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Ist mein Haus etwa eine Festung?

Autor: Witalij Viktorowitsch Holzer, 11, Klasse, städtische allgemeine Bildungseinrichtung – Schirinsker allgemeinbildende Mittelschule No. 4, Siedlung Schira, Chakassien.

Leiterin: Tatjana Wasiljewna Holzer, Geschichtslehrerin, seine Mutter

Siedlung Schira, 2005

Heimat, Familie, Verwandte. Für jeden Menschen sind das sehr wertvolle und wichtige Wörter. Für mich birgt die Heimat den Anfang des väterlichen Hauses und des großväterlichen Nachnamens in sich. Der Familienname geht von den Alten auf die Jungen über, von Generation zu Generation. Deswegen sind die Menschen stolz auf ihre Familiennamen – sie sind ihnen lieb und teuer. Denn seinen Nachnamen beflecken und entehren, das bedeutet Geringschätzung und Respektlosigkeit gegenüber den Alten, den Verwandten zu bekunden, die ihn tragen und von denen auch die ihn bekommen hast. Mein Großvater, Aleksander Wilhelmowitsch Holzer, wurde 1927 als Sohn von Wilhelm Aleksandrowitsch und Teresa (Therese) Karlowna in der Siedlung Basel, Gebiet Saratow, geboren. Mein Vater, Viktor Aleksandrowitsch Holzer, erblickte 1965 in der Siedlung Schira, in Chakassien, das Licht der Welt. Ich bin auch ein Holzer; auch in meinen Adern fließt deutsches Blut. Aber mich hat nie jemand als Faschisten beschimpft, niemand hat mich gehänselt oder mir Böses gewünscht. Ich bin ein gleichberechtigter Bürger meines Landes. Aber ganz anders verhielt es sich im Jahre 1941, als die Familie meines Großvaters für immer den Ort verlassen mußte, wo all ihre Mitglieder geboren waren und gelebt hatten.

Ich wollte gern erfahren und verstehen, warum das geschehen konnte, die Geschichte meiner Familie streifen und kennenlernen, den mir am nächsten Stehenden ein paar liebe und gute Worte sagen., den ehrbaren Namen meiner Familie schützen und bewahren.

Warm und behaglich war es bei uns! Wir hatten reichlich zu essen! Genau so erinnert und beschreibt mein Großvater seine Kindheit an der Wolga, wo er geboren wurde und in einer Familie von Nachfahren deutscher Kolonisten aufwuchs, die sich im 18. Jahrhundert an der Unteren Wolga niedergelassen hatte. Er erinnert sich an das Dorf, in dem er mit den Eltern, zwei Schwestern und einem Bruder lebte. Eine Schule gab es dort nicht. Man brachte sie im Winter mit Schlitten, im Frühjahr und Herbst mit Leiterwagen 3 km entfernt zum Unterricht. Aber sie erfanden auch noch ein anderes Transportmittel für den Winter, als die Wolga mit Eis bedeckt war: dann fuhren sie auf Schlittschuhen zur Schule. Er war das älteste Kind in der Familie. Seine Mutter befaßte sich mit dem Großziehen der Kinder, und der Vater arbeitete in der Kolchose als Gruppenleiter der Ackerbaubrigade. Im Dorf gab es immer jede Menge zu tun. Großvater erinnert sich daran, daß er den Eltern im Gemüsegarten half: er hegte und pflegte die Zucker- und Wassermelonen, die riesengroß wurden. Es gab davon so viele, daß es ihnen nicht gelang, alle zu ernten – wenn sie überreifen waren, barsten sie einfach auseinander. Und sie, die Kinderchen, aßen das Fruchtfleisch der Wassermelonen ohne Kerne, den Rest verfütterten sie ans Vieh. Bis heute hat sich beim Großvater die Leidenschaft für Melonenfelder bewahrt, und wenn er heute einmal eine Wassermelone kauft, vergleicht er sie unwillkürlich mit denen aus seiner Kindheit. Er kann sich auch noch an die Milch und die saure Sahne erinnern, mit denen die Mutter die Kinder fütterte. Und wieviel Arbeit es immer auf dem Feld gab. Sie pflügten mit einem zweihöckrigen Kamel, eggten und säten. Im Juli begann die Heumahd. Und gemeinsam mit dem Großvater brachen sie sogleich zur Arbeit mit Übernachtung auf. In jenen Gebieten wächst das Gras nur spärlich. Morgens mähten sie, und gegen Abend war das Heu bereits getrocknet. Zur Nacht legte der Großvater den Leiterwagen mit getrocknetem Heu aus, darauf breitete er Tücher aus. Sie legten sich schlafen, wobei sie den frischen Duft des Heus einatmeten. Der Großvater hüllte seinen Enkel behutsam ein und deckte ihn sorgfältig zu, damit nicht irgendwelche fremden Geräusche ihn aus dem Schlaf weckten. Und so schliefen sie dann – eng aneinander geschmiegt. Diese Gewohnheit auf der Seite zu schlafen, ein Ohr zugedeckt, hat sie bis heute bei meinem Großvater erhalten. Sie brachten das fertige Heu auf zweirädrigen Karren fort, vor die sie Kamele gespannt hatten. Als ich zum ersten Mal davon hörte, war mir etwas merkwürdig zumute – Kamel und Heu, Ackerbau mit Kamelen. Aber es stellt sich heraus, daß diese Tiere auch eine derartige Arbeit verrichten und nicht nur durch die Wüste reisen und Lasten transportieren können. Nach der Heumahd begann in der Kolchose die Getreideernte. Das ist eine sehr vearntwortungsvolle und mühsame Angelegenheit, aber die Ernte hängt nicht immer von der Arbeit des Menschen ab. Auch das Wetter spielt eine große Rolle. Von 1932 bis 1936 gab es überhaupt keine Ernte. Die Menschen hatten es sehr schwer. Dafür entfiel auf das Jahr 1937 eine überreiche Getreideernte. 18 Kilogramm Korn bekam man für eine Tagesarbeitseinheit. Es gab sovieol davon, daß es keinen Platz mehr gab, um es unterzubringen. Aber da kam der volkseigene Scharfsinn zur Hilfe – die Menschen hatten ja Köpfchen! Sie bauten krugförmige Gruben. Unter der eineinhalb Meter dicken Schwarzerde-Schicht befand sich Lehm. In die Schwarzerde wurde eine enge, trichterförmige Öffnung hineingegraben und in den Lehm selbst eine bauchige, krugförmige Höhle. Sie war drei Meter tief und hatte einen Durchmesser von zwei Metern. In solch einer Höhle breiteten sie Stroh aus und steckten es dann in Brand. Der Lehm wurde dadurch hart. Und die Grube verwandelte sich praktisch in einen Krug. In ihn schütteten sie auch Getreide hinein. Sobald er gefüllt war, wurde die Öffnung verschlossen, damit keine Feuchtigkeit hineingelangen konnte. Getreide hielt sich in diesem Behältnis ganz hervorragend – viele Jahre konnte man es darin aufbewahren. Im Jahre 1941 holten sie es hervor, um es mitzunehmen. In eine dieser Krughöhlen brach während der Aussiedlung ein Fahrzeug ein. Was sich da für ein Lärm und Geschrei erhob. Das ist Provokation! Ein Sabotageakt! Die Faschisten hatten das alles absichtlich so eingerichtet. Ja, Angst macht große Augen. Aber wie kann man denn schon so gewöhnliche, alltägliche Dinge drehen und wenden. Daß sie auch in allem etwas Schlechtes sehen mußten! Lieb und einträchtig lebten sie zusammen, die Eltern waren fürsorglich und gingen miteinander und mit den Kindern innig und liebevoll um. Und wie fröhlich ging es zu, wenn Fest- und Feiertage vor der Tür standen ...

