bekräftigt das anhand konkreter Beispiele.
Der erste Winter war der schlimmste. Sophia Alexandrowna erinnert sich daran wie folgt: «Ein kalter nordischer Winter setzte ein, und die Menschen begannen vor Hunger und Kälte zu sterben».
«Wir vergessen Hunger und Kälte nicht.
Die Erinnerung bleibt lebenslang,
Wie die letzte Kopeke geteilt wurde und die Menschen
Einander ermunterten: «Halte durch!».
«Wir haben in Mülleimern Kartoffelabfälle gesammelt. Ich durchsuchte beispielsweise einmal die Abfälle und fand darin eine ganz dicke Kartoffelschale; die Oma hat Fladen daraus gebacken». Die dankbare Sonja sagte zur Großmutter: «Der Krieg wird zu Ende gehen, und du wirst viele solcher Fladen backen». - «Sophie, Sophie, - sie nannte mich Sophie, - wenn der Krieg beendet ist, Sophie, werden wir wieder Brot essen und nach Hause fahren».
Sophia Alexandrowna erinnert sich an zwei Arten von Hunger: «Wenn der Hunger unerträglich wurde und – wenn man überhaupt nicht essen wollte, weil man sich schlecht fühlte».
Die Familie suchte nach Überlebenschancen. Sie tauschte ihre Nähmaschine der Marke „Singer“ gegen einen halben Eimer Kartoffeln. Sie salzten Rübenkraut und Rüben wie Kohl ein. In der Kirche, gegenüber der die Felsingers lebten, befand sich ein Lebensmittellager. «Wenn sie Mehl trugen, dann fiel immer ein wenig aus den Säcken heraus, der Schnee war ganz mit Mehl bestäubt. Wir haben einen Besen genommen und den Schnee zusammengefegt, und die Großmutter kochte dann das, was man herausbekommen hatte. Mit viel Glück wurde es – Brei, ansonsten eine dünne Wassersuppe. Na ja, hauptsächlich flüssig, aber immerhin mit Mehl».
«Wir beneideten die Kinder im Kinderheim: sie bekamen drei Mahlzeiten am Tag».
Sophias Großvater war ein guter Schuster, er bemühte sich ein wenig hinzu zu verdienen. «Aber der Hunger, der Hunger…. Jedes kleine Stückchen gab man uns – den Kindern. Großmutter, Großvater und der siebzehnjährige Vetter starben 1944 infolge von Erschöpfung und unzureichender Ernährung. Erst 1945 konnten wir Kartoffeln anpflanzen; damals wohnten wir schon bei der Fischfabrik in einer Baracke».
Sophia Alexandrowna weiß, in welcher großen Armut auch die Sondersiedler anderer Nationalitäten lebten. «Aber die Griechen – warum sie? Weswegen? Sie waren doch keine Deutschen. Sie lebten noch weiter weg, in der Tundra. Kein Brot… In Janow Stan entstand ein ganzer griechischer Friedhof». «Den Griechen und Letten fiel ein Hungerlos zu. «Bei den Sidorows, sie waren Kalmücken, verhungerten drei Söhne. Von fünf Kindern blieben zwei am Leben».
Eine Zeit lang lebten die Felsingers in der Erd-Hütte, genauer gesagt in einer halben. Man nannte sie auch «Halb-Baracke». Das Dach – auf Ufer-Höhe; die Hütte selbst lag tiefer als das Ufer und war seitlich durch Baumstämme gestützt. Der Eingang – vom Ufer aus über einen Pfad. Sie schliefen auf Holzpritschen. In der Erd-Hütte wohnten noch weitere fünf Familien. Unten befand sich ein Nutzgarten. Diese Stelle liegt ungefähr dort, wo sich heute das Badehaus befindet. Allerdings sind keine Spuren der Halb-Erdhütten mehr erhalten. 2012 schaute sich Sophia Alexandrowna das ganze Ufer einmal von unten an – und es gab dort tatsächlich keine Spuren der Erd-Behausung mehr (Anhang 2). Die Lytkin-Straße wurde während der Überflutung 1958 fortgespült.
Alle Umsiedler waren verpflichtet der Kolchose beizutreten. Das war ein großer Strom an Arbeitskräften und dazu noch fast kostenfrei. «Man zwang die Sonderumsiedler zu fischen, obwohl sie niemals als Fischer tätig gewesen waren. Und wie viele Menschen im kalten Eisschlamm des Jenisseis ums Leben kamen. Alle arbeiteten beim Fischfang und bei der Heumahd. Mama arbeitete auch, aber ich wurde nicht offiziell registriert. Die Arbeitseinheiten für den Tag wurden Mama zugeschrieben, ansonsten schickten sie einen von zwei Arbeitern in die Kolchose».
