13., jährlich stattfindender, allrussischer Wettbewerb historischer Forschungsarbeiten von Schülern der höheren Klassenstufen „Der Mensch in der Geschichte. Russland – 20. Jahrhundert“.
Thema: Die Unseren – die Fremden: andere Nationalität, andere Religion, andere Überzeugungen
Ilona Alkesejewna Samojlowa, 8. Klasse
Julia Kolesnikowa, 8. Klasse
Städtische etatmäßige allgemeinbildende Einrichtung für die zusätzliche
Ausbildung von Kindern
Scharypowsker Bezirkskinder- und Jugendzentrum N° 35
Leitung: Walentina Jegorowna Bjeloschapkina,
Städtische Bildungseinrichtung, Beresowsker Oberschule N° 1,
Lehrerin für russische Sprache und Literatur
2011
Ziel der Arbeit: die Erforschung des tragischen Schicksals der Wolga-Deutschen anhand der Einzelschicksale von Menschen, die in der Ortschaft Beresowskoje, Bezirk Scharypowo, Region Krasnojarsk gelebt haben.
Forschungsmethoden: Chronologie-, Interview- und Statistik-Methode
Hauptergebnisse der wissenschaftlichen Forschungsarbeit:
Einführung
Aktualität des Themas
1. Historische Erkundigung
1.1 Die Deutschen in Russland im 17. – 20. Jahrhundert
1.2 Die Republik der Wolga-Deutschen vor dem Krieg
2. Der Große Vaterländische Krieg und die Repressionen gegen die
Russland-Deutschen
2.1 Die Deportation der Wolga-Deutschen nach dem Ukas des Jahres 1941
2.2 Die Trudarmee
2.3 Die Amnestie von 1955
2.4 Teilweise Rehabilitation 1964
3. Menschen und Schicksale. Das Leben der Deutschen in Beresowskoje in den
Kriegs- und
Nachkriegsjahren
3.1 Alt-Warenburg
3.2 Der 20. September 1941, Zugtransport N° 832
Schlussbemerkung
Literatur
Anhang
1. Aktualität des Themas. Am 22. Juni 2011 jährt sich zum 70. Male jener tragische Tag, an dem das faschistische Deutschland in die Sowjetunion einmarschierte. Der Preis, der für den Sieg gezahlt werden musste, war viel zu hoch. Allein in unserem Land starben in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges 50 Millionen Menschen. In dieser Ziffer sind noch nicht die Leben derer berücksichtigt, die in den Schreckensjahren 1937-38 und während des Krieges repressiert wurden, Menschen, die zu den „Unseren“ zählten, aber unter den herrschenden besonderen Umständen zu „Fremden, Anderen“ wurden. Ganze Völker wurden bestraft, weil sie keine Russen waren. Gemeint sind Tschetschenen, Inguschen, Karatschewo-Tscherkessen, Krim-Tataren und auch die Wolga-Deutschen…. Die Geschichte unserer Region und unseres Bezirks ist eng mit dem Schicksal von Menschen verbunden, die aus unterschiedlichen Gründen verfolgt wurden, darunter auch mit dem Schicksal der Deutschen, die während des Großen Vaterländischen Krieges nicht nur aus dem Wolga-Gebiet, sondern auch aus anderen Gegenden verschleppt wurden. Vor der Umsiedlung lebten in der Region bis zu 4000 Deutsche, danach 75000. So wurde unsere Ortschaft Beresowskoje im Jahre 1941 für viele Wolga-Deutsche zum neuen Wohnort.
2. Gegenstand der Forschung: während des Krieges repatriierte Wolga-Deutsche.
3. Ziel: die Erforschung des tragischen Schicksals der Wolga-Deutschen anhand der Einzelschicksale von Menschen, die in der Ortschaft Beresowskoje, Bezirk Scharypowo, Region Krasnojarsk gelebt haben.
4. Zur Realisierung des vorgegebenen Ziels müssen notwendigerweise folgende Aufgaben gelöst werden: . Sammeln der Erinnerungen von heute in Beresowskoje lebenden Wolga-Deutschen über Ereignisse, welche sie in der Kriegs- und Nachkriegszeit erlebten, und darüber, was sie heute für Erfahrungen machen, nachdem ihr Alltag und die Beziehungen zu den alteingesessenen Einwohnern sich eingespielt haben;
5. Im Verlauf der Forschungsarbeit wurden folgende Methoden angewendet:
Die deutsche Diaspora von der Wolga, die zu den Gruppen von Russland-Deutschen gehört, die sich am frühesten in den inneren Landesteilen formierte, entstand nach der Herausgabe des sogenannten Kolonisationsmanifests 1762-63 durch die Imperatorin Katharina II (Anhang N° 1), mit dem Ausländer eingeladen wurden in Russland ansässig zu werden. Ausländischen Siedlern wurde eine Reihe von Privilegien und Vergünstigungen bei ihrer Unterbringung innerhalb des russischen Imperiums bewilligt. Als Folge einer solchen Politik wurden in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts an der Unteren Wolga mehr als hundert deutsche Kolonien gegründet. Die deutsche Diaspora stellte eine der größten ethnischen Gemeinden im unteren Wolgagebiet dar und zudem eine der zahlreichsten russland-deutschen Gruppen. Nachfolgend die wichtigsten Daten und Ereignisse im Leben der Wolga-Deutschen:
1764 – die ersten deutschen Kolonisten trafen aufgrund des Einladungsmanifests Katharinas II in Russland ein und ließen sich bei Saratow nieder.
1918 – wurde per Dekret des Rates der Volkskommissare vom 19. Oktober die Arbeitskommune (ab 1924 die Autonome Republik) der Wolga-Deutschen gegründet (Anhang 1).
1941 – Am 28. August wurden die Wolga-Deutschen zu Spionen und Saboteuren erklärt und anschließend nach Sibirien und Kasachstan ausgesiedelt. Schwarzmeer-, Kaukasus- und andere Deutsche wurden in dem Ukas nicht erwähnt, aber sie mussten später ebenfalls dorthin folgen. Erwachsene beiderlei Geschlechts im Alter von 15 bis 60 Jahren wurden in die Trudarmee (Arbeitsarmee) mobilisiert – sie kamen in die Holzfällerei, zu Großbauprojekten und in Schachtanlagen. 1948 wurde bekanntgegeben, dass die Aussiedlung für immer galt.
1964 – Der Ukas vom 29. August machte die Anschuldigungen wegen Spionage ungültig, verbot aber nach wie vor eine Rückkehr in die Vorkriegsheimat.
1965 – im Juli empfing der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR eine Delegation von Deutschen: Rehabilitation du Autonomie wurden ihnen verweigert.