Aber all das wurde plötzlich mit einem Schlag zunichte gemacht ... Der Krieg mit Deutschland brach aus. Im September 1941 wurden sie benachrichtigt, daß sie innerhalb von drei Tagen das Allernötigste zusammenpacken und ihr Haus verlassen sollten. Man transportierte sie auf LKWs (Eineinhalbtonner) und unter der Begleitung von Wachmannschaften ab. Städte und Dörfer blieben hinter ihnen zurück. Besonders unheimlich war die Fahrt während der Nacht. Einsame Dörfer, kein Lichtschimmer, keine Geräusche, nichts regt sich, keine Menschenseele ist zu sehen. Nur die Hunde bellen aus Sehnsucht nach ihren Herren. Die Dörfer hatten sich in einen weiten Raum verwandelt, der wie ausgestorben dalag. Man brachte sie bis an die Wolga; von dort fuhren sie mit dem Schiff bis nach Saratow, wo sie in Viehwaggons verladen und, zusammen mit allen übrigen Bewohnern, mit unbekanntem Ziel abtransportiert wurden. Niemand nahm sich die Zeit ihnen zu erklären, wohin es ging, weshalb man sie eigentlich fortbrachte und zu welchem Zweck sie ihre heimatlichen Gefilde verlassen sollten. Wenn ich heute über diese Ereignisse nachdenke, erscheint mir das alles ganz unglaubwürdig ... Wie wäre es wohl, wenn sie mich, meine Eltern und meine Schwester aussiedeln würden, oder wenn sie einfach in mein Haus kämen, uns Befehle erteilten und uns vorschreiben würden, was wir zu tun hätten ... Ja, die Zeiten ändern sich, und wenn wir heute mit der Demokratie nicht zufrieden sind, dann lehnen wir uns auf und zeigen unsere Empörung darüber, daß unsere Rechte verletzt werden. Und du begreifst, daß in jenen Zeiten die Menschenrechte überhaupt nicht gewahrt wurden. Und warum? War das eine Volksmacht? Wurde all das von Menschen aus demVolk gemacht? Am eigenen Leibe erfuhren sie Hunger und Elend, Rechtlosigkeit, Schwerstarbeit. Sie hätten danach streben sollen, daß die Bürger im Lande alles hatten – Arbeit, ein gutes Gehalt, die Wahrung ihrer Rechte; aber leider ... Das Wichtigste, wonach sie strebten, war die Macht, der Wunsch andere zu befehligen und ihnen Anordnungen zu erteilen. Sie befanden sich in einer ganz anderen Rolle und genossen ihre Macht in vollen Zügen. Sie hatten schreckliche Angst, daß sie diese Macht verlieren könnten, und deshalb wahren sie auf die physische Vernichtung all ihrer Gegner aus, sahen überall nur Feinde und Verrat. Zu den mutmaßlichen Verrätern zählten auch die Wolga-Deutschen, die man grundlos der Mittäterschaft am Eindringen der deutschen Faschisten im Jahre 1941 beschuldigte. Am 28. August 1941 wurde die Republik der Wolga-Deutschen abgeschafft. Für die Rußland-Deutschen kam nun zu den Schrecken des Zweiten Weltkrieges auch noch der Alptraum der gewaltsamen Deportation hinzu. Das deutsche Volk hatte sich von den Sowjetbürgern des Landes nicht abgetrennt. In den ersten Kriegstagen gingen von den in der Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Republik der Wolga-Deutschen lebenden deutschen Männern zweitausendfünfhundert Gesuche mit der Bitte ein, sie als Freiwillige an die Front zu holen, aber die Kriekskommissariate nahmen sie nicht an – mit der Begründung, daß für den Frontdienst nur Militärpersonen mit Fachausbildung gebraucht würden. Diejenigen Deutschen, die sich bei Kriegsausbruch gerade in der Armee befanden, kämpften in den Feldeinheiten, aber nach der Verabschiedung des Ukas über die Aussiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet wurden sie entlassen und umgehend in die Sonderzwangsansiedlung geschickt. Insgesamt wurden nach Angaben von A.A. German(n) / Herman(n) 438600 Deutsche ausgewiesen, darunter 365700 aus der ASSR der Wolga-Deutschen, aus der Region Saratow 46700, aus der Region Stalingrad 26200. Man transportierte sie ins Nowosibirsker Gebiet, in die Region Omsk, nach Kasachstan und die Region Krasnojarsk. Und ein Zug brachte den Großvater nach Osten. Den Eltern des Großvaters gelang es, in den drei zur Verfügung stehenden Tagen Kleidung und Essen einzupacken, soviel sie mit den Armen tragen konnten. Mein Großvater nagelte eine Kiste zusammen und verstaute darin das Fahrrad – sein ganzer Stolz, sein ganzer Reichtum. Der Vater hatte es ihm 1937 gekauft, nachdem er auf dem Markt Fleisch veräußert hatte.Im ganzen Dorf gab es nur zwei Fahrräder. Großvater hütete es wie einen Schatz und war für dieses Geschenk seines Vaters sehr dankbar. Die Kiste hat er heute noch; wie ein Relikt hat er sie verwahrt. Das Fahrrad aber mußten sie verkaufen, um von dem Geld Lebensmittel kaufen zu können. Das war damals schon in Sibirien. Es spielte seine Rolle, um sie vor dem Hungertod zu retten.