Die Sonderumsiedler mussten den gesamten gefangenen Fisch in der Kolchose abliefern. Man durfte nie etwas nach Hause mitnehmen. Sophia Alexandrowna sagt, dass, nach dem Ende des Krieges, «wir uns wenigstens an den Inneren sattessen konnten».
«1944 entstanden an der Fischfabrik Baracken. Die erste Baracke verfügte über 14 Wohnungen. Und auch uns gaben sie dort eine Behausung».
«Alle arbeiteten beim Fischfang und bei der Heumahd. Mama arbeitete auch, aber ich wurde nicht offiziell registriert. Die Arbeitseinheiten für den Tag wurden Mama zugeschrieben, ansonsten schickten sie einen von zwei Arbeitern in die Kolchose».
Der Ausdruck «alle arbeiteten beim Fischfang» bedeutete viel. Im Sommer halfen Kinder und Heranwachsende an der Fisch-Station. Loren gab es nicht, der Fisch wurde per Hand von der Baracke zur Station geliefert. Es gab viel Fisch. Die Kinder hingen die kleineren Fische zum Trocknen auf, während die Erwachsenen sich mit dem Einsalzen und Räuchern befassten. Kühlschränke gab es nicht, und so wurde auch Eis per Hand bereitet. Zum Räuchern der Fische wurde nur das Holz der Purpurweiden und Espen verwendet, deswegen halfen sie im Winter dieses Holz zu beschaffen und brachten es auf den Armen zur Fisch-Station.
Eine der Arbeiten war – die Bereitstellung von Brennholz für die Schiffe. Entlang des Jenisseis waren Reviere für die Brennholz-Beschaffung eingeteilt. Das Turuchansker Revier lag nördlich der Stelle, wo sich heute die Benzin-Station des Flugplatzes befindet. Bei dieser Tätigkeit arbeiteten Erwachsene und Kinder zusammen. Die Kinder trampelten Schneewehen platt, die größer als sie selbst waren, die Eltern zersägten per Hand Bäume zu Holzklötzen, anschließend stapelten sie die Scheite gemeinsam auf, und im Sommer luden die Matrosen und Passagiere der «Spartak», «Maria Uljanowa» und anderer Raddampfer das Holz auf ihre Schiffe. Sie beschafften derart viel Brennholz, dass in der Taiga Holzstapel zurückblieben, die vollkommen mit Moos überwucherten.
Sophia Alexandrowna selbst entging in der Sonderansiedlung zweimal dem Tod. Beim ersten Mal war sie – 15 Jahre alt.
Sonja Felsingers Mutter war als Einsalzerin einer Fischfang-Brigade am Nalim-See zugeteilt worden, weit von Turuchansk entfernt. Der See lag mitten in der Taiga. «Dort ist es im Winter warm, und im Sommer scheint rund um die Uhr die Sonne, aber sie wärmt nur tagsüber». Sonja machte sich mit einigen Sachen auf den Weg zur Mutter. Von Turuchansk gelangte sie mit einem Boot bis Janow Stan am Ufer des Flusses Turuchan – einem Nebenfluss des Jenisseis. Anschließend – mit einem anderen Boot – bis an den Mammut-See. Und weiter – allein zu Fuß durch Taiga und Tundra. «Ich gehe durch die Taiga, sehe kaum den Pfad vor lauter Moosbewuchs, und manchmal konnte ich ihn überhaupt nicht erkennen. Schließlich kam ich in die Tundra, wo es keinerlei Pfade gibt. Ich stellte den Sack gut sichtbar ab und suche den Weg, und suche… Ich kehre zum Sack zurück und gehe weiter. Umkehren war nicht möglich – so lautet das Gesetz der Tundra». Am See kam sie an, obwohl die Wahrscheinlichkeit sich zu verlaufen und umzukommen ziemlich groß gewesen war.
Beim zweiten Mal hätte Sonja im Fluss sterben können. Die Arbeit der Sondersiedler war nicht leicht. Um beispielsweise Heu für das Vieh bereitzustellen, fuhren sie zur Heumahd auf die Insel Schar. « Wir überqueren den Jenissei, der an dieser Stelle 7 km breit ist. Es war bereits später Abend. Plötzlich sagt der Rudermann (ein aus dem Krieg zurückgekehrter Invalide): «Vom Oberlauf kommt uns ein weißes Schiff entgegen, Mädels – ihr müsst schneller rudern». Nur war das leider kein Schiff, sondern ein Wirbel. Ein riesiger Trichter näherte sich uns. Und so schnell… Wir Rudern mit voller Kraft… Aber wohin… Unser Glück war, dass das Unheil uns in Ufernähe erreichte. Wir wurden von einer Welle überrollt. Ich hielt mich um Bootsrand fest. Irgendwie schafften wir es ans Ufer, zitternd vor Kälte, wir lachen und weinen. Und der Rudermann meint: «Mädels, wer von euch ist schon im Hemd geboren?». Wir machten ein Seil fest und zogen das Boot bis zur Fischfabrik… Der Tod durch Ertrinken war mir nicht beschieden».