1989 – im März wurde von Sowjet-deutschen die Gesellschaft „Wiedergeburt“ gegründet. Ihr Ziel: die Republik an der Wolga wiederherzustellen. Heute verfolgt die Gesellschaft andere Ziele und spielt eine andere Rolle. In Krasnojarsk wird die Organisation für geschichtliche Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge "Memorial" gegründet (näheres s. Anhang N° 2).
Am 22. Juli 1763 gibt Katharina II das „Manifest über die Ausländern zu gewährenden Vorteile und Privilegien“ bekannt (Anhang N° 1); damals wird die „Vormundschaftskanzlei der Ausländer“ geschaffen, an deren Spitze der Liebling der Imperatorin, Graf Grigorij Orlow, stand. Es entstand ein Grund- und Boden-Register der zur Besiedlung erwünschten Gegenden. Auf diesen Arealen sollten neue Siedlungen errichtet werden, die man später als Kolonien bezeichnete. Ziel all dieser Maßnahmen war keineswegs die Sorge der gekrönten deutschen um ihre deutschen Mitbürger, sondern vielmehr die Festigung der Grenzen des riesigen russischen Staates. Katharina wusste, dass die zugewiesenen Ländereien häufigen Überfällen und Verwüstungen durch Nomadenvölker ausgesetzt waren.
Gegen Mitte des 18. Jahrhunderts nahm Russland seine endgültige Form als Vielvölkerstaat an, der eine ganz bestimmte nationale Politik verfolgte. Deutlich sichtbar sind ihre Folgen am Beispiel der russlanddeutschen Kolonisten, deren Massen-Umsiedlung nach Russland sich auch im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch fortsetzte. Gerade während der Herrschaft Katharinas II., Pauls I. und Alexanders I. lebten die Russlanddeutschen relativ gut, denn man führte ihnen gegenüber eine offene, protektionistische Politik durch, die sich in der Bewilligung verschiedener Steuervorteile äußerte. Die Ereignisse des 20. Jahrhunderts gingen an der deutschen Bevölkerung Russlands nicht vorüber. Zuerst schuf die Regierung P.A. Stolypins die Gesellschaft zur Beschränkung der Rechte ausländischer Bürger, darunter auch der deutschen Kolonisten im Hinblick auf den Landbesitz in den drei Gouvernements der West-Regionen (Kiew, Wolhynien, Podolien). Allerdings rief das 1910 in die Staatsduma eingebrachte Gesetzesprojekt bei der Duma-Mehrheit Unwillen hervor, und die Regierung war daher im Mai 1911 gezwungen, sie in die Rubrik „zur weiteren Bearbeitung“ aufzunehmen. Bereits 1912 wurde das Projekt mit einigen Korrekturen erneut in die Duma eingebracht und dieses Mal auch verabschiedet. Mit diesem Gesetz wurde den deutschen Kolonisten, die nach 1888 die russische Staatsbürgerschaft angenommen hatten, das Recht auf den Erwerb von Landeigentum beschnitten.
Das Leben in dem nationalen, homogenen Dorf sowie der religiöse Unterschied gaben den Deutschen die Möglichkeit, in einer engen Welt zu existieren, in der man sich vor äußeren Einflüssen isolieren und autonom leben konnte, indem man jegliche Einmischung der Behörden in ihr Leben mied. Aktiver Widerstand gegenüber den Behörden war den Russland-Deutschen auch keineswegs zu eigen; davon zeugt ihre Passivität während der Russifizierung oder die geringe Beteiligung an den Revolutionsereignissen der Jahre 1905 und 1917. Gemeinsam mit anderen Völkern der Sowjetunion erlebten die Deutschen den Kriegskommunismus, Getriedeablieferungspflicht und Hunger, Kollektivierung und Entkulakisierung, das System der Kolchos-Leibeigenschaft in den 1930er Jahren und die dadurch hervorgerufene neuerliche Hungersnot, den „großen Terror“, die Erschwernisse des Lebens aufgrund des Kriegszustands sowie das Elend nach dem Kriege.
In den ersten Jahrzehnten der Sowjetmacht wurde die Wiederbelebung der nationalen Identität der Russland-Deutschen begrüßt, was 1918 zur Bildung einer der ersten national-territorialen Autonomien auf dem Territorium Sowjet-Russlands führte – der Arbeitskommune des Autonomen Gebiets der Wolga-Deutschen, die 1922 zur Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Republik der Wolga-Deutschen umformiert wurde und deren Hauptstadt die Stadt Pokrowsk (später Engels) war. Aufgrund der sich zuspitzenden Beziehungen zwischen der UdSSR und Deutschland, änderte sich auch das Verhalten gegenüber den Deutschen in der UdSSR: Ende der 1930er Jahre wurden innerhalb der Grenzen der ASSR der Wolgadeutschen alle national-territorialen Gebilde geschlossen – die deutschen, nationalen Dorfräte und Bezirke, und der Unterricht an den deutschsprachigen Schulen wurde fortan in russischer Sprache abgehalten. Mit Beginn des Großen Vaterländischen Krieges begann die Deportation der Russland-Deutschen in entlegene Regionen des Landes (Kasachstan, Usbekistan, Sibirien), mit Liquidierung der deutschen Schulen und technischen Fachschulen, Bibliotheken, Verlage u.a. Nach der Verabschiedung des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Rayons lebenden Deutschen“ wurde die ASSR der Wolga-Deutschen liquidiert und ihr Territorium in die Gebiete Saratow und Stalingrad (später Wolgograd) eingegliedert. Die deutsche Bevölkerung der liquidierten ASSR der Wolga-Deutschen wurde vollständig nach Sibirien und Kasachstan umgesiedelt. Nach den Wolga-Deutschen war auch die verbleibende deutsche Bevölkerung in den noch nicht besetzten Territorien des europäischen Teils der UdSSR der Massendeportation ausgesetzt. In der Geschichte des russland-deutschen Volkes wurde der Tag des 28. Augusts für immer zu einem tragischen Datum der Erinnerung und Trauer. Die überwiegende Mehrheit der Russland-Deutschen kam nach 1763 aus Deutschland und anderen Nachbarstaaten nach Russland, wo sich zu der Zeit bereits in vollem Umfang eine westeuropäische Zivilisation mit Werten, wie der Absolutisierung persönlichen Eigentums, Individualismus, Rationalismus, protestantische Ethik, die hochgerühmte weltliche berufliche Arbeit als gottgefälliges Tun (die überwiegende Mehrheit der Umsiedler waren, wie bekannt, Protestanten).
Die Umsiedler verfügten über eine ganze Reihe eigentümlicher nationaler Merkmale: ausgeprägte Religiosität, strenge Beachtung der christlichen Gebote, Organisiertheit, Diszipliniertheit, außerordentlicher Fleiß, Ordnungsliebe, ein gut entwickeltes Gefühl des Hausherrn gegenüber Eigentum, respektvolles Verhalten gegenüber dem Besitz seines Nächsten u.a. Die Russen nahmen die Lebensart der Deutschen unterschiedlich auf. Manche mit Achtung und Entzücken, andere mit Feindseligkeit und Hass.