Ihren gesamten Besitz ließen sie zurück. Man gab ihnen eine Bescheinigung, in der alles aufgelistet war, was zurückblieb: das Haus, die Möbel, das Boot, das Butterfaß, dreißig Kubikmeter Brennholz. Der Großvater hat das Dokument heute noch. Aber nichts hat er dafür wiederbekommen. Aber die Kuh, die nahmen sie mit, und sie fuhr zusammen mit den Menschen im Waggon. Nur gab es nichts, womit man sie hätte füttern können. Unterwegs verendete sie. Sie fuhren zweiundzwanzig Tage und Nächte – vom 12. September bis zum 4. Oktober. Nur an den großen Bahnhöfen ließ man sie aussteigen. Es kam vor, daß Passagiere auf dem Weg starben. Sie wurden nur an den Haltepunkten eingesammelt und nach draußen gebracht: „Gibt es Tote?“

Als sie durch Kasachstan fuhren, wurden an den Stationen Wassermelonen verkauft. Der Großvater wollte unbedingt, daß man sie dort bleiben ließ, denn es sah alles so ähnlich wie in der Heimat aus. In Alma-Ata erbat der Großvater von seinem Vater etwas Geld und kaufte für sich un die Geschwister Eis. Wie gut das schmeckte!

Man transportierte sie zur Station Kamartschaga, Region Krasnojarsk, und anschließend in das Dorf Belogorka, Mansker Kreis. In dem Haus, in dem sie untergebracht werden sollten, nahmen die Besitzer sie nicht auf. Und nachdem sie irgendwie die Nacht herumgebracht hatten, machten sie sich auf die Suche nach einer Behausung. Sie fanden ein vernachlässigtes Badehaus. Darin ließen sie sich dann auch nieder. Großvaters Vater, Wilhelm Alexandrowitsch und zwei seiner Brüder wurden am 27. Januar 1942 in die Arbeitsarmee geholt. Man schickte sie zur Station Reschoty, zur Holzfällerei. Das war ein ganz schrecklicher Ort. Über das Leben dort erzählte der Bruder von Großvaters Vater, Iwan, der die Zeit überlebte: „Der Schnee reichte bis an die Brust. Zuerst stampfst du den Schnee um den Baumstamm herum fest. Du fällst den Baum. Und dann, kaum imstande, überhaupt durch den Schnee zu kommen, hackst du alle Zweige ab (und die muß man im Schnee auch erstmal finden und mit der Axt bis zu ihnen vordringen). Und genau durch diesen lockeren Schnee schleifst du die Äste und Zweige fort, legst sie zu Haufen zusammen und verbrennst sie (aber sie qualmen nur und wärmen nicht). Nun zersägst du den Stamm und schichtest die einzelnen Stücke zu einem Stapel auf. Die Tagesnorm pro Mann – 5 Kubikmeter. Am Ende des Arbeitstages können die Arme schon nicht mehr die Axt emporheben, und die Beine wollen nicht mehr gehen. Sogar bei minus 30 Grad mußten sie diese Arbeit verrichten. Während des Krieges bekamen sie dabei nur Kriegsverpflegung (500-600 Gramm Brot, drei Schüsseln Wassersuppe und 10 Stunden Arbeit – das war für die Zwangsarbeiter der Arbeitsarmee tödlich). Sie wohnten in Baracken. Dort waren zweistöckige Pritschen aufgestellt. Sie lagen auf nackten Brettern. Tagsüber stand die Baracke leer, nachts trockneten die Menschen ihre feuchte Kleidung am Körper. Ohne Strohunterlage konnten sie schlecht schlafen, vor allem war es kalt. Und die vielen Wanzen und Läuse ... Das alles war nur in einem sozialistischen Staat des 20. Jahrhunderts möglich. Als das Volk an der Macht war! Eine Macht, die den Willen des Volkes ausführte! Die ihre eigenen Interessen zu wahren suchte. Hat das etwa Ähnlichkeit mit der hellen Zukunft, zu der die Revolutionäre und Leninisten aufgerufen haben?“

