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... Lebendige Geschichte in unmittelbarer Nähe

Olesja Igorewna Gusewa
Region Krasnojarsk, Turuchansker Bezirk, Dorf Wereschtschagino,
Städtische allgemeinbildende Schule, Wereschtschagino
7. Klasse

2006

Jede Generation versteht und erklärt die Vergangenheit auf Grundlage der Werte, die ihre Beziehung zu der sie umgebenden, heutigen Welt definieren. Heutzutage vollzieht sich eine Umbewertung der Ereignisse der sowjetischen Geschichte. In der sowjetischen Historiografie sind Erscheinungen, wie beispielsweise die Umsiedlung ganzer Völker, stillschweigend übergangen worden. Momentan zieht dieses Thema einen breiten Kreis von Menschen in seinen Bann. Um uns herum gibt es zahlreiche lebende Zeugen und Teilnehmer an historischen Geschehnissen, und ich will alles daransetzen, um das, was sie in ihrer Erinnerung bewahrt haben, aufzuzeichnen, damit es für immer erhalten bleibt.

Mich persönlich interessiert dieses Thema, weil es auch in unserer Siedlung viele Umsiedler gibt. Am interessantesten schien mir dabei das Schicksal von Mirza Julewna Distergeft (Diesterhöft?) zu sein. Ich wollte gern Antworten auf bestimmte Fragen haben: wie konnte Mirza Julewna überhaupt überleben und ihre menschliche Würde unter den schwierigen Bedingungen des Krieges, der Repressionen, des Hungers und des allgemeinen Verfalls in der Nachkriegszeit bewahren? Wie sind Menschen in jenen Jahren Freunde geworden, haben sich geliebt, Kinder großgezogen, und sich irgendwie ihren Alltag organisiert. Ich wollte den Zusammenhang zwischen dem Schicksal eines einzelnen Menschen und der Geschichte seines Heimatlandes aufspüren. Und so bat ich sie um ihre Mithilfe. Sie erzählte mir von ihrem Leben und stellte mir Dokumente zur Verfügung, die ich für meine Forschungsarbeit verwenden konnte.

Verzeichnis der Dokumente:

  1. Geburtsurkunde. Die Schwierigkeit bei diesem Dokument liegt darin, daß sie in
    lettischer Sprache ausgestellt ist.
  2. Kopie der Geburtsurkunde. Übersetzung in russischer Sprache. Eines der wichtig-
    sten Dokumente, das Auskunft über die familiäre und soziale Lage, Staatszu-
    gehörigkeit, Konfession, usw. gibt. Eigentlich das wichtigste Dokument.
  3. Arbeitsbuch. Es enthält Angaben über den Arbeitsplatz, anspornende Belohnungen
    und Ehrenurkunden.
  4. Quittung über das Abführen der Landwirtschaftssteuer. Vermerkt sind darin die
    Höhe der Steuer, das Jahr und an wen die Steuer entrichtet wurde.
  5. Bescheinigung über eine verliehene Medaille (Arbeitsveteranin)
  6. Bescheinigung über die Ernennung zur Veteranin der Region Krasnojarsk.

Die Dokumente 5 und 6 geben über die Arbeitsverdienste von Mirza Julewna Distergeft Auskunft.

Insgesamt standen für diese Arbeit sechs Dokumente zur Verfügung.