Wenn sie ihr Leben in der Sonderansiedlung überdenkt, stellt Sophia Alexandrowna nicht wenige schöne Momente fest. «Es war ein raues Leben, aber die Menschen verhielten sich meistens gut zueinander. Es war für alle sehr schwer. Die Leute sind gut, freundlich. Wenn ich Kartoffeln koche und dir die Schale übriglasse – dann ist das schon hilfreich». «Obwohl das Leben sehr hart war, hatte es trotzdem auch schöne Seiten, und wir Menschen verhielten uns gut zueinander».
Sophia Alexandrowna unterstreicht immer wieder die Gutmütigkeit der
Ortsansässigen gegenüber den Sondersiedlern, wenngleich sie drei Beispiele
hartherziger Verhaltensweisen anführt. So beförderte beispielsweise ehemalige
Soldaten, unter ihnen der NKWD-Mitarbeiter Burzew, als die Lebensmittelnorm
abgeschafft wurde, die Deutschen und Kalmücken «mit heftigen Schubsern» aus der
Warteschlange, wo man zwei Kilogramm Mehl bekam.
Zweites Beispiel: «Da war ein hochgewachsener, gutaussehender alter Mann, der
die Post beförderte. Manchmal tauschten wir bei ihm etwas ein. Großvater kaufte
alles: Tabak, Seife… Einmal ging ich allein zu ihm, um zu tauschen. Auf dem
Tisch lag ein Stapel Pfannkuchen. Ich wollte einen haben, nur einen – nicht für
mich, sondern für mein kleines Schwesterchen, das neun Jahre jünger ist als ich.
Der Alte gab ihn mir nicht».
Drittes Beispiel: die Lehrerin Anna Petrowna fand in der Schule immer irgendein Vergehen bei einem der Sondersiedler-Schüler, und dafür entzog sie ihm das Brot und den Tee, welche alle zum Mittagessen bekamen. Brot und Tee blieben bei ihr im Zimmer.
Und trotzdem erwähnt Sophia Alexandrowna die ganze Zeit die Güte der Menschen; an sie erinnert sie sich am meisten. So brachte die Ärztin Anfisa Nikolajewna Tereschonok vom Hunger geschwächte Sondersiedler ins Krankenhaus – und tat so, als wären sie an Lungenentzündung erkrankt. «Ruhm gebührt solchen Frauen», - meint Sophia Alexandrowna.
«Wir – Kinder, die den Krieg erlebt haben,
Und unsere Mütter, die Tag und Nacht
Das ganze Land in ihren Händen hielten.
Die ganze schwere Arbeit des Landes ruht auf unseren Schultern», - so schrieb
Sophia Alexandrowna zum Treffen der Veteranen bei ihrer Ankunft in Turuchansk im
Sommer 2007.
Trotz der Schwierigkeiten zu überleben, half Sonjas Mutter auch noch zwei fremden Kindern zu überleben. Sie kamen 200 Kilometer zu Fuß aus Wjerchneimbatsk gekommen. Sie stammten auch aus den Reihen der Sondersiedler. Ein fünfzehnjähriges Mädchen mit einem halbwüchsigen Jungen gingen nach Turuchansk. Sie glaubten, dass sie dort bessere Möglichkeiten zum Überleben hätten. Auf dem 200 Kilometer langen Weg gab es nur alle 25-30 Kilometer eine Unterkunft. Es handelte sich um sehr kleine Siedlungen mit nur wenigen Häuschen. Der restliche Weg führte anhand der Spuren von Schlitten, auf denen die Post befördert wurde, über den zugefrorenen Jenissei. Die einzige Nahrung – gefrorene Pferde-Fladen, die man unterwegs finden und an denen man lutschen konnte. Doch sie erreichten ihr Ziel. In Turuchansk wurden die Kinder zu ihren Landsleuten gebracht. Als sie ihre Lumpen ausgezogen hatten, sah man die Skelette – nur noch Haut und Knochen. Das Mädchen konnte bereits nicht mehr stehen. Im Falle des Jungen fanden sich Verwandte unter den Sondersiedlern. Sophia Alexandrownas Mutter fütterte das Mädchen mit durch; man gab ein geringeres Alter an, so dass es in ein Kinderheim gegeben werden konnte.