Als ich die Erzählung des Großvaters hörte, stellte ich mir von Zeit zu Zeit vor, daß all dies gar nicht mit ihnen passiert war, sondern in einem anderen Leben. Daß alles nur ein schlechter Traum war ... Es lohnt sich, nur einmal die Augen zu öffnen, aus dem Fenster zu schauen, das Kissen umzudrehen, auf dem du schläfst, und alles verschwindet wieder. Und der Traum gerät in Vergessenheit und wird sich niemals verwirklichen. So hat es mich die Mama gelehrt, wenn ich etwas Schlechtes träumte. Aber die Arbeitsarmisten erwachten, und alles begann wieder von vorn. Sie arbeiteten mit allerletzter Kraft, kämpften gegen Kälte und Hungerrationen, denn sie mußten sich mit allem selbst versorgen. Der Staat hatte keine Mittel für die Deportierten übrig. Sie lebten unter unmenschlichen Bedingungen. Und mit ihrem Tod waren die Behörden durchaus zufrieden. Auf diese Weise mußten sie weniger Geldmittel für ihren Unterhalt ausgeben. Und es gab auch keine Überbelegung in den Baracken. Ihr Leben unterschied sich in nichts vom Lagerleben ... Und ihr Menschen, ihr Menschen, seid auch nicht besser als Tiere ... Stück für Stück vollzog sich ein Prozeß der Menschen-Erniedrigung, bis er zu einem Tier wurde und jämmerlich dahinstarb. Der Mensch wurde vom Hunger beherrscht. Die Menschen in der Arbeitsarmee starben ganz einfach: eben sprachen sie noch – und verstummten, eben gingen sie noch auf dem Weg entlang – und sanken augenblicklich zu Boden. Ein leichter Tod – sagen sie heute. Ein schrecklicher Tod – sagten sie damals. Und viele solcher Todesfälle geschahen damals bei jedem Schritt. Man nahm den Toten die Kleidung fort und begrub sie in einer Gemeinschaftsgrube. Anonym. Die Verwandten können sie also heute nicht mehr finden, um wenigstens ein paar Blumen hinzubringen und für die sterblichen Überreste ein Gebet zu sprechen. Ist das etwa menschlich? Die Mutter des Großvaters fuhr einmal zu ihrem Ehemann (Großvaters Vater). Aber bald darauf wurden die Regeln verschärft, und von Großvaters Vater kamen keine Briefe mehr. Er starb am 10. Juni 1943. Kurz zuvor war auch schon sein jüngerer Bruder Daniel gestorben. Ja, sie hatten es nicht vermocht, gegen die Schwerstarbeit in der Holzfällerei, den Hunger und die Kälte anzukämpfen ... Dafür blieben sie in der Erinnerung der ihnen Nahestehenden immer als junge Menschen erhalten. Der Großvater konnte sich mit der Nachricht über den Tod seines Vaters nicht abfinden. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß er ihn nun nie mehr hören und sehen sollte. 1943/1944 wollte man die Familie des Großvaters irgendwohin in den Norden schicken. Offenbar hatten die Behörden beschlossen, daß sich nicht sehr weit entfernt Verräter sorgfältig versteckt hielten. EIne Woche lang saßen sie wartend an der Bahnstation; dann brachte man sie wieder zurück, denn die Mutter hatte noch sehr kleine Kinder bei sich.

Das Leben verlief wie eh und je. Die Arbeit in der Kolchose basierte auf Tagesarbeitseinheiten, für die sie ein paar Getreideabfälle bekamen. Sie sammelten Schälabfälle. Sie aßen Türkenbundlilien, Brennesseln. Sie versuchten Kartoffelreste einzupflanzen, woraufhin das Kraut hoch aufschoß, aber es wollten sich keine Kartoffeln zeigen. Die Menschen waren ständig vom Hunger verfolgt. Der Großvater kann sich noch gut daran erinnern, daß er sich oft einen Tisch vorgestellt hat, der voll war mit den allerleckersten Sachen sowie seinen Lieblingsgerichten. Kuchen mit Tannenzapfen, Schweinefleisch mit Kohl, gebratene Ente, Speck, Kuchen mit Früchten. Aber das entstammte alles dem Land der Fantasie. Anschließend kehrte er in die Wiklichkeit des Hungerdaseins zurück.

Und dann warteten sie auch alle noch darauf, wann man sie wohl endlich zurückschicken würde – nach Hause. Sie hatten noch nicht einmal die Sachen ausgepackt, die sie bei ihrer Ankunft bei sich gehabt hatten. Alle hegten die Hoffnung, daß es sich lediglich um einen Irrtum handelte, den man ganz bestimmt korrigieren würde, sobald er sich aufgeklärt hätte. Aber das sollten sie nicht mehr erleben ... Die ortsansässige Bevölkerung verhielt sich ihnen gegenüber unterschiedlich. Manch einer beschimpfte sie als Faschisten. Für gewöhnlich waren das die „Chochly“ (Schimpfwort fürUkrainer; Anm. d. Übers.). Es handelte sich ebenfalls um Ausgesiedelte, nur waren sie schon früher hierher gekommen und hatten sich bereits ganz gut eingelebt. Wer hätte je glauben können, daß jene, die doch die gleichen Schicksalsschläge durchgemacht hatten, sich so ohne jgeliches Mitleid aufführen würden. Aber manche halfen auch, indem sie ihnen hie und da ein paar Kartoffeln oder Mohrrüben abgaben. In der allerersten Zeit, als sie sich noch nicht eingewöhnt hatten, war das Leben für sie sehr schwer. Sie konnten nur schlecht Russisch. Deswegen arbeitete die Großmutter, Großvaters Mutter, zuhause – sie nähte, strickte Socken, Handschuhe und Schals auf Bestellung. Wenn er sich an die schrecklichen, unheilvollen Jahre zurückerinnert, ist der Großvater im nachhinein all jenen dankbar, die ihrem ganzen Kummer und Leid Mitgefühl und Anteilnahme entgegenbrachten, sie in irgendeiner Form unterstützten und ihnen halfen.