In den letzten Jahren sind eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen aufgetaucht, die das Problem der Angliederung der baltischen Republiken an die Sowjetunion erläutern. Einige Autoren bestätigen, daß mit Beginn des Zweiten Weltkrieges die Angst einer Eroberung dieser Länder durch Deutschland wuchs, und infolgedessen blieb ihnen kein anderer Ausweg, als mit der UdSSR einen Vertrag über gegenseitge Hilfe abzuschließen. Andere weisen darauf hin, daß die sowjetische Führung an diesen Territorien aufgrund ihrer strategischen Lage äußerst interessiert war. Sie merken ferner an, daß die deutsch-sowjetischen Vereinbarungen das Schicksal des Baltikums vorherbestimmten. Im Mai 1940 wurden auf dem Gebiet der drei baltischen Länder verstreut Truppen der Roten Armee stationiert (67 000 Mann), was die allgemeine Armeestärke der baltischen Staaten überstieg. Im Juli 1940 erhob das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR gegen die baltischen Länder Anklage wegen ihrer feindlichen gesinnung gegenüber den sowjetischen Garnisonen. Da sie keinerlei Möglichkeiten hatten, Hilfe durch den Westen zu erhalten, waren die Regierungen Estlands, Lettlands und Litauens gezwungen, den Einmarsch weiterer Verbände der Roten Armee auf ihrem Territorium zu dulden.

Am 21. Juli 1940 begann der Sejm, das lettische Volksparlament, seine Arbeit. Auf der ersten Sitzung des Sejm wurde die Frage über die Staatsmacht in Lettland aufgeworfen. Es wurde der Beschluß zur Bildung einer Sowjet-Macht in Lettland und ihre Eingliederung in die Sowjetunion gefaßt.

Im August 1940 wurde Litauen in den bestand der UdSSR aufgenommen. Auf die Frage, ob sich das Leben in Litauen nach dem Zusammenschluß mit der UdSSR verändert habe, antwortete Mirza Julewna: „Es gab keinerlei Veränderungen“.

Trotz einiger Besonderheiten in seiner Entwicklung (Erhalt kleiner Privat-Unternehmen und einzelner Bauern-Wirtschaften), schloß sich Litauen recht schnell an das administrative Kommando-System an. Und nun beginnen sie mit der Durchführung repressiver Maßnahmen gegen die „Volksfeinde“. Einer der Gründe für die Repressionen, welche die Litauer schwer trafen, war, daß dieses Volk von den stalinistischen Herrschern für einen Nährboden von Spionage und Mittäterschaft gehalten wurde.

Ende Mai 1941 wurde Mirza Julewnas Firma aus Litauen verschleppt:

Während der Deportation und in den ersten Jahren ihrer Ansiedlung an den neuen Wohnorten, die zum Bewohnen überhaupt nicht geeignet waren, starben tausende Menschen an Hunger und Krankheiten. Von einer fünfköpfigen Familie schafften es zwei zu überleben – anders ausgedrückt sind das 40%.Mirza Julewna lebte in der Lettischen Republik, im Lipajsker Landkreis, auf dem Gutshof Rawa. Sie besaßen eine Wirtschaft: 8 Kühe, 3 Pferde, 7 Schafe, ein paar Schweine, Hühner, Enten, usw. Lohnarbeiter hatten sie nicht beschäftigt. Das Haus und ihren gesamten Besitz mußten sie zurücklassen. Nur ein paar persönliche Sachen durften sie mitnehmen.

Die sind Mirza Julewnas Erinnerungen an die Umsiedlung: „Vom Gut Rawa bis zum Bahnhof fuhren wir mit dem Autobus und dann weiter mit dem Zug. Wir hatten gerade die lettisch- russische Grenze überquert, als der Krieg ausbrach. Den Vater – Julij Ludwigowitsch Distergeft – schickten sie in die Arbeitsarmee. Danach verliert sich seine Spur. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört“.

Den Repressierten teilte man nicht mit, an welchen Ort sie umgesiedelt wurden, deswegen war es nach der Trennung schwierig einander wiederzufinden. Die allgemeine Kriegssituaton verschärfte sich.