Die Russland-Deutschen konnten sich kraft objektiver und subjektiver Gründe im Verlauf vieler Jahrzehnte ihre nationale Identität, Traditionen sowie Sitten und Gebräuche aus der alten Heimat bewahren. Gerade die Treue zu diesen Traditionen und nicht die Empfänglichkeit für die neue Idee einer nationalen Autonomie war es, welche die Führer der Russland-Deutschen dazu veranlasste, sofort nach der Revolution im Jahre 1917 die Autonomie zu erlangen. Aber sie hatten unrealistische Vorstellungen darüber, welchen Charakter diese Autonomie besitzen sollte. Wenn die Vormundschaftsverwaltung vor der Revolution die Deutschen vor der Einmischung in ihr Leben durch die russischen Behörden geschützt hatte, so sollten nach der Revolution die autonomen Organe und Institute diese Funktion ausüben. So kann man den Aufruf der deutschen Deputierten des Nowousensker Semstwo (Selbstverwaltungskorporationen in den Landkreisen; Anm. d. Übers.) im Januar 1918 als Versuch ansehen, die wolgadeutschen Kolonien von der allgemeinen politischen Linie abzutrennen. Die Deputierten hatten schon lange davon geschrieben, dass es an der Zeit wäre, die ökonomisch-kulturellen Probleme der Deutschen auf einen neuen, unabhängigen Weg zu bringen.
In Wirklichkeit wollten die Bolschewiken keine freie und uneingeschränkte Entwicklung der Nation. Die Sowjetmacht konnte die Autonomie deswegen nicht zulassen, weil die Macht im Inneren dann bei der nationalen deutschen Bourgeoisie gelegen hätte. Stalin meinte, dass sie für eine Autonomie wären, „in der die Bourgeoisie-Angehörigen aller Nationalitäten nicht nur aus den Behörden entfernt, sondern auch von der Teilnahme an den Wahlen der Regierungsorgane ausgeschlossen würden“. Gleichzeitig wollten sich die Bolschewiken die Unterstützung der nicht russichen Völker sichern und dadurch die Entfaltung des Revolutionsprozesses erleichtern. Mit solchen Widersprüchen wurde dann also auch 1918 das autonome Wolga-Gebiet gegründet. Sämtliche Aktivitäten, die mit seiner Schaffung in Zusammenhang standen, wurden vom Wolga-Kommissariat für deutsche Angelegenheiten realisiert. Ihm wurde direkt die Anweisung erteilt, zum „ideologischen Zentrum sozialistischer Arbeit unter der deutschen werktätigen Bevölkerung zu werden“, die „Volks-selbstverwaltung auf sozialistischen Grundlagen“ zu garantieren. Die Bolschewiken sahen die nationale Idee, die Ergebenheit gegenüber nationalen Interessen als wichtigstes Hindernis auf dem Weg zur Erreichung ihrer Ziele an. Sie wollten eine weltweite klassenlose Gesellschaft ohne Staat und nationale Unterschiede schaffen. Deswegen gehörte die Richtlinie für ein allmähliches Verschwinden der nationalen Grundlage zu einem der wesentlichsten Elemente im Programm des bolschewistischen Regimes.
Die Autonomie sowjetischen Typs sollte über politische Souveränität verfügen. Aber am Beispiel der Geschichte der SSR der Wolgadeutschen und der deutschen nationalen Bezirke kann man sehr gut sehen, dass es in der Autonomie sowjetischen Typs eine solche Souveränität nicht gab, alle ihre verkündeten national-staatlichen Rechte waren in Wirklichkeit blanke Lügen. Es genügt zu sagen, dass im Jahre 1937 gemäß der Verfassung der UdSSR die Deutsche Wolgarepublik sich dem höchsten Organ der Staatsmacht der RSFSR unterwerfen sollte, faktisch jedoch dem Regionskomitee der WKP (B) des ihm benachbarten Gebietes Saratow unterstand.
Die deutschen nationalen Bezirke wurden in den 1930er Jahren als Ergebnis der grausamen Kampagne „im Kampf gegen den Nationalismus“ liquidiert. Es wurde eine ganz gezielte Sprachenpolitik durchgeführt. Nun konnten die Russland-Deutschen ihre Kinder nicht mehr in ihrer Muttersprache unterrichten durften. Globale soziale Experimente, die in großem Maßstab durchgeführten Repressionsmaßnahmen und Gewaltanwendungen, die Allmacht der WKP (B) stellten alle Völkerschaften und Nationen, Unions- und autonome Republiken, Regionen und Gebiete, alle einfachen Bürger in ihrer nationalen und menschlichen Rechtlosigkeit in der Sowjetunion auf dasselbe Niveau. In dieser Hinsicht stellten die Sowjet-Deutschen und ihre national-territoriale Formierung nie eine Ausnahme von den allgemein geltenden Regeln dar. 1941 wurde die Autonome Republik der Wolga-Deutschen liquidiert, die bis zum heutigen Tage nicht die Möglichkeit hatten sie wiederherzustellen. Das war einer der traurigsten Fakten in ihrem Leben.
„Alle Deutschen in unseren Rüstungs-, Teilrüstungs- und Chemiefabriken, in Kraftwerken und auf Baustellen in allen Gebieten sind zu verhaften!“
Mit dieser Notiz Stalins, die dem Protokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der WKP (B) vom 20. Juli 1937 (N° P51/324) beigefügt ist, beginnt eigentlich auch die „deutsche Operation“ des NKWD.
In der Original-Handschrift verblüfft einen die deutlich überspannte Aggressivität des Stils: auf dem winzigen Notizblatt, auf dem die schwungvolle Schrift des Führers kaum Platz hat, findet sich elfmal der Groß-Buchstabe X – als auffallend schief durchgestrichenes Kreuz. Bezeichnend ist auch, dass Stalin dreimal die Form „alle“ verwendet (einmal davon unterstrichen). Dr Kontext der Notiz bekommt einen ganz offenen, bösartigen Sinn. Die uns heute bekannten Resultate der „deutschen“ und anderer nationalen Operationen des NKWD erfüllen voll und ganz diese Erwartung. Der operative Befehl N° 00439 „über die Verhaftung aller Deutschen, die in Rüstungsbetrieben tätig sind sowie die Ausweisung eines Teils der Verhafteten ins Ausland“ wurde durch Jeschow am 25. Juli 1937 umgesetzt, und noch am selben Tag wurden Telegramme an alle NKWD-Behörden geschickt.
Alle deutschen Staatsbürger, die in der UdSSR leben, die in der
Rüstungsindustrie und bei der Eisenbahn arbeiten (oder früher gearbeitet haben),
wurden der Sabotage und Schädlingstätigkeit zum Nutzen des deutschen
Generalstabs und der Gestapo beschuldigt.