Der Großvater war damals dreizehn Jahre alt. Er arbeitete in der Kolchose als Stalljunge, später als Ober-Pferdepfleger. Und nachts kaufte er auf seinen Filzstiefeln herum, um nicht vor lauter Hunger zu sterben. Für diese Arbeit brachte man ihm alles Mögliche – keder, was er gerade konnte – eine Handvoll Korn, ein Stückchen Brot, Getreideabfälle. In die Schule ging er nicht – denn er arbeitete ja.

Er erinnert sich, was er wegen des Vaters durchmachte, bis sie schließlich die Nachricht von seinem Tode erhielten. Wie die Mutter nachts weinte und Gott um Gesundheit und seine Rückkehr nach Hause anflehte. Sie betete zu Gott, daß man sie nur nicht in die Arbeitsarmee holen möge ... Sonst wären wir doch ganz allein zuhause zurückgeblieben. So, wie es in vielen Familien geschehen war ... Und die Kinder blieben zurück, verwahrlosten, wurden obdachlos. Die Kolchosleiter veranlaßten den Bau von Erdhütten oder die Einzäunung für die Vieh-Pferche und sammelten die überlebenden Kinder in sogenannten „Kinderhäusern“, wo es weder Heizmaterial, noch Essen und Kleidung gab. Das Leben war schecklich – von den Feldern hoben sie die herabgefallenen Ähren auf, sammelten Bärenlauch und Sauerampfer oder bettelten um Almosen ... Jeder erhielt pro Woche von der Kolchose zweihundert Gramm Getreideabfälle, damit die „Fritzen möglichst bald krepierten“! Der Hunger war es, der sie schnell lehrte Russisch zu sprechen.

Der Großvater, der jede Nacht das Wehklagen der Mutter mit anhörte, hoffte inständig, daß der Krieg bald zuende gehen und der Vater heimkehren würde. Und daß sie wieder so wie früher leben konnten. Aber während der Vater abwesend war, lag die gesamte Verantwortung für die Familie bei ihm ... Er arbeitete sehr viel, um sie ernähren zu können und der Mutter irgendwie zu helfen.

Ja, das Leben meiner Verwandten während des Krieges und auch danach ähnelte in vielerlei Hinsicht dem der bäuerlichen Bevölkerung zur Zeit der Leibeigenschaft. Damals wurden die Bauern nicht als Menschen angesehen, sondern verkauft, als Tauschobjekte benutzt oder verschenkt. Dabei wurde weder die Existenz von Familien noch irgendwelche verwandtschaftlichen Bindungen berücksichtigt. Auch die Wolgadeutschen zählten nicht als Menschen. Frühere Familien- und Verwandtschafts-Bande wurden endgültig zerrissen, die nationale Umgebung zerstört, Sitten und Gebräuche, Traditionen, Sprache und Kultur des Volkes gerieten nach und nach in Vergessenheit.

Im Juni 1945 brachte die Tante des Großvaters sie nach Chakassien, nach Schira, wohin sie nach der Arbeitsarmee, zusammen mit ihrem Mann, geraten war. Hier gestaltete sich das Leben für sie etwas einfacher. Der Großvater fand eine Arbeit. Dafür erhielt er Brotkarten – 800 Gramm pro Erwachsener und Tag, 400 Gramm für die Kinder. Sie zahlten auch Geld. Nachdem er ein wenig gespart hatte, kaufte der Großvater eine Erdhütte. Sie war 18 Quadratmeter groß und hatte zwei Zimmer. Als ich dem Großvater lauschte, konnte ich mir anfangs nicht vorstellen, wie sie ausgesehen hatte. Es stellte sich heraus, daß es eine Grube in einem Hügel gewesen war. Die Decke war aus Rundhölzern gebaut, die Wände mit Brettern getäfelt. Die beiden kleinen Fenster ließen nur wenig Licht herein. Deswegen lag das Innere der Erdhütte ständig im Halbdunkel. Das gesamte Leben in ihr spielte sich um den Ofen herum ab. Der Ofen wurde sowohl zum Heizen als auch für die Zubereitung des Essens benutzt. Aber das war bereits Großvaters erstes Eigentum in Sibirien gewesen. Sein eigenes Eckchen. Wenngleich es, wer wußte das schon, vielleicht auch nicht sicher war. Auch die Eltern waren behilflich. Gemeinsam gruben sie den Gemüsegarten um, pflanzten Kartoffeln und teilten sich die Lebensmittelvorräte.

Im Moment ihrer Deportation wurden den Deutschen weder ihre rechtliche Lage vor Augen geführt, noch die genauer Dauer ihrer Aussiedlung festgelegt. Das warf eine Menge Probleme bzw. Fragen auf. Erst am 8. Januar 1945 gab der Rat der Volkskommissare der UdSSR den offiziellen Beschluß „Über die Rechtslage der Sonderzwangsumsiedler“ heraus, die bestätigte, daß die Deutschen das Recht besaßen, sich mit der ausdrücklichen Erlaubnis der Kommandantur aus ihrem Wohnbezirk zu entfernen und sich außerhalb von dessen Grenzen aufzuhalten. Eigenmächtiges Sich-Entfernen galt als Fluchtversuch, der eine strafrechtliche

Verfolgung nach sich zog. Die Sondersiedler sollten innerhalb von drei Tagen bei der Kommandantur alle familiären Veränderungen melden – egal, ob ein Kind geboren oder ein Todesfall eingetreten war.