„Sie verluden uns auf einen Transportzug und brachten uns zur Station Kljukwino in der Nähe von Krasnojarsk. Nach dem Aussteigen verteilten sie uns mit Pferden auf dir Dörfer. Unsere Familie geriet in das Dorf Mala Kamala unweit der Stadt Kansk. Dort lebten wir etwa ein Jahr. In dieser Zeit mußten wir die Oma zu Grabe tragen. Die schwere Last der Umsiedlung und die Trennung von der Heimat hatten ihre Spuren hinterlassen. Diejenigen, die bereits etwas ältere Kinder hatten, wurden in den Norden zum Fischfang geschickt. So gelangten wir 1942 in das Dorf Markowo im Turuchansker Bezirk. Aufgrund der schwierigen Lebensumstände und der völlig unzureichenden Ernährung starb die älteste Schwester Natascha; sie war erst 15 Jahre alt. Im Dorf Wereschtschagino wurden Leute für die Fischverarbeitung benötigt. Mit einem Boot wurden wir dorthin gebracht. Im Sommer 1943 fanden wir uns an unserem neuen Wohnort ein. Wir leben hier heute noch. 1972 starb die Mama. Seit 1944 hatte sie in der Swerdlow-Kolchose gearbeitet. Außer mit Fischfang beschäftigten wir uns auch mit der Beschaffung von Brennholz. 6 km weiter, den Jeniesej flußaufwärts, gab es eine kleine Holzhütte. Dort bereiteten wir das Holz vor. 16 Mann sägten Holz für Dampfer zurecht. Damals fuhren die „Maria Uljanowa“ und die „F. Engels“. Zwei Monate hintereinander stellten wir Brennholz her – wir zerkleinerten es mit einer Handsäge.

Die Brotnorm betrug 700 Gramm pro Tag. Die Zeit nach dem Krieg, 1946-1947, war sehr schwer. Da gaben sie einem für die ganze Woche einen Laib Brot und ansonsten konnten wir ja Fische fangen.

Auch die Arbeitsbedingungen waren nach dem Krieg sehr schwierig. Handarbeit überwog. Der Arbeitslohn betrug 40 Rubel im Monat“.

Erhalten geblieben ist eine Quittung über den Erhalt der Landwirtschaftssteuer. Ausgegeben wurde sie im Jahre 1949, am 4. November. Aus diesem Dokument kann man ersehen, daß die Summe für diese Steuer 15 Rubel pro Jahr ausmachte. Nach meinen Berechnungen waren das also 3,1% des Jahresarbeitslohns. Die Quittung war ausgestellt auf Neisa Distergeft, denn sie war das Familienoberhaupt. Anhand der fehlerhaft geschriebenen Quittung kann man das Rechtschreibniveau der bei den lokalen Behörden tätigen Beamten und den allgemeinen Entwicklungsstand im Lande erkennen. 1964 wurde die Swerdlow-Kolchose in Staatlicher Nord-Turuchansker Industriebetrieb umbenannt. Durch die Verordnung N°. 2 vom 25. September 1964. Der Direktor hieß Barfolomejew.

Vom 11. November 1964 bis 1. April 1982 arbeitete Mirza Julewna als Melkerin im Nord-Turuchansker Industriebetrieb: „Gemolken wurde mit der Hand; wir mußten die Tiere auch selbst füttern, tränken und den Stall ausmisten. 1952 wurde Sohn Alexander geboren. Als er anfing, auf der Farm zu arbeiten, war er bereits 12 Jahre alt. Er wurde mein zuverlässiger Helfer“.

Für gute Arbeitsleistungen erhielt Mirza Julewna mehrfach Dankesurkunden. Anordnung
N°. 22 vom 4. März 1977, Anordnung N°. 18 vom 17. März 1978.

Sie besitzt ein Zeugnis, das sie als Veteranin der Arbeit ausweist und das sie am 15. November 1978 für ihre langjährige und gewissenhafte Arbeit bekommen hat. Die Entscheidung wurde am 3. November 1978 vom Exekutiv-Komitee des Krasnojarsker Regionsrates der Volksdeputierten gefällt.

Sie ist Veteranin der Region Krasnojarsk und kann Rechte und Vergünstigungen in Anspruch nehmen, die in Artikel 4 des Krasnojarsker Regionsgesetzes „Über Veteranen der Region Krasnojarsk“ festgelegt sind“. Sie ist im Besitz einer unbefristeten Bescheinigung, die für das gesamte Territorium der Region Krasnojarsk Gültigkeit hat. Das Dokument trägt die Unterschrift von N.B. Jaryschnow vom 4. Januar 2002.