Um diese „Tätigkeiten vollständig zu unterbinden“, befahl der Volkskommissar sie
alle zu verhaften. Für die Festnahmen wurde ein Zeitraum von fünf Tagen zur
Verfügung gestellt, beginnend mit dem 29. Juli. Nach einem „besonders
sorgfältigen“ Ermittlungsverfahren sollten die Strafakten zur Überprüfung an das
Militärkollegium des Obersten Gerichts oder eine Sondersitzung des NKWD
geschickt werden.
In dem Augenblick, als der Befehl N° 00439 in Erscheinung trat, hatte sich bei Stalin der allgemeine Plan für die bevorstehenden Säuberungen bereits ganz konkret und vollständig festgesetzt. Eine der wichtigsten Stellen darin nahmen zwei Massen-Operationen ein, welche gemäß der Stalin-Jechowschen Argumentation, die potentielle „fünfte Kolonne“ an der Schwelle des Krieges vernichten sollten.
Aufgabe der zweiten Operation, die gegliedert war in eine Operation nach separaten nationalen „Linien“, bedeutete gleichzeitig auch die Liquidierung in der UdSSR von „Spionage- und Sabotage-Stützpunkten“ der „kapitalistischen Länder“, welche die UdSSR umzingelten, sowie Gegenstand der Repressionen – ausländische Kolonien und andere Gemeinden, die direkt oder indirekt mit dem Ausland in Verbindung standen.
Die Operation begann in der Nacht auf den 30. Juli 1937. Ein Woche später, am 6. August, waren insgesamt in der UdSSR 340 Personen deutscher Staatsangehörigkeit (Anhang N° 3, Tab. 1) verhaftet. Eine Notiz Jeschows fixiert die Vollendung den gerade erst begonnenen stürmischen Zeitraum der Verhaftungen. Ihre Intensität ging schon in den nächsten Wochen merklich zurück. In zahlreichen Bezirken erwiesen sich offensichtlich die Ressourcen des Befehls N° 00439 bereits als erschöpft. Aber trotzdem wurde die Operation noch nicht abgeschlossen, obwohl sie lediglich für einen Zeitraum von fünf Tagen vorgesehen war.
Die deutsche Massen-Operation war in erster Linie Sowjetbürgern und im Besonderen den Volksdeutschen gewidmet. Auch wenn ein Sonderbefehl im Hinblick auf die deutsche „Linie“ von Jeschow so nie herausgegeben wurde, waren doch Inhalt und Sinn der Operation all seinen Untergebenen verständlich.
Nächste Etappe der Tragödie der Wolga-Deutschen besteht in der Ausführung der Anweisung zur Durchführung der Umsiedlung der Deutschen im August 1941, in der genau festgelegt ist, wer wann wohin umgesiedelt werden soll. Von der Umsiedlung betroffen sind alle Bewohner deutscher Nationalität, die in Städten und ländlichen Gegenden der ASSR der Wolga-Deutschen sowie in den Gebieten Saratow und Stalingrad leben. Mitglieder der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) und des Allrussischen Leninistisch-Kommunistischen Jugendverbandes werden zur gleichen Zeit wie alle anderen umgesiedelt.
Deutsche, die in den angegebenen Gebieten wohnen, werden auf das Territorium der Kasachischen SSR, der Region Krasnojarsk des Altai-Gebiets sowie der Gegenden um Omsk und Nowosibirsk ausgesiedelt. Familienmitglieder von Angehörigen der Roten Armee und Personal in leitenden Funktionen sind nach den allgemeinen Grundlagen umzusiedeln. Ihnen sollen an den neuen Siedlungsorten Vergünstigungen eingeräumt werden, die ihnen das Zurechtfinden in wirtschaftlichen Dingen und im Alltag erleichtern sollen …
Die Durchführung der Operation sieht vor:
1. Den Umzusiedelnden wird erlaubt, alltägliche Gebrauchsgegenstände, kleineres Haushaltsinventar und Geld (in unbegrenzter Höhe sowie Wertgegenstände) mitzunehmen. Das Gesamtgewicht aller Gegenstände, Kleidung sowie Inventar darf eine Tonne pro Familie nicht übersteigen. Sperrige Objekte dürfen nicht mitgenommen werden.
2. Den Umzusiedelnden wird ein gewisser Zeitraum zum Sammeln und Packen ihres Besitzes zugestanden.
Stadtbewohnern ist es gestattet, zurückbleibende persönliche Sachen vertrauenswürdigen Personen zu überlassen, welche sie binnen einer Frist von 1o Tagen veräußern und dem Besitzer das dafür erhaltene Geld an den neuen Wohnort nachzuschicken.
3. Die Umzusiedelnden sind vorab darauf hinzuweisen, dass sie einen Vorrat an Lebensmitteln für umgerechnet nicht weniger als einen Monat mitnehmen.
Für die Umsiedlung der Wolga-Deutschen waren die Bezirke in den Gebieten Nowosibirsk und Omsk, dem Altai-Gebiet und der Region Krasnojarsk, der Kasachischen und Kirgisischen SSR vorgesehen. Dabei wurde die Region Krasnojarsk von Berija höchstpersönlich zugewiesen.
Am 14. September 1941 trafen die ersten beiden Züge mit deutscher Bevölkerung in der Region Krasnojarsk ein. 2270 Personen aus dem ersten Zug wurden in Bolschaja Murta abgesetzt, 2336 aus dem zweiten Zug in den Bezirken Beresowskoje (heute Scharypowo) und Ust-Abakan.
Am 17. September 1941 kam der dritte Zug an der Bahnstation Atschinsk mit 2318 Personen an. 2000 von ihnen wurden in Lastkähnen auf dem Fluss Tschulym weiter nach Biriljussy geschickt.
Insgesamt gelangten allein aus dem Wolgagebiet werden der Anfangsphase des Krieges 67264 Personen in die Region Krasnojarsk. 1941-42 wurden im Osten des Landes 1.209.430 Deutsche mit 344 Zügen abgeliefert (Anhang N° 3, Tab. 2).
Die Lage der deutschen Bevölkerung in der Trudarmee war schwierig; lediglich die Hälfte von ihnen besaß ein kleines, angrenzendes Stück Land. Auf den Ortsansässigen lag eine doppelte Last im Hinblick auf die Sicherstellung und Versorgung mit Lebensmitteln, daher kamen bei ihnen Unmut und Widersprüchlichkeiten in ihren Beziehungen zu den Neuankömmlingen auf. Aber trotz all dieser widrigen Umstände benahmen sie sich gegenüber den Wolga-Deutschen recht geduldig, denn sie begriffen, dass diese unschuldig waren.
„Trudarmee“ bedeutet in der wörtlichen Übersetzung „Arbeitsarmee“.