1944 kam unerwartete Hilfe, die sie nicht erwartet hatten. Die Schwester von Sonjas Mutter, die zur Sonderansiedlung nach Kasachstan ausgewiesen worden war, schickte ihnen 300 Rubel. Es stellte sich heraus, dass man dort den Sondersiedlern Schadensersatz für das in ihren ehemaligen Wohnsiedlungen zurückgelassene Vieh ausgezahlt hatte. Außerdem war es ein Wunder, dass die Überweisung überhaupt angekommen war, weil die Adresse nur ungefähr vermerkt und die Familiennamen identisch waren. Es war eine Menge Geld; Sophia Alexandrownas Mutter gab es für die Familie aus, unter anderem wurden für Sonja „Halbstiefel“ gekauft, „die allerdings eigentlich für Jungs gedacht waren“.
Im Turuchansker Bezirk bekamen die Sondersiedler für ihr in der Heimat im Stich gelassenes Eigentum keinen Schadensersatz. Als sie darüber spricht, fügt Sophia Alexandrowna sogleich hinzu: «In Turuchansk halfen die Leute sich gegenseitig, und die Ortansässigen hier waren sehr gute Menschen – die gaben auch ab».
1945 wurde Sophia Alexandrowna 15 Jahre alt. «Wir warteten, wie alle, auf den Sieg…. Auf irgendetwas hofften wir». Aber es gab niemanden zu begrüßen, niemand kehrte zurück. Und es änderte sich auch nichts im Leben der Sondersiedler. Nach wie vor mussten die Männer sich abends zur Registrierung in die Kommandantur begeben. Alle ab dem Alter von 16 Jahren mussten sich dort auch weiterhin regelmäßig melden. An ihrem 16. Geburtstag legte Sophia Alexandrowna ihre Prüfung an der Schule ab. Während der Prüfung war sie sehr aufgeregt und vergaß die Notwendigkeit, sich bei der Kommandantur zu melden. «Später erinnerte ich mich und rannte zur Kommandantur – 3 Kilometer. Der Offizier schrie mich an und ich weinte.».
Für junge Mädchen war die Registrierung in der Kommandantur immer sehr schlimm. Sophia Alexandrowna berichtete vom Schicksal des Mädchens, das ihre Mutter durchgefüttert hatte. Es war eine blonde Schönheit mit wunderschönen braunen Augen. Während der Registrierung lenkte der Kommandant seine Aufmerksamkeit auf sie. «Du bist ja eine Schönheit wie ich sehe!». Was in der Kommandantur weiter geschah – war meinen Landsleuten nur allzu gut bekannt… Wie viele Mädchen eine derartige Erniedrigung durchmachen mussten, wie viele unserer Bräute schon vor ihrer Hochzeit zu Frauen gemacht wurden. Und einige von ihnen ereilte das Los, dass sie «Kommandanten-Kinder» zur Welt bringen mussten». Das Mädchen hasste das Leben, begann die Menschen zu meiden, wurde verschlossen. Und man rief sie die wilde Bara – damals lief ein Film mit diesem Titel».
Sophia Alexandrowna wollte so gern eine Ausbildung machen. In der Heimat hatte
Sophia den deutschsprachigen Unterricht besucht, aber an dieser Schule auch
Russisch gelernt: «Wir fingen an, erst einmal nur die russischen Buchstaben zu
erlernen». Kaum dass die Sondersiedler im Pferdestall untergebracht worden waren,
sagte die Mutter zu Sonja: «Du musst zur Schule gehen». Es kam so, dass Sonja
sich die Beine verbrühte und einen Teil des Schuljahres verpasste. Sie
übersprang die dritte Klasse und kam gleich in die vierte. Das gelang deswegen,
weil die Mutter mit ihr lernte und es gelang, die Schule zu wechseln. Anfangs
besuchte sie die Schule direkt in Turuchansk, später – die Schule an der
Fischfabrik. Mit guten Worten erinnert sich Sophia Alexandrowna an ihren
damaligen Lehrer Anton Afontowitsch Schurawskij.
Die vierte Klasse beendete Sophia Alexandrowna «als Klassen-Beste». Alles foel
ihr leicht, außer Gleichungen. «In unserer Klasse gab es Kalmücken-Jungen, sie
konnten gut mit Gleichungen rechnen, nur mit dem Russischen haperte es. Na ja,
und da ließen wir uns manchmal gegenseitig abschreiben».
Ein Recht auf eine Berufsausbildung besaßen die Sondersiedler nicht, ebenso wie
auf einen Ausweis. Dem einen oder anderen gelang es gegen Schnaps (Bestechung
eines «NKWDlers») den Ort zu verlassen. «Aber Mama hatte ihren Stolz, so weit
ging sie nicht».
Sophia Alexandrowna schaffte es, als sie bereits erwachsen war. Sie besuchte
Kurse für Mitarbeiter im Bereich der Kultur.