Nach der Eingliederung der baltischen Staaten in die UdSSR beginnen die Repressionen gegen die im Beitrittsgebiet lebende Bevölkerung. So wurde Mirza Julewnas Familie aus Lettland nach Sibirien umgesiedelt. Unter Stalin erfolgte die Umsiedlung für immer, ohne das Recht auf Rückkehr an den vorigen Wohnort.

Formell galten die Letten als Sonderumsiedler; man versprach ihnen materielle und finanzielle Kompensation sowie Hilfe bei der Organisierung ihres Alltagslebens an den neuen Wohnorten. Die bürokratische Maschinerie brachte sogar eine ganze Masse entsprechender Berechnungen und Anweisungen heraus, aber wie Augenzeugen berichten, machte niemand Anstalten, sie in die Tat umzusetzen. Unterdessen waren die Deportierten zu mehr als 90% ihres individuellen und kollektiven Eigentums enthoben, d.h. sie waren faktisch vollständig ausgeraubt.

Die Führung kleiner Hofwirtschaften brachte die Menschen zusammen. Deswegen war ein individueller Widerstand gegen die Staatsmacht nicht möglich. Die Repressionen drückten der moralischen Atmosphäre im Lande ihren Stempel auf. Jedermann wußte, was man sagen durfte und welche Äußerungen gefährlich waren. Eigeninitiative und Verantwortungsgefühl gingen verloren. Die alltäglichen Bedürfnisse und das Lebensniveau gerieten auf ein- und dieselbe Stufe und brachten uncharakteristische „Arbeiter ohne jegliche Persönlichkeit“ hervor. Mirza Julewnas Familie hielt es für besser, sich unterzuordnen und mit der Strömung zu schwimmen, „sei es, wie es ist, und komme, was wolle“. Nachdem sie in Markowo angekommen war, stellt esich heruas, daß man Mirza Julewna dort als „Fremde“ behandelte. Nach welchen Kriterien kann man die Begriffe „zu den Unseren gehörig“ bzw. „Fremde“ definieren?

Die Haltung des Staates unterscheidet sich vom Verhalten der örtlichen Bevölkerung gegenüber den „Fremdling“. Für den Staat war die Einstellung des „Sonderlinge“ zu den Machthabern und ihre politischen Ansichten wichtig, für die gewöhnlichen Menschen dagegen waren ohre Nationalität, ihre Religion und der Ort, an dem sie vorher gelebt hatten, von Bedeutung.

Analyse der Kopie der Geburtsurkunde:

Was die soziale Stellung von Mirza Julewnas Familie betraf, so handelte es sich um eine Bauernfamilie. Der Vater war deutscher Nationalität, die Mutter Lettin. Ihr Glaubensbekenntnis – lutherisch (protestantisch-christliche Religion).

Warum nahm Mirza Julewna die lettische Staatsangehörigkeit an? Vielleicht hängt es damit zusammen, daß ihr Verhältnis zu den Letten besser war als zu den Deutschen:

„Die Ortsansässigen des Dorfes Markowo benahmen sich uns gegenüber unfreundlich, Es waren wahre Tiere. Sie sprachen nicht mit uns, tuschelten hinter unserem Rücken und beschimpften uns. Es wurde schnell klar, daß daß mit ihrer Unterstützung beim Organisieren unseres Alltagslebens nicht zu rechnen war.

Nur gut, daß gerade Sommer war und damit Zeit für das Vorbereiten von Brennholz für den Winter, das Beschaffen von Lebensmitteln und das Nähen von Winterkleidung. Und so freundeten sie sich auch in diesem ganzen Jahr mit keinem einzigen Ortsbewohner an. Im Sommer 1943 schickten sie uns nach Wereschtschagino. Die Bewohner nahmen uns freundlich auf. Dabei hatten wir das gar nicht erwartet. Man gab uns Lebensmittel, Geld und brachte uns in Wohnungen unter. Sie waren uns behilflich, wie und wo sie nur konnten. Wir freundeten uns mit den Familien von Nikita Andrejewitsch Kutscherenko und Arnold Arnoldowitsch Schersch an“.