In Wirklichkeit handelte es sich dabei um Zwangsarbeiterlager, die von hohen Stacheldrahtzäunen und bewaffneten wachen umgeben waren. Die Bedingungen, unter denen die Trudarmisten hier leben und arbeiten sollten, standen an Grausamkeit nicht hinter dem Lebensalltag in den Verbrecherkolonien zurück. Auf dem Weg zur Arbeit wurden sie von einem Soldaten-Konvoi begleitet, der den Befehl erhalten hatte, beim geringsten Verdacht sofort zu schießen. Im Lager selbst herrschte die uneingeschränkte Willkür der Lagerleitung. Das Wort „Fritz“ in der Bedeutung „Feind“ oder „Faschist“ gehört zum täglichen Gebrauch, und zwar nicht nur bei den ungebildeten Untergebenen, sondern auch beim leitenden Personal an den Arbeitsplätzen. Aufgrund des Elends, all der Demütigungen und der Enge in den Lagern starb eine riesige Anzahl Trudarmisten vor Hunger, Verzweiflung, Kälte und der alle Kräfte übersteigenden harten Arbeit. Die Trudarmee-Lager wurden erst Jahre nach dem Kriegsende abgeschafft.
Es gelang jenem Teil der Deutschen dieses tragische Schicksal für eine gewisse Zeit zu umgehen, der sich unter den Bedingungen des schnellen Vormarsches der deutschen Truppen unter deutscher und rumänischer Okkupation befand. In den Jahren 1943-44 wurden 350.000 Deutsche aus dem Schwarzmeergebiet, aus den zwischen Dnjepr und Dnjestr gelegenen Gebieten in die Bezirke am Warthe-Fluss umgesiedelt und von dort teilweise nach Deutschland. Fast alle von ihnen nahmen freiwillige die deutsche Staatsbürgerschaft an.
Mit dem Einmarsch der Roten Armee nach Deutschland wurden 250.000 Russland-Deutsche aus dem Warthe-Gau in die UdSSR deportiert, wo sie wegen „Verrats an der sozialistischen Heimat“ zu lebenslänglicher Verbannung und Zwangsarbeit verurteilt wurden. Mit ihnen als „Vaterlandsverräter“ gingen sie noch viel roher um, als mit den Deutschen, die 1941 deportiert worden waren. Für sie wurde ebenfalls die Sonderkommandantur eingeführt, wo sie sich als Verbannte regelmäßig melden und registrieren lassen mussten. Die Kommandanten machten sich Gesetzte zunutze, die denen der Gutsbesitzer während der Leibeigenschaft ähnelten. Für das Aufsuchen des Nachbarortes ohne Genehmigung des Kommandanten bekam man zehn Tage Arrest. Eine Fahrt über die Gebietsgrenzen hinaus, wurde mit Gefängnisstrafen bis zu 20 Jahren geahndet.
Frauen im Hohen Norden beim Bäumefällen in der Taiga, Frauen, die in den Schachtanlagen des Ural und bei der Kohleförderung hinter dem Polarkreis arbeiteten, klägliche Brotrationen von 300 Gramm pro Tag, vor Hunger sterbende Kinder, eisiger Frost, Hunger, Elend, das absolute Fehlen jeglicher Hoffnung auf Erlösung und der Tod als ersehnter Retter – all das war, in Kurzform ausgedrückt, das Schicksal der Russland-Deutschen nach dem II. Weltkrieg. Unter derartigen Bedingungen kam ein bedeutender Teil dieser Generation von Deutschen in Russland (etwa 300.000) ums Leben.
B 1945 wurde die Existenz der Deutschen in der Sowjetunion totgeschwiegen. Über sie wurde weder in Zeitungen, noch in Zeitschriften oder Büchern geschrieben, man sprach auch bei Reden und in Radiosendungen kein Wort über sie. Es gab keinerlei Briefwechsel mit den Verwandten im Westen. Erst nach dem Besuch von Bundeskanzler Konrad Adenauer im September 1955 und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Moskau und Bonn wurde der Ukas des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13.12.1955 „Über die Abschaffung der Einschränkungen in der Rechtslage der Deutschen und ihrer in Sonderansiedlung befindlichen Familienmitglieder, verabschiedet. Bald darauf wurde die abscheuliche Kommandantur abgeschafft, aber das Verbot in die alte Heimat zurückzukehren blieb auch weiterhin in Kraft. Vor allem wurden die nationalen Rechte der Deutschen in der UdSSR nicht wiederhergestellt. Sie sollten mit ihrer Unterschrift das Versprechen geben, nicht wieder in ihre ursprüngliche Heimat zurückzukehren und nicht vorhätten, irgendwelche Forderungen wegen des seinerzeit konfiszierten Besitzes zu stellen. 200.000 Deutsche wandten sich mit Bittschriften an die deutsche Botschaft in Moskau, aber sie erhielten keine Erlaubnis zur Ausreise. Trotz allem erleichterte die Amnestie das Schicksal der Deutschen in der Sowjetunion. Viele zog es in den Süden, in wärmere Regionen, 10-15 Jahre nach der Trennung begann nun die Suche nach Verwandten und Bekannten in der Sowjetunion, aber auch über das Rote Kreuz in Deutschland. Nach und nach wurden deutsche Zeitungen herausgebracht (1955 im Altai-Gebiet, 1957 „Neues Leben“ in Moskau), es gab Radiosendungen (Moskau – 1956, Kasachstan – 1957, Kirgisien -1962). 1957 wurde der Ukas über das Lehren der deutschen Sprache als Muttersprache veröffentlicht (allerdings nur für Kasachstan, in den anderen Republiken lebten mehr als 1 Million Deutsche). 1957 wurde von Pastor Bachmann in Zelinograd eine Lutheraner-Gemeinde registriert. Lutheraner und Mennoniten stellten die ersten Kontakte mit den Glaubensbrüdern im Westen her, aber auch Katholiken begannen sich zusammenzuschließen. Nach der Volkszählung von 1959 zählte man in der UdSSR 1.615.000 Deutsche, aber ihre Verteilung in den einzelnen Republiken wurde nicht preisgegeben. Später wurde bekannt, dass 1959 in der RSFSR 820.000, in Kasachstan 648.000, in Kirgisien, Tadschikistan und Usbekistan 91.000 Deutsche lebten.