Das Kriegsende brachte keine Freilassung mit sich. Die Fluchtversuche häuften sich. Als Antwort darauf wurde am 26. November 1948 ein geheimer Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Personen bei Flucht aus den ihnen zugewiesenen, ständigen Sonderansiedlungsgebieten, die während des Großen Vaterländischen Krieges ausgewiesen und in entlegene Bezirke der Sowjet-Union verbracht worden sind“ verabschiedet. Wenden wir uns dem Text zu: „ ... mit der Absicht, die Vorgehensweise bei der Ansiedlung der durch die obersten Organe der UdSSR während des Großen Vaterländischen Krieges ausgesiedelten und vertriebenen Tschetschenen, Karatschajewo-Tscherkessen, Inguscheten, Balkarier, Kalmücken, Deutsche, Krim-Tataren und anderer festzulegen, und, aufgrund der Tatsache, daß während der Umsiedlung der oben genannten Personen die Dauer ihrer Aussiedlung nicht definiert worden war, nunmehr anzuordnen, daß die Umsiedlung dieser Personen in entlegene Gebiete der Sowjetunion für immer galt, und zwar ohne das Recht, jemals wieder an ihre vorherigen Wohnorte zurückzukehren. Bei eigenmächtigem Sichentfernen (Flucht) werden die Schuldigen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen“. Die strafrechtliche Maßnahme für diese Art von Verbrechen lautete „bis zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit“.

Die gesamte erwachsene Bevölkerung wurde in die Kommandantur bestellt, wo man ihnen den Befehl vorlas, und die Deutschen setzten ihre Unterschrift unter das ungesetzliche Dokument, dessen Absurdität und Grausamkeit einen auch heute noch zutiefst erschüttert. Der Großvater erinnert sich: „Am meisten empörte ich mich nicht über den Begriff „für immer“, sondern über „bis zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit“. Wofür bekam man eine solche Strafe? Es herrschte doch schon lange kein Krieg mehr, und die Menschen, die für nichts und wieder nichts im Jahre 1941 unglücklich gemacht worden waren, hatten sich Familien, Kinder angeschafft ... Heißt das also, daß man mich jetzt dafür zur Zwangsarbeit schickt, daß ich mit meiner russischen Ehefrau und den Kindern in die Heimat fahren will? Mißmutig und verwirrt kehrte er nach Hause zurück und teilte seiner Familie mit, was er dort auf der Kommandantur unterschrieben hatte. Sie nahmen es mit Fassung auf,: „Schenk dem ganzen doch keine Beachtung. Wir glauben nicht an eine Umsiedlung für immer“.

In den Jahren 1948 und 1949 wurde eine allgemeine Registrierung aller Sonderumsiedler in der Sowjetunion durchgeführt. Sie mußten sich durch ihre Unterschrift verpflichten, ihre Siedlungen nicht eigenmächtig zu verlassen. Fotos, Beschreibung ihrer besonderen Merkmale, Fingerabdrücke, Registrierkarten mit allen persönlichen Daten, Meldepflicht in der Kommandantur zweimal im Monat – so verhielt es sich mit der juristischen Seite. Genauso wie mit strafrechtlichen und politischen Verbrechen. So lebten sie also an dem neuen Ort und gewöhnten sich allmählich an die neuen Bedingungen – vor allem aber an Wetter und Klima. Für den Großvater war es völlig ungewohnt, daß so wenig Schnee lag, und er dachte ziemlich oft an die Heimat. Dort fiel immer eine Menge Schnee, und wenn ein Schneesturm aufkam, dann war bald alles total verweht. Daher öffneten sich die Dielentüren nach innen. Dort stand eine Schaufel. Und wenn man hinaus wollte, dann mußte man immer zuerst den Weg freischippen. Und mit welcher Begeisterung und wieviel Spaß hatten sie im Schnee gespielt! All das war nun Vergangenheit. Und es blieb ihnen keinerlei Hoffnung, jemals wieder zurückkehren zu dürfen.

Der Großvater fand zunächst eine Arbeit als Schlosser, dann als Chauffeur und später als Diesel-Mechaniker beim Getreidespeicher. Bald darauf schickte man ihn zum Lernen nach Tomsk, wo er an Mechaniker-Kursen teilnahm, denn er war zwar ein guter Praktiker, aber das theoretische Wissen reichte bei ihm nicht aus. Nachdem er bereits vier Schuljahre hinter sich hatte, bestand er nun die Lehrgangs-Prüfungen mit Auszeichnung. Danach wollte er den Beruf eines Drehers erlernen wollen. Das wurde er auch – und zudem noch ein ganz erstklassiger.

Zur Weiterbildung gab es keine Möglichkeit. Er gründete eine Familie. Ein russisches Mädchen gefiel ihm auf den ersten Blick, und da die Mutter nichts einzuwenden hatte, heiratete er es. Und bald darauf wurde ihre erste Tochter geboren. Sie mußten aus der Erdhütte ausziehen. Aufgrund seiner guten Arbeitsleistungen bekam er ein Zimmer in einer Baracke; die Erdhütte verkauften sie. Aber auch das Zimmer war zu klein. Und so machte sich der Großvater Gedanken ein Haus zu bauen. Der Traum von einem neuen Haus hatte ihn schon seit seiner Kindheit nicht mehr losgelassen. Dort, an der Wolga, in der Region Saratow, hatte auch sein Vater Vorbereitungen getroffen, ein neues Haus zu errichten. Man suchte bereits Holz zusammen, denn der Wald war schon hoch gewachsen und wartete auf seine Stunde. Aber der Krieg und die Deportation zerstörten alle Pläne im Handumdrehen. Daher wurde nun, nachdem ihnen keinerlei Hoffnung auf eine Rückkehr geblieben war, beschlossen, endgültig in Chakassien Fuß zu fassen.