In der ersten Zeit nach dem Ende des Krieges hofften die Ausgewiesenen, dass die Behörden «sich besinnen» und ihnen die Rückkehr in die Heimat erlauben würden. Aber 1948 wurde ein Dekret verabschiedet, das man wohl für das grausamste und unmenschlichste der Stalin-Ära halten konnte. Es handelt sich um das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. November 1948 «Über die strafrechtliche Verantwortung wegen Flucht aus den Orten der ständigen Zwangsansiedlung von Personen, die während des Großen Vaterländischen Krieges in entlegene Bezirke der Sowjetunion ausgesiedelt wurden». Ohne jegliche Präambeln erklärte das Dekret, dass die während des Krieges zur Sonderansiedlung ausgesiedelten Völker auf ewig in diesem Status verbleiben und dass sie bei Fluchtversuch aus diesen Zwangsansiedlungsorten mit 20 Jahren Zwangsarbeit bestraft würden. Flucht ist in diesem Fall nicht im buchstäblichen Sinne zu verstehen. Es konnte sich vielmehr um eine einfache, eigenmächtige, d.h. nicht vorher genehmigte Abwesenheit handeln, beispielsweise ein Gang in den Wald, um Holz zu holen.
Sonja besuchte in Turuchansk Friseur-Kurse. Aber weil sie Linkshänderin war, konnte sie keine Rasuren vornehmen (das Handwerkszeug der Friseure war für Rechtshänder ausgelegt), und so musste sie die Arbeit im Friseurladen abbrechen. Sie machte eine Ausbildung zur Fotografin und Bibliothekarin, arbeitete als Technikerin bei der Genossenschaft "Roter Turuchansker". Zur Genossenschaft gehörte auch eine Fotowerkstatt. Ein solches «Firmen»-Foto haben wir im Anhang 4, Blatt 2 aufgeführt. Doch sie brauchte ihre Ausbildung nicht beenden. Am 20. Juni hätte sie ihre Fotografen-Prüfung ablegen sollen. «Am 2. Juni 1955 traf das Schiff «Valerij Tschkalow» ein, und wir reisten nach Kasachstan ab. Mama ließ noch nicht einmal die kleine Schwester das Schuljahr beenden».
Der Umzug nach Kasachstan erfolgte ebenfalls erzwungenermaßen. Sophia Alexandrownas Mutter erkrankte in dem rauen nördlichen Klima schwer. Nachdem sie begriffen hatten, dass sie aus dem hohen Norden niemals fortkommen würden, verfasste sie ein Bittschreiben nach Moskau, um die Erlaubnis zur Abreise nach Kasachstan zu erhalten. Kasachstan war ebenfalls ein Gebiet der Massenverbannung von Sondersiedlern, deswegen gab es bezüglich der Abreise-Erlaubnis auch keine Schwierigkeiten. «1955 fuhren wir nach Kasachstan, nach Koktschetaw, zum Vetter». Bis 1960 lebte und arbeitete Sophia Felsinger in Kasachstan. «Ich machte Neuland urbar, wurde mit der Medaille «Für die Erschließung von Neuland» ausgezeichnet, - sagt Sophia Alexandrowna stolz.
Sophia Alexandrownas Verlobter – Wladimir Iwanowitsch Syrjanow – ein "turuchansker Hering", wie sie ihn liebevoll nennt - diente 1956 in der Armee. Er kam, um Sonja aus Kasachstan abzuholen. "Wir heirateten, aber der Norden zog uns zurück, und so kehrten wir dorthin zurück – an den besten Ort der Welt: Turuchansk".
Sophia Alexandrowna erinnert sich liebevoll an Spusk, wo sie viele Jahre gelebt hat. Anfangs bezeichnete man in Turuchansk die sanft abfallende Stelle am Ufer des Jenisseis als Spusk (Abhang; Anm. d. Übers.), wo man mit dem Pferd zum Fluss hinab reiten konnte. Dort bauten sie eine Fisch-Station. In den Jahren, als in Turuchansk die Sondersiedler auftauchten, trennten fünf Kilometer Wald, durch den entlang des Ufers ein Weg verlegt war, die Stadt von der Fisch-Station. Spusk hieß aber auch die kleine Siedlung, die neben der Fisch-Station entstand. Hier hoben die Sondersiedler Erd-Hütten aus, hier entstanden die ersten Baracken. Im Anhang 2 – Fotos der Fisch-Station und der Siedlung Spusk aus Sophia Alexandrownas persönlichen Archiv.
1948 begann man zwischen den Siedlungen der Fisch-Station und Turuchansk mit dem Bau eines Flugplatzes. Sophia Alexandrowna berichtet, dass dieser von „Wlassow-Leuten“ errichtet wurde. Das erste Flugzeug war die «Katalina», es trug ein aufgemaltes Hakenkreuz. Mit diesem Flugzeug schickte man Pakete zu Stalins Geburtstag – einen großen geräucherten Taimen-Lachs. Stalin drückte darüber seine Dankbarkeit aus.