Die 1960er Jahre brachen herein und mit ihnen das sogenannte „Tauwetter“, das vielen Menschen in der UdSSR die Hoffnung einflößte – eine Hoffnung, die sich, wie sich später erweisen sollte, als unbegründet erwies. Auch für die Deutschen wehte, wie es damals schien, ein frischer Wind: am 29.08.1964 (fast auf den Tag genau 23 Jahre später!) fasste das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Beschluss „Über die Abschaffung des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „über die Umsiedlung der Wolga-Deutschen“. Dieser Entscheid nahm den schmachvollen Fleck des Vaterlandsverrats von den Russland-Deutschen: „ Das Leben hat gezeigt, dass die unterschiedslos alle betreffenden Anschuldigungen unbegründet und eine Erscheinungsform des Despotismus unter den Bedingungen des Stalinschen Personenkults waren“. Allerdings blieb diese Rehabilitation eine rein formelle Angelegenheit. Als auf dem 20.Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im Jahre 1956 die zugelassenen Fehler in Bezug auf einige kleine Völker korrigiert wurden, umging man die Russland-Deutschen mit Schweigen, ihr Freispruch stand lediglich auf dem Papier. Das Wenige, das im Ukas von 1964 versprochen wurde, erfüllte sich vor Ort entweder mit Verzögerungen, war unvollständig oder wurde überhaupt nicht umgesetzt. Die Forderung der Deutschen nach einer Wiederherstellung ihrer autonomen Republik wurde als Nationalismus interpretiert. Die politische Rehabilitation der Wolga-Deutschen (und damit praktisch aller Deutschen in der Sowjetunion) war möglicherweise von Chruschtschow geplant, und zwar als Geste des Entgegenkommens gegenüber der Bundesrepublik Deutschland. Sie wurde in der UdSSR erst nach seiner Amtsenthebung (im Januar 1965) veröffentlicht. Die Russland-Deutschen erfuhren von ihrer Rehabilitation aus der Zeitung „Neues Deutschland“ (Ost-Berlin) und erhoben Protest, weil der Ukas nicht in der sowjetischen Presse publiziert worden war.
Wie verlief die betreffende Operation in Wirklichkeit? Was musste das unschuldige deutsche Volk alles durchmachen? Wie war es den Menschen möglich, sich an ihrem neuen Wohnort zurechtzufinden? Auf diese Fragen können nur Augenzeigen der Ereignisse eine Antwort geben: Menschen, die alle Qualen der Hölle mitgemacht haben. In der Ortschaft Beresowskoje, im Bezirk Scharypowo, wo wir leben, wohnten in den 1960er Jahren ungefähr 200 Deutsche, mehr als 40 Familien (Anhang N° 4, Tab. 3). Ein Großteil der deutschen Bevölkerung wurde 1941 aus der Ortschaft Alt-Warenburg, Bezirk Kukkus, Gebiet Saratow, verschleppt. Die ältere Generation hat die Tragödie jener schrecklichen Jahre miterlebt. Sie teilten mit uns ihre Erinnerungen. Anhand eines speziell vorbereiteten Fragenkatalogs führten wir mit ihnen Interviews durch. Vom Schicksal einiger von ihnen möchten wir in unserer Arbeit berichten.
Drückend heiße, stickige Steppe… Die Sonne versengt unbarmherzig die Erde. Von der Anhöhe aus eröffnet sich ein malerisches Bild, würdig für den Pinsel eines Künstlers – das Dorf Priwolnoje (früher Priwalnoje) (Anhang N°5). In der Bezeichnung fühlt man eine gewisse Freiheit und Weite. Die Steppe, die Felder und das breite blaue Band der Wolga. Auf dem Weg ins Dorf, entlang der Straße, wachsen hohe, jahrhundertealte Bäume. Wer mag sie dort gepflanzt haben und für wen? Nur wenn man sich mit der Geschichte des Dorfes vertraut gemacht hat, kann man auf einige der Fragen Antworten finden (Anhang N° 6).
Die Geschichte des Dorfes reicht in die ferne Vergangenheit zurück… Während der Herrschaft Katharinas II wurden die Steppen-Bezirke des Wolga-Gebiets von Deutschen besiedelt. Die Ortschaft Alt-Warenburg wurde 1767 von 149 Familien gegründet – Zugereisten aus Darmstadt, Brandenburg, Preußen, Württemberg und Holstein. Ursprünglich handelte es sich um eine Kolonie, und sie erhielt ihren Namen vom deutschen Wort „Ware“: hier wurde ein Vorratslager für die an die der Schiffsverkehr auf der Wolga und dem Elton-Trakt (Verbindung zum Elton-See; Anm. d. Übers.)
Nach Informationen des Statistischen Gouvernementskomitees in Samara gab es im Jahre 1910 im Großdorf Priwolnoje 784 Höfe; von den Einwohnern waren 4167 Personen Männer, 4173 Frauen, insgesamt also 8340 Seelen beiderlei Geschlechts – deutsche Lutheraner, Siedler und Eigentümer. Die Größe des zugeteilten, zur Bewirtschaftung geeigneten Bodens war mit 21200 Desjatinen angegeben, ungeeignete Schollen – mit 2207 Desjatinen. Die Kolonie verfügte über eine lutherische Kirche, eine ministerielle Fachschule mit zwei Klassen, zwei kirchliche Gemeindeschulen, eine Post- und Telegrafenabteilung, zwei Jahrmärkte, Samstags Basare, eine Dampfer- und Getreideanlegestelle, eine Ziegelei, eine Wasser-, elf Wind- sowie zwei Dampfmühlen, einen Leiter des Semstwo (lokales Selbstverwaltungsorgan; Anm. d. Übers.), einen Arzt, eine Amtsbezirksregierung, einen Wachtmeister der Landpolizei, einen Agronomen, eine Semstwo-Bahnstation, zwei Ölmühlen, eine Behörde für militärische Reiterei und eine Fährverbindung über die Wolga.
Das Dorf war trocken und sauber, dank eines speziellen Systems von Kanälen, welche die Straßen kreuzten und zur Wolga hinabführten. Darüber hatte man originelle Brücken geschlagen, um deren Unterhalt sich die gesamte Bevölkerung kümmerte. In der Mitte des Dorfes befand sich ein Jahrmarktsplatz, der mit einem Teppich bedeckt war und auf dem eine Tribüne stand. Das Betreten dieses Platzes an gewöhnlichen Tagen war streng verboten. Die Leute blieben auf den kleinen Straßen, ohne eine Abkürzung zu nehmen.