Am 8. Januar 1945 erging der Beschluß des Rates der Volkskommissare No. 35 „Über die rechtliche Lage der Sonder-Umsiedler“; er trug die Unterschrift des stellvertretenden Rates der Volkskommissare der UdSSR - Molotow – und des Leiters für die Angelegenheiten des Rates der Volkskommissare der UdSSR – J. Tschadajew (Geschichte der UdSSR, Moskau, „Wissenschaft“, 1992, N°. 1). Laut Beschluß sollten die Sonder-Umsiedler in ihren Rechten mit allen anderen Bürgern der UdSSR gleichgestellt werden, waren jedoch in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, das heißt in Wirklichkeit wurden die grundlegenden bürgerlichen und politischen Rechte verletzt.

Für eigenmächtiges Umziehen an einen anderen Ort wurde man strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Das Familienoberhaupt sollte die anderen Familienmitglieder denunzieren. Bei Verletzung des herrschenden Regimes und der öffentlichen Ordnung mußte man eine Strafe von 100 Rubel zahlen – für damalige Verhältnisse eine ungeheure Summe.

Am 25. Februar 1956 hielt Chruschtschow auf dem 20. Parteitag eine Rede „Über den Personenkult und seine Folgen“. Es begann die Rehabilitierung von Repressionsopfern, es wurde ihnen erlaubt, an ihrer ursprünglichen Wohnort zurückzukehren. Auf die Frage: „Wollten Sie denn nicht an ihren alten Wohnort zurück?“ – antwortete Mirza Julewna sehr kurz: „Das wollten wir! Aber wir hatten kein Geld dafür.“ –

Der Wunsch, das Leben so zu nehmen, wie es ist, half Mirza Julewna unter den schwierigen Bedingungen zu überleben. „Im allgemeinen bin ich mit meinem Leben zufrieden.Ich hätte auch noch ein zweites Mal heiraten können, aber wegen meines Sohnes wollte ich das nicht. Und nun sorgen mein Sohn, meine Schwiegertochter und die Enkel für mich. Jetzt besteh die Möglichkeit von hier fortzufahren, aber für kein Geld in der Welt würde ich zurückkehren“.

Mirza Julewna hat ihr Leben lang gearbeitet, hat nie die Hände in den Schoß gelegt. Sie war stets bemüht, sich unter den Ortsansässigen nicht hervorzutun. Die Sibirjaken sind ein rauhes Volk, und schwächlich veranlagte Menschen schaffen es nicht, neben ihnen zu durchzuhalten. Mirza Julewna hat es gelernt, stark zu sein. Ihr ganzer Lebenssinn bestand aus Arbeit. Mit ihrem Fleiß konnte sie „die Fremden“ bezwingen und eine „der ihren“ werden. Diese wichtigen Qualitäten, wie Fleiß und Achtung gegenüber den Menschen, konnte sie auch an ihren Sohn weitergeben. Seit mehr als 10 Jahren wird er nun schon zum Bürgermeister der Siedlung gewählt. Aus Sonder-Umsiedlern wurde die Familie Mirza Julewnas zu Hiesigen, zu Ansässigen.

Heutzutage ist die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte recht gut erforscht, aber egal wie intensiv die Menschen sie auch studieren, alles wird man über sie nicht zu wissen bekommen; vieles wird verschwiegen, vieles ist überhaupt nicht bekannt. Aber es gibt Menschen, die über die Vergangenheit berichten können. Sie leben in unserer unmittelbaren Nähe – als ganz normale, einfache Menschen. Und Mirza Julewna Distergeft ist einer von ihnen. Sie war Zeugin jener Zeiten, als die Kanonen donnerten, als die Menschen aus ihrem Elternhaus herausgerissen und in fremde Gefilde abtransportiert wurden. Zusammen mit Mirza Julewna erleben wir die Geschichte der Vergangenheit direkt unter uns. Vieles hat sie uns erzählt, und man braucht keine Zeitmaschine, um die Vergangenheit kennenzulernen, denn die LEBENDIGE GESCHICHTE BEFINDET SICH IN UNSERER UNMITTELBAREN NÄHE.