Sophia Alexandrowna erzählt mit Begeisterung, wie ihr geliebtes Spusk größer wurde. «Anfangs zersägten sie das Bauholz mit der Hand, dann entstanden ein Sägewerk, eine Böttcherei, eine Schule. Mit Pferden wurden Wasser und Brennholz transportiert. Es gab Stallungen für die Pferde, Traktoren, einen Laden, und vom Bauprojekt 503 brachte man Häuser für Kontore und den Klub. So wuchs die schöne Siedlung Spusk. Und gleich nebenan der Flugplatz. Die Schule wurde von der Fischfabrik zum Flugplatz verlegt. Unsere Fischfabrik wurde für ihre Produkte berühmt. Für die Menschen wurde das Leben leichter, sie wurden fröhlicher und lebensfroher. Die Menschen – sie waren alt geworden, aber ihre Kinder und Enkel waren satt und gingen zur Schule».
Am 14. Juni 1965 kam Sophia Alexandrownas Mann – Wladimir Iwanowitsch Syrjanow – ums Leben. «Mir war es nicht beschieden zu ertrinken, aber Väterchen Jenissei holte sich meinen Mann; nur neun Jahre haben wir zusammengelebt». Sophia Alexandrowna blieb mit ihren drei Kindern zurück. «Wir hatten einen Gemüsegarten, und ich kaufte den Kindern ein Fahrrad». Und in der Nachbarschaft wachsen fünf Kinder ohne Mutter auf, sie war aufgrund der schweren Arbeit gestorben. «Die Nachbarskinder fingen an mich zu sich zu rufen, sie weinen und bitten…. Meine Schwiegermutter meinte: «Geh hin, hab Mitleid mit den Kindern». So wurde ich plötzlich Mutter für insgesamt acht Kinder. Den Namen Syrjanowa behielt ich, nahm später nicht den Namen Wagner (Nachname des zweiten Ehemannes – Anm. d. Aut.) an, aber ich konnte keine Stiefmutter sein. Mit meinem zweiten Mann habe ich alle zu Menschen gemacht, obwohl sie auch wie verrückt gearbeitet haben. Einmal merke ich, dass die Hacke nicht in den Boden geht – die Hände waren ganz taub, ein Gefühl wie Watte".
Mit ihrem zweiten Mann – Alexander Alexandrowitsch Wagner – verbrachte Sophia Alexandrowna 30 Jahre. Die Kinder wuchsen heran, und Sophia Alexandrowna hörte endlich auf körperlich schwer zu arbeiten. Nun konnte sie ihr Haus mit ihren Händen verschönern. Sie konnte sehr gut sticken. Aus Samtstoff stickte sie einen Wandteppich und einen Läufer.
Sophia Alexandrowna ist eine - "Arbeiterin im Hinterland". Sie lebt in der Stadt Schelesnogorsk, Region Krasnojarsk. Sie versteht die Welt poetisch, in Bildern. "So ein Zufall: am Anfang das Leben und bei Sonnenuntergang eine Schlucht – ein jäher Abhang". "Ich saß auf dem Steg und ruhte mich aus. Und ganz plötzlich bemerke ich, was für eine Schönheit um mich herum ist. Un der Himmel, wie ich mich erinnere, so schön blau, aber die Sonne befindet sich bereits auf der anderen Seite, sie wärmt nicht mehr… Wohin ich auch schaue, überall - Vergissmeinnicht, Trollblumen. Alles stand in voller Blüte. Und plötzlich fühle ich, wie mich die Mücken stechen". "Der Nalim-See ist wie ein Meer, es gibt darin eine Insel, von der man die Schreie von Schwänen und anderen Vögeln hört. Was für eine Weite – ein Echo, als ob es auf der ganzen Erdkugel zu hören ist. So eine Weite, so eine Reinheit". "Die Jahre gehen dahin, sie fliegen unwiederbringlich davon, es ist nicht möglich sie zurück zu holen, doch wenigstens einmal noch möchte man ans Ufer treten, wo die Sonne nicht untergeht".
Sophia Alexandrowna schreibt ihre Erinnerungen auf, versucht Gedichte zu schreiben. Sie hat die Möglichkeit gegeben, sich mit ihnen vertraut zu machen; deswegen konnten wir Beispiele dafür anführen, wie poetisch ihre Auffassung von der Welt ist.
Sophia Alexandrowna arbeitete nach ihrer Rückkehr aus Kasachstan nach Turuchansk an der Fisch-Station. Zu der Zeit stand bei der Fischfabrik bereits ein großes Gebäude, das man vom geschlossenen Bauprojekt 503 herübergebracht hatte. Darin waren das Kontor und ein Laden untergebracht, ein Teil stand leer. Man beschloss, dort einen Gewerkschaftsklub einzurichten. Man schlug der aktiven ehrenamtlichen Aktivisten Sophia Alexandrowna vor, einen Klub zu organisieren. Es musste eine Bühne gebaut, das Gebäude vergipst, durch dessen Ritzen man die Straße sehen konnte, verputzt werden.