Die lutherische Kirche in der Kolonie Warenburg wurde 1905-1907 von Baumeistern errichtet, die aus Lettland und Deutschland geholt worden waren. Die Kirche sah ursprünglich vollkommen weiß aus (Anhang N° 7). An den Seiten war sie von großen, weißen Säulen geschmückt. In dem hohen Turm hingen Glocken. Man konnte von drei Seiten aus in die Kirche gelangen, nur nicht aus südlicher Richtung, - das war die Seite, an der sich der Altar befand. Über dem Altar stand in goldenen Buchstaben: „Ehre sei Gott in der Höhe“. Vor dem Altar standen niedrige Bänke. Altar und Bänke waren mit weichem, rotem Stoff überzogen. Die Bänke vor dem Altar gehörten den älteren Leuten. Dahinter standen ebenfalls Bänke,; sie waren für Familien bestimmt. In den Rückenlehnen der Bänke befanden sich spezielle Ablagen für die Gebetsbücher. Junge Leute bekamen ihren eigenen Platz zugewiesen. Die Mädchenempore war etwas höher gelegen, als der Haupteingang. Noch weiter oben war die großartige Orgel installiert, die von ihrem Aussehen her an ein altes Schloss erinnerte. Die Balkone für die jungen Leute schmückten den oberen Teil der Seitenwände. Die Wände selbst waren zur Hälfte in einem hellblauen Farbton gestrichen. Darüber, einschließlich der Kuppel, strahlten sie in zartem Weiß. Von der Kuppel hingen drei wunderschöne Kristalllüster herab. Geheizt wurde der Kirchenraum mit drei gusseisernen Holländeröfen. Auf einer der Wände war Jesus in hellblauen Gewändern dargestellt, die wundervoll mit dem Blumenmuster an den Wänden harmonisierten. Die ganze Kirche war innen in weißen und hellblauen Tönen gestrichen. Um die Kirche herum war ein riesiger Kirchenpark angelegt worden, der mit einer Ziegelmauer umgeben war. Gegenüber der Kirche gab es sogenannte „Steinerne Tore“ – Eisentore, die in steinerne Säulen eingelassen waren.
Nach der Schließung der Kirche im Jahre 1932 wurde darin der Klub organisiert. Die goldenen Buchstaben wurden durch die Aufschrift „Die Bühne ist der Spiegel des Lebens“ ersetzt, die gusseisernen Hollandöfen wurden zerschlagen und nach und nach fortgeschleppt. Bis 1939 diente die ehemalige Kirche als Vergnügungsstätte. Ab 1939 wurde das Gebäude vernachlässigt. 1943 wurde in der Ortschaft Priwolnoje ein Gefängnis eingerichtet und in demselben Jahr unter der Kuppel der ehemaligen Kirche eine Maschinen- und Traktoren-Station eröffnet, in der Häftlinge ihre Arbeit verrichteten. Ein Großteil des Dorfes war mit Stacheldraht eingezäunt. Unnatürlich erschienen einem vor dem Hintergrund der friedlichen Dorflandschaft die Türme mit den bewaffneten Wachen und die Gefangenen mit ihren Handfesseln. Dieser Alptraum dauerte bis zum Jahr 1953. Nach Stalins Tod kehrte in dieser Gegend endlich wieder Ruhe ein.
Unweit der Kirche steht ein eingeschossiges Gebäude, das unwillkürlich die Blicke auf sich zieht und in dem die Schule untergebracht ist (Anhang N° 8). Die Ortsansässigen nennen sie die „Millersche („Müllersche“?) Schule“. Und dies ist die Geschichte des Gebäudes und der Schule. Bei der Gründung der Kolonie Warenburg, ließ sich hier ein Kolonist aus Hessen, Heinrich Miller (Müller?) nieder und legte hier den Grundstein für das bekannte Geschlecht der Millers. Mit der Zeit wurden die Millers im Wolgagebiet bei Samara zu bekannten Getreidehändlern und schufen sogar das Handelshaus „A.K. Miller & Brüder“.
Nach der Gründung der Arbeitskommune (im Autonomen Gebiet) der Wolga-Deutschen wurde die Ortschaft Warenburg zum administrativen Zentrum des Warenburger Dorfrats im Kanton Seelmann. Ab dem 1. Januar 1935 und vor der Liquidierung der ASSR der Wolga-Deutschen im Jahre 1941 gehörte Warenburg zum Kanton Kukkus der ASSR der Wolga-Deutschen.
Die Schicksale, von denen wir in unserer Arbeit erzählen wollen, kann man mit einerm einzigen Namen benennen – Zug N° 832 … (Anhang N° 9).
Das Schicksal der Wolga-Deutschen ist tragisch, angefüllt mit großem Schmerz und vielen Entbehrungen. Das Rad der Repressionen verschonte auch kleine Kinder nicht. Sie mussten genau wie die Erwachsenen die Erschwernisse einer langen Umsiedlung, ein Dasein der Ausgestoßenen am neuen Wohnort, Hunger und Kälte am eigenen Leib erfahren. Wir möchten vom Schicksal unseres Landsmannes Friedrich Friedrichowitsch Andrias und seiner Familie berichten (Anhang N° 20. Viele Jahre hat er unserer Region gegeben, stets fleißig und gewissenhaft gearbeitet.
Friedrich Friedrichowitsch Andrias (Fjodor Fjodorowitsch) wurde am 5. Oktober 1924 im Gebiet Saratow, in der Ortschaft Alt-Warenburg, geboren (Anhang N° 11, A). Er erinnert sich an die heimatliche Wolga-Region mit ihren blühenden Gärten, dem fruchtbaren Ackerland, den schönen, bewässerten Wiesen. Die fleißigen, akkuraten Deutschen führten ihre Hofwirtschaft, was es ihnen ermöglicht, in nicht gerade ärmlichen Verhältnissen zu leben, sondern vielmehr ein recht gutes Auskommen zu haben. Die Familie Andrias bestand aus 9 Personen, den Eltern und 7 Kindern (Anhang N° 11, B). Bis heute erinnert Friedrich Friedrichowitsch sich an die deutsche Sprache. Am 1. September wurde die Familie Andrias aus dem Gebiet Saratow ausgesiedelt. Zum Packen der Sachen gab man den Leuten 24 Stunden Zeit. Auf Befehl der Behörden, wegen des Verdachts der Unzuverlässigkeit, wurden viele wolgadeutsche Familien weit nach Sibirien verschleppt. Unter dieses grausame Rad der Repressionen geriet auch die Famile Andrias. Friedrich Friedrichowitsch war damals etwa 17 Jahre alt. Nach der Schule lernte er an der Betriebsfachschule. Als der Befehl zur Aussiedlung kam, beschlossen Friedrich und sein Freund zu fliehen. Sie nahmen Kleidung und Essen mit. Sie hatten einen langen Weg vor sich – zu Fuß mussten sie etwa 75 km weit gehen. Aber alles war vergeblich; die Flüchtlinge wurden aufgegriffen, zurückgebracht und zusammen mit all den anderen nach Sibirien geschickt.