Viele Repressionsopfer machen von den Vergünstigungen, die ihnen zustehen, Gebrauch, erhalten eine finanzielle Kompensation, besitzen Privilegien im Rahmen des „Nord-Süd“- Umzugsprogramms; nicht so Mirza Julewna Distergeft. Wir haben Mitleid mit ihr, sie tut uns leid. Es gibt Menschen, nicht verdienende Familienmitglieder, aber sie ist daran gewöhnt, ihr Leben von ihrer eigenen Hände Arbeit zu leben und niemanden um etwas zu bitten.

Ich versuchte die tragischen Seiten der neuzeitlichen vaterländischen Geschichte durch das Studium eines konkreten menschlichen Schicksals zu verstehen. Zu dem Zweck wurden Gespräche mit einer Zeitzeugin der Repressionen und der Umsiedlungen geführt. Während der Unterredung mit Mirza Julewna bekam ich Antworten auf Fragen, die mich bewegten, ich hörte ihre Erinnerungen an Ereignisse der 1940er bis 1970er Jahre. Ich kopierte von ihr Ausweise und Dokumente und verwendete diese dann für meine Arbeit. Zu Sowjetzeiten waren Millionen Menschen Deportationen ausgesetzt. Das Problem der Umsiedlungen ist noch unzureichend erforscht. Da sich in unserer Siedlung ebenfalls ehemalige Umsiedler befinden, habe ich beschlossen, einen kleinen Beitrag zum Studium und zur Erforschung dieser Problematik zu leisten.

Schwierigkeiten, auf die ich während meiner Arbeit stieß:

Und was hat mir diese Arbeit gebracht?

  1. Ich habe mich damit auseinandergesetzt, wie man eine Forschungsarbeit schreibt, und dieses Wissen wird mir bei meinem weiteren Lernen helfen.
  2. Durch das Studium der Geschichte anhand eines konkreten Schicksals, habe ich die Geschichte des 20. Jahrhunderts besser gelernt und verstanden.
  3. Ich habe gelernt, wie man einen Fragenkatalog erarbeitet und wie man Menschen  interviewt, und ich habe mir die Technik des Aufzeichnens von Interview-material angeeignet.

Anfangs war ich mit Interesse an die Arbeit herangegangen, im Verlaufe meiner weiteren Forschung wurde das Interesse RIESENGROSS. Ich glaube, dies wird nicht meine letzte Arbeit dieser Art sein.

Literatur-Angaben

  1. W. I. Winogradow. “Die Geschichte der UdSSR in Dokumenten und Illustrationen (1917-1980“. Moskau, Verlag „Aufklärung“, 1981, S. 149. Dokumenten-Material aus dem erforschten Zeitraum.
  2. W.W. Tschagin. „Polare Horizonte“. Krasnojarsk, Buch-Verlag, 2000. Enthält Material über Repressionen.
  3. „Fragen der Geschichte“. Moskau, TOO „Saschko“, 1993, No. 10. Geheime Anordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des Zentralkomitees der WKP (B) vom 21. August 1937 über Völkerdeportationen.
  4. „Die Geschichte der UdSSR“. Moskau, Verlag „Wissenschaft“, 1992, No. 1. Dokumente  über die Folgen der Völkerdeportationen.
  5. Vaterländische Geschichte. Moskau, Verlag „Wissenschaft“, 1993, No. 6, Dekret des  Präsidiums des Obersten Sowjet über die Umsiedlung der Deutschen.
  6. „Geschichte und Gesellschaftskunde in der Schule“. Moskau, Verlag „Schulpresse“, 2005,  No. 7 „Über die Angliederung der baltischen Staaten an die UdSSR“.

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