Sophia Alexandrowna verstand es, die Arbeiten zu lenken. Sie war nicht nur Aktivistin, sondern auch ein sehr guter Mensch. «Wenn sie wegen irgendetwas anfingen zu streiten, sagte ich: «Lasst uns ein Lied singen». Man achtete sie sehr und leisteten ihrem Ruf Folge, einen eigenen Klub ins Leben zu rufen. «Sie brachten Sägespäne heran, verschlossen die Ritzen mit Moos. Die Kinder halfen. Sie bauten eine Filmkabine an. Der Direktor der Fischfabrik stellte Arbeiter zur Verfügung. Sie bauten eine Bühne. Anstelle eines Ofens mauerten sie ein Fass ein. Die Männer beschafften einen Billardtisch, Schachspiele, und dann hatten wir auch noch die Fabrik-Bibliothek». Dabei war Sophia Alexandrowna nicht als Klub-Leiterin registriert, sondern als Pferdemagd der Fischfabrik mit einem Lohn von 96 Rubel.
1964 gong Sophia Alexandrowna in Mutterschaftsurlaub. Als ihr Mann starb, musste sie den Fernunterricht zur Erzieherin im Kindergarten aufgeben. Als die Zeit kam, da sie zur Arbeit zurückkehren musste, stellte man sie als Köchin im Kindergarten ein – zusammen mit einer bereits in Rente gegangenen Köchin. «Niemand wollte als Köchin im Kindergarten arbeiten, weil die Arbeit so schlecht bezahlt wurde. Als Pferdemagd verdiente ich mehr». Aber immerhin konnte sie den kleinen Sascha mit zur Arbeit nehmen.
Als der Kleine in die erste Klasse kam, bat Sophia Alexandrowna um eine andere Arbeit. Als Köchin musste sie sehr früh aufstehen, und der Sohn blieb ohne Beaufsichtigung. Sehr kehrte zur Arbeit in den Klub zurück, war gleichzeitig Reinmachefrau, Heizerin und Klub-Leiterin.
Unsere Informantin Kalissa Petrowna Kanajewa berichtete, dass sie im Klub ihre eigene Bibliothek hatten und die Klubleiterin Laienspielgruppen und Arbeitskreise organisieren musste. Vorwiegend wurde mit Kindern gearbeitet. Sophia Alexandrowna erklärt das damit, dass die Leute sehr gut in der Produktion arbeiteten, aber nicht auf der Bühne auftreten konnten, weil sie sich genierten. «Na ja, du kannst ihnen dafür keine Vorwürfe machen».
1972 änderte der Klub seinen Status; er gehörte nun nicht mehr zur Fischfabrik, sondern ging in den Verwaltungsbereich des Bezirks über. Der Abteilungsleiter für Kultur des Turuchansker Bezirks und Held der Sowjetunion Wladimir Stepanowitsch Michailow schickte sie zu Lehrgängen für ländliche Klub-Mitarbeiter. Sie war damals 43 Jahre alt. Zweimal besuchte sie solche Kurse. Bis zur Rente war Sophia Alexandrowna im Klub tätig, danach versetzte man sie in die Kultur-Abteilung.
In der zweiten Hälfte der 1950-er Jahre begann die Massen-Rehabilitierung der unschuldig in der UdSSR verurteilten Menschen. Deutsche, Finnen, Griechen, Kalmücken, aus dem Baltikum Gebürtige begannen aus Turuchansk abzureisen – Menschen, mit denen Sophia Alexandrowna die Erschwernisse der ersten schrecklichen Verbannungsjahre gemeinsam erlebt hatte.
Ausweise gab man 1956 an die deutschen Sondersiedler aus, erlaubte ihnen jedoch nicht, in die Heimat zurück zu kehren. Die Wolgadeutschen wurden von der Anschuldigung des Verrats erst 1964 freigesprochen. Aber bis 1972 durften sie nicht an die Wolga zurückkehren. Dennoch besuchte Sophia Alexandrowna ihre historische Heimat. «Ich trat an das Eisloch heran, wusch mich, und weinte, weinte, aber leben kann ich dort schon nicht mehr».
Sophia Alexandrowna hat Turuchansk und die Siedlung Spusk mit ganzem Herzen lieben gelernt. «Ich liebe die Region Turuchansk, die Fischfabrik ist mit mir gewachsen. Der Ort der ewigen Verbannung wurde ihr Zuhause. Ihre Schwester lebt in Deutschland. Sophia Alexandrowna war bei ihr zu Besuch, hat in Deutschland vieles gesehen; der Neffe fuhr mit ihr nach Frankreich und Dänemark. «Alles ist dort gut, nur das Brot hat mir nicht gefallen, unseres – ist besser… Ich kam zurück, die Seele sehnt sich nach dem Norden».