Seine goldenen Hände ließen den Großvater nicht im Stich. Das Haus wurde hell, freundlich und geräumig. Und im Vergleich zu der Erdhütte kam es ihnnen wie ein echtes Schloß vor. Voller Freude zog die Familie ein. Das Haus war nicht klein. Mit ihnen kamen auch die Mutter, die Schwester und der Bruder, um dort zu wohnen. Die zweite Schwester war bereits kurz nach dem Krieg verstorben. Sie hatte an Epilepsie gelitten. Irgendwie war sie mit der Tante einmal losgegangen, um die nach der Ernte auf dem Acker zurückgebliebenen Kartoffeln auszugraben. Die Tante hatte ihre Tasche geschwind gefüllt und wollte dann nach Hause. Sie hatte Nina gerufen, damit sie mit ihr zusammen gehen sollte, aber die war der Meinung, daß es keinen Wert hatte, mit einer halbvollen Tasche zurückzukehren. Die Familie litt sowieso schon solchen Hunger, und sie sollte der Mutter und dem Bruder helfen. Bald war auch ihre Tasche mit Kartoffeln gefüllt. Der Heimweg verlief durch einen Bach. Viele Male war sie schon hinübergesprungen, aber diesmal erlitt sie auf dem Rückweg einen Anfall. Mit dem Gesicht nach unten fiel sie in den Bach. Die schwere Tasche mit den Kartoffeln, die sie sich um die Schultern gehängt hatte, drückte sie nach unten. Im Wasser liegend versuchte sie noch den Schlamm zu entfernen, aber es gelang ihr nicht, sich davon zu befreien. Sie schluckte Wasser und ertrank. Mit Tränen in den Augen erinnert sich der Großvater und sagt, daß es ihm nicht gelungen war, ihre Fingernägel von dem Schmutz zu befreien, so sehr hätte sie um ihr Leben gekämpft, als sie aus dem Bach herausklettern wollte.

Auch die erste Tochter starb; sie war das älteste Kind der Familie gewesen ... Die Diphterie nahm ihr das Leben. Ein paar Jahre später stirbt auch der Bruder – er ertrinkt. Wieviel seelische und körperliche Kraft muß man besitzen, um all diese Situationen zu meistern und durchzustehen. Erbarmungslos griff das Schicksal nach den Menschen, die einem am liebsten waren und einem nahe standen.

Dessen ungeachtet ging das Leben weiter. Zwei Mädchen wurden geboren, danach Söhne. Der älteste starb. Und so sind mein Vater und ich nun diejenigen, die das Geschlecht und den Familiennamen des Großvaters fortsetzen und weiterleben lassen. „Holzer“ (im Russischen auch in der Schreibweise Golzer oder Golcer; Anm. d. Übers.) weist in der Übersetzung aus der deutschen Mundart, in der die Familie sich damals unterhielt, auf das Wort „Holz“ hin, weil die Hauptbetätigung des Familienüberhauptes irgendwann einmal, in ferner Vergangenheit, mit der Bearbeitung von Holz zu tun hatte. Er war ein bemerkenswerter Tischler und Zimmermann. Viele solide Produkte von guter Qualität entstanden durch seinen gekonnten Umgang mit der Axt. Sie waren sein ganzer Stolz und so etwas wie seine Visitenkarte.

Die deportierten Deutschen fanden sich mit ihrem Schicksal ab. Es gab keine öffentlichen Massenproteste oder Auftritte gegen die Regierung. Die überwiegende Mehrheit der Männer und Frauen waren auf einem riesigen Territorium des Landes auseinandergeworfen worden, und das Verbot, sich an den vorherigen Wohnort zu begeben, blieb bestehen.

Die ganze Absurdität der Beibehaltung der Sonderzwangsansiedlung wurde besonders nach dem Tode Stalins deutlich. Es gingen immer mehr Gesuche zur Abschaffung des Regimes aus ökonomischen Gründen ein. In dem am 13. Dezember 1954 verabschiedeten Ukas spricht das Präsidium des Obersten Sowjet „von der Abschaffung der den in der Zwangsansiedlung befindlichen Deutschen und ihren Familienmitgliedern auferlegten rechtlichen Beschränkungen“. Aber im folgenden wird darauf hingewiesen, daß die „Aufhebung der Beschränkungen gegenüber den deutschen Sonderansiedlern nicht die Rückgabe des Besitzes beinhaltet, der bei der Aussiedlung von ihnen konfisziert wurde, und daß sie nicht das Recht hätten, an die Orte, aus denen sie zwangsausgesiedelt worden waren, zurückzukehren“. Die Kommandantur existierte bis zum Jahr 1956. In demselben Jahr erhielt der Vater einen Paß, der seine Identität bestätigte und anfangs bur für ein halbes Jahr (provisorisch) gültig war; danach erhielt er einen Langzeit-Paß. Endlich war er zu einem gleichberechtigten Staatsbürger geworden. Fast dreißig Jahre lang hatte er auf diesen Augenblick gewartet.

1964, am 28. August, wurden durch einenUkas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR die nicht stichhaltigen Anklagen bezüglich einer angeblichen Komplicenschaft zwischen den deutschen, faschistischen Eindringlingen und der deutschen Bevölkerung, die in den Wolgagebieten gelebt hatte, sowie die 1941 völlig grundlos erhobenen Beschuldigungen für ungültig erklärt. Wie mochten sich die Menschen fühlen, die im Volksstaate nichts wert waren? Durch die Staatsmacht in die Enge getrieben, grundlos und vollkommen unschuldig. Aber sie fanden in sich die Kraft, trotzdem an den Staat zu glauben. Sie schrieben, stellten Gesuche, entsandten Delegierte nach Moskau mit der Bitte, die Republik der Wolga-Deutschen wiederzuerrichten. Aber all ihre Bemühungen führten zu nichts. Die Bitte wurde ihnen verweigert. Viele fuhren trotzdem in die Heimat, um sich dort niederzulassen, wo sie geboren und aufgewachsen waren. Aber in die elterlichen Häuser ließ man sie nicht wieder zurück; dort wohnten inzwischen fremde Leute. Und so mußten sie zurück nach Sibirien. Und wer noch genügend Kraft besaß, der fing noch einmal ganz von vorn an – nur, daß er sich diesmal schon unter lauter Fremden befand. Das war eine sehr bittere und kränkende Erfahrung. Das Elternhaus wiedersehen, aber nicht darin wohnen dürfen, seinen Stuhl wiederzuerkennen, aber nicht darauf sitzen dürfen ...