Seit 1988 wohnt Sophia Alexandrowna nicht mehr in Turuchansk. Sie hütet sorgsam die Fotos aus ihrem Leben in Turuchansk. In den Anhängen 4 und 5 sieht man einige davon.
2007, nach einer Reise nach Deutschland, kaufte Sophia Alexandrowna Fahrkarten für die dritte Klasse auf dem Doppeldeckschiff «Alexander Matrosow» und «schwamm in ihre bittere Kindheit, zu den Gräbern der Lieben».
Die dem Herzen lieb gewordene Siedlung Spusk verblüffte sie mit ihrer Trostlosigkeit. Geschlossen die Fischfabrik, der Klub und das Kontor. «Ganz Spusk – in Ruinen. Der Flugplatz steht da, wie ein runzeliger Alter, der Bahnhof sieht aus, als hätte man eine alte Decke darüber geworfen».
«Wir waren es, die die Siedlung erbauten.
Wir haben die Erd-Hütten abgerissen,
Die Fischfabrik und Häuser errichtet,
Schade nur, dass jetzt alles verfallen ist».
2012 traf sie erneut in Turuchansk ein, um Verwandte und Bekannte zu besuchen und sich dort umzuschauen, wo sie einmal gewohnt hatte.
Ich bin Sophia Alexandrowna dankbar für ihre Erinnerungen. Ihnen ist es zu verdanken, dass ich einen wichtigen Impuls für mein weiteres Leben erhielt. Von Sophia Alexandrowna kann man etwas lernen. Sie hat standhaft alle Erschwernisse und Entbehrungen der schrecklichen Zeit der Verfolgungen ertragen. Aber es gelang ihr, aus der Verbannung die Lebenseindrücke über die Güte aller Menschen und das mustergültige Verständnis für die Welt und die nordländische Natur heraus zu tragen. Anhand der Eindrücke von ihren Erzählungen habe ich zwei Illustrationen gezeichnet und sie in Anhang 6 beigefügt.
Im Leben kann ich auf unvorhergesehene Probleme stoßen. Hier kann man von Sophia Alexandrowna die Fähigkeit lernen, Widrigkeiten durchzustehen und sich eine standhafte Seele, Güte im Herzen und den Glauben an die Menschen zu bewahren.
Sophia Alexandrowna Syrjanowa (Felsinger)
Schelesnogorsk, Region Krasnojarsk
30. Oktober 2015
Auf solchen Raddampfern wurden Sondersiedler auf dem Jenissei in die
Verbannung gebracht.
Foto aus dem persönlichen Archiv von S.S. Subowa
Der Ufer-Abhang, in den die Erd-Hütten der Sondersiedler gegraben wurden
Foto: S.J. Wlassowa
Turuchansk. Fischfabrik. Siedlung Spusk
Mitarbeiter der Fisch-Station
1944 (1946?)
9. Mai 1945
Blatt 2
Unterricht in der Schule in Spusk. 4. Klasse
Sophia Felsinger – ganz links in der zweiten Reihe
5. März 1947
Ufer bei der Fisch-Räucherei
Walja Samoilowa, Sonja Syrjanowa (rechts)
Blatt 3
An der Fischfabrik
1948
Foto aus dem Familienarchiv von S.A. Syrjanowa
Blatt 1
Leben in Turuchansk
Turuchansk 1953
Beim Fischen
Foto aus dem Familienarchiv von S.A. Syrjanowa
Blatt 2
Links – Sonja Felsinger. 1952
Beim Friseur
1953
Blatt 3
Freiwilliger Arbeitstag am Massengrab. Juni 1954
1. Mai 1965
Blatt 1
Sophia Syrjanowa (Felsinger) in unterschiedlichen Jahren ihres Lebens
Oben – Sonja Syrjanowa
Collage
Blatt 2
Sophia Alexandrowna Syrjanowa in Turuchansk am Häuschen von A.S. Efron
18. Juli 2012
Sophia Alexandrowna Syrjanowa
und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Swetlana Sergejewna Subowa
in Turuchansk im Museum des Zentralen Künstlerhauses «Storch»
am Stand über A.S. Efron
19. Juli 2012
Illustrationen der Autorin zur Forschungsarbeit
«Die Männer entfachten am Ufer ein Lagerfeuer, erhitzten Steine, und diese
Steine legten wir ins Zelt, damit die Kinder sich aufwärmen konnten.
So verbrachten wir die erste Nacht».
«Ich saß auf dem Steg und ruhte mich aus. Und erst da bemerkte ich, was für
eine Schönheit um mich herum war».
Zeichnungen: Juliana Gotowkina