Großmutter die Mutter meines Großvaters, wollte auch gern zurückkehren. Alle versuchten, den Großvater zur Abfahrt zu überreden. Aber als andauernd Vertriebener wollte der Großvater das Haus nicht im Stich lassen, an dem er alles mit eigenen Händen gefertigt, jeden einzelnen Balken, jeden Holzklotz selbst verlegt, jeden Nagel selbst eingeschlagen und das Haus mit Schnitzwerk verziert hatte. Einen großen Teil seines bewußten Lebens verbrachte er unter Russen. Er gewöhnte sich an sie. Er selber bemerkte das gar nicht, wurde jedoch nach und nach zu einem russifizierten Deutschen. Auch seine russische Ehefrau wollte nicht von dort wegfahren. Deswegen hatte er, als im Jahre 1972 der Ukas verabschiedet wurde, mit dem das Verbot der Rückfahrt an den früheren Wohnort aufgehoben wurde, bereits keine Kraft mehr, sich darüber zu freuen. Ja, der Ukas gab die Möglichkeit an den Geburtsort zurückzukehren ... Aber nun war es zu spät, der richtige Zeitpunkt war verpaßt ... In unserem Lande ist es den Deutschen nicht beschieden sich wieder miteinander zu vereinigen. Und so ist es wohl auch dazu gekommen, daß viele beschlossen, das Land, in dem sie geboren wurden und aufgewachsen sind, zu verlassen – in dem Bemühen, in ihrer historischen Heimat ein etwas glücklicheres Schicksal zu suchen. Dies wird auch von der deutschen Regierung begünstigt, die für ein entsprechendes Programm eine riesige Gelsumme zur Verfügung stellt. Nach Deutschland floß ein nicht enden wollender Strom von Emigranten. Auch jetzt hört er noch nicht auf. In dieser Emigration spiegel sich viele Momente wider – Kränkung und Schmerz wegen der Deportation, das Nichtbegreifen seiner angeblichen Schuld gegenüber der Staatsmacht, der Widerwille der Machtorgane, das Nationalgefühl der deutschen Bevölkerung zu akzeptieren, das Bestreben seine Kinder und Enkel vor Elend und Unglück zu schützen, von seiner eigenen Zukunft überzeugt zu sein, im Lande gemeinsam mit seinem Volk zu leben.

Obwohl sich ihr Leben in Deutschland auf unterschiedlichste Weise gestaltet. Auch dort lebt jeder so, wie das Glück es ihm beschert. Und nur einzelne kehren zurück.

Aber wenn sie dann ein-zwei Jahre in Rußland gelebt haben, gehen sie doch wieder nach Deutschland zurück. So verhält es sich auch in unserer Siedlung. In der historischen Heimat lebt man freundschaftlich miteinander. Man hilft sich gegenseitig. Man überredet die Verwandten, Rußland zu verlassen. Und Freunde werden zu Besuch eingeladen. Auch die jüngste Schwester des Großvaters ist mit ihrer gesamten Familie, Kindern und Enkeln, abgereist. Sie leben nun schon neun Jahre in Deutschland. Mein Großvater war im vergangenen Jahr bei ihnen zu Besuch. Alles hat ihm dort gut gefallen. Aber leben möchte er dort lieber nicht. Viel zu viel verbindet ihn hier inzwischen schon mit Rußland. Kinder, Enkel, Urenkel, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen ... Sprache, Gewohnheiten, Lebensweise. Die Angst vor der Zukunft, wenn er doch fährt ... Wo man wieder ganz von vorn anfangen muß. Er ist ja auch nicht mehr so jung. Alles Unglück hat er durchgestanden. Dafür hatten seine Willens- und Seelenkraft ausgereicht. „Und dort in Deutschland schätzen sie die Rußland-Deutschen nicht besonders; sie beschimpfen sie als Ruskis und Schweine, - erzählt der Großvater, - also werde ich hier in Rußland sterben“. Man wählt sich seine Heimat tatsächlich nicht aus, genauso wie man sich nicht seine Eltern, seinen Nachnamen, seine Nationalität aussucht. Der Großvater schämt sich seiner Vergangenheit nicht. Er hat seinem Volk, seinem Land nichts Schlechtes angetan. Von seiner ganzen großen Familie ist er als einziger in Rußland geblieben, ein echter, reinblütiger Deutscher.

Die Geschichte wiederholt sich. Und die handelnden Hauptpersonen darin sind nach wie vor die Deutschen geblieben, denn sie versuchen schließlich bereits seit drei Jahrhunderten in ihrem Leben Ruhe und Wohlergehen zu finden. Nachdem sie von einem Land ins andere, und dann wieder zurück, gezogen sind.

Ob das vielleicht eine Gesetzmäßigkeit ist?

Karte der Republik der Wolgadeutschen (500K)

 

Literaturangaben:

1. Die Deportation der Völker der UdSSR, Teil 2. Die Deportation der Deutschen (September 1941 – Februar 1942). 1995, Seiten 72-73.

2. A.A. German. Die Deutschen in der Arbeitsarmee (1941-1945). 1998, Seite 30.

3. N.F. Bugaj. „Josef Stalin – an Laurentij Berija: Man muß sie deportieren ...“. Dokumente, Fakten, Kommentare. 1992, Seite 75.

4. Aleksander Wilhelmowitsch Holzers Erinnerungen.

5. W.A. Aumann, W.G. Tschebotarewa. Die Geschichte der Rußland-Deutschen in Dokumenten, Seiten 172-173.

6. Staatsarchiv der Republik Chakassien. Bestand 105, Verz. 8, Akten-Nr. 471, A 56-67.

7. GULAG. Hauptverwaltung der Lager. 1918-1960, unter der Redaktion des Akademikers A.N. Jakowlew, Verfasser A.I. Kokourin, N.W. Petrow, 2000, aus der Serie Rußland im 20. Jahrhundert. Dokumente.


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