Im Oktober 1941 trafen die Umsiedler mit dem Zug in der Region Krasnojarsk, an der Bahnstation Krasnaja Sopka ein, anschließend wurde die Familie Andrias ins Dorf Karbalyk Beresowsker Bezirk, geschickt, das nun zu ihrer neuen Heimat werden sollte. Es ist so weit entfernt von der geliebten Saratower Erde. Aus Friedrich Friedrichowitschs Erinnerungen: „Von der Aussiedlung erfuhr die Familie rechtzeitig. Mutter buk für alle Weißbrot, damit es für die erste Zeit reichte“. 1942 holten sie Friedrich in die Trudarmee, und er kam zur Holzfällerei im Gebiet Kirow. Alles ging sehr streng zu. Morgens und abends gingen sie unter Wachbegleitung. Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts – und du wirst erschossen. Diejenigen, die ihre Arbeit gut machten, bekamen zur Belohnung Tabak. Friedrich Friedrichowitsch war einer von ihnen, aber er rauchte nicht. Seinen Tabak tauschte er gegen 200 Gramm Brot ein. So gelang es ihm zu überleben. Sie wohnten in Unterkünften, die sie sich selber gebaut hatten. 1946 kam er in die Region Perm. Dort arbeitete er in der Flößerei. Dort heiratete er auch. Sie lebten in Molotowsk. Nach der Rehabilitation fuhr er mit seiner Familie in die Ortschaft Beresowskoje. Dort erhielt er eine Wohnung und Arbeit. Bis 1984 war er an der Maschinen- und Traktoren-Station tätig, dann wechselte er zur reparatur-technischen Station.
Friedrichs Bruder Leo wurde am 9. März 1937 geboren. 1941 war er vier Jahre alt. Aber er kann sich daran erinnern, wie sie von Krasnaja Sopka ins Dorf Beresowskoje mit Pferden gebracht wurden. Aus seinen Erinnerungen: „ Wir wurden sofort in einem Pferdestall untergebracht. Den Vater, Friedrich Danilowitsch, sowie Friedrichs älteren Bruder holten sie unverzüglich in die Trudarmee. Die restliche Familie wurde nach Karbalyk transportiert. Mutter Anna Friedrichowna fand eine Arbeit als Melkerin. Es gab weder Kleidung noch Schuhwerk. Vom zeitigen Frühjahr bis in den Spätherbst hinein aßen sie Gräser und alle möglichen Pflanzenwurzeln, im Winter schlugen sie sich mit Betteln durch. Um überhaupt eine Überlebenschance zu haben, gingen sie schon früh arbeiten. 1955 kehrte der älteste Bruder aus der Trudarmee zurück, 1956 schließlich der Vater. Jeden Monat, bis 1956, mussten sie sich jeden Monat einmal in der Kommandantur melden. Aber der Vater lebt nicht lange; bald darauf starb er. Danach holte Friedrichs Bruder, der in Beresowskoje wohnte, die Mutter mit den Kindern zu sich“. Im Alter von 11 Jahren kam Leo Friedrichowitsch in die Schule. 1958 wurde er in die Armee einberufen. Später heiratete er arbeitete bei der Handelsvereinigung, in der Sowchose in der kommunalen Verwaltung für Wohnungswirtschaft. Heute wohnt er in Beresowskoje (Anhang N° 11).
Andrej Andrejewitsch Gebel wurde am 22. Februar 1930 in der Ortschaft Warenburg geboren. Seine Ehefrau Emma Fjodorowna kam am 17. Juli 1929 ebenfalls in der Gegend zur Welt (Anhang N° 12).
Den August 1941 werden sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen. Damals hatten sie alle ans Ufer der Wolga getrieben, wo sie mehrere Tage auf einen Lastkahn warten mussten. Und dann wurden sie wie Tiere in Viehwaggons nach Sibirien gebracht. Am 5. Oktober trafen sie an der Station Krasnaja Sopka ein. Anschließend schickte man sie in die Ortschaft Beresowskoje zur ersten Abteilung. Dort wurden die Deutschen vom Vorsitzenden Fjodor Andrejew in Empfang genommen, alle bekamen zu essen und wurden dann auf die Häuser verteilt. Der Oktober 1941 war ein warmer Monat, und die Kinder liefen durch die Gemüsegärten, sammelten hier eine Mohrrübe, dort ein paar Kartoffeln – und davon ernährten sie sich.
Alle Erwachsen wurden in die Trudarmee geholt, während die Kinder mit ihren Großeltern zurückblieben. Die Ortsansässigen halfen ihnen zu überleben: manch einer gab ihnen ein Kleidungsstück, andere legten etwas Essbares bereit. Aber manchmal wurden die Untermieter auch fortgejagt und als „Faschisten“ beschimpft. Die Deutschen waren gezwungen, sich in die Kommandantur zu begeben, damit man sie an einen anderen Ort umsiedelte. Im Frühling, als es Zeit für die Aussaat in den Gemüsegärten war, half ihnen erneut die ortsansässige Bevölkerung aus – sie stellte ihnen Saatgut zur Verfügung. Um zu überleben, gingen auch Kinder in der Kolchose „Roter Sonnenstrahl“ arbeiten.
Bis 1956 meldeten sie sich jeden Monat einmal in der Kommandantur, um sich dort registrieren zu lassen, und man durfte diese Frist nicht um einen einzigen Tag überschreiten. Andrej Andrejewitsch arbeitete als Traktorist, Schweißer, ungelernter Arbeiter. Emma Andrejewna – als Technikerin, Traktoristin, Melkerin (Anhang N° 12).
… Ach, heimatliche Wolga, goldene Felder, grenzenlosen Steppen, von der Sonne liebkoste Erde …“. Wie kann man denn diese fruchtbaren, sonnenbeschienenen Gärten der Wolga-Region vergessen? In diesen märchenhaften Gefilden, mit ihren Gärten und Feldern, wurde am 23. November 1920 Emilia Alexandrowna Stumpf in der deutschen Ortschaft Alt-Warenburg geboren (Anhang N° 13). Die Kinder- und Jugendjahre hängen mit diesem Dorf zusammen. Nach der Schule kam Emilia Alexandrowna zur Lehrerinnen-Ausbildung in die Stadt Engels. Anschließend begab sie sich auf ihren Lehramtsposten an der Bahnstation Nachoja, wo sie dann auch von dem Stalinschen Ukas vom 28. August 1941 überrumpelt wurde. An der Bahnstation gab es einen Flugplatz, auf dem der ältere Bruder arbeitete. Nachdem sie von ihm erfahren hat, dass am frühen Morgen ein Fahrzeug in die Bezirksstadt fahren wird, verbringt sie die Nacht auf dem Flugplatz. Sie fuhr also mit dem Auto mit und ging die restlichen 25 km bis nach Hause teilweise zu Fuß, einen Teil der Strecke wurde sie von einem Fuhrwerk mitgenommen. Sie wollte so gern mit ihrer Familie zusammen sein. Alle w7urden versammelt, nachdem man ihnen befohlen hatte, nur das mitzunehmen, was jeder für sich tragen konnte. Sie sagten, dass in Sibirien schon alles für sie vorbereitet wäre. Zuerst wurden sie mit Lastkähnen auf der Wolga befördert, anschließend fuhren sie in Güterwaggons quer durch das ganze Land bis nach Sibirien. Ausnahmslos alle wurden abtransportiert: von den Neugeborenen bis zu den Steinalten. Niemand hat diejenigen gezählt, die das Endziel der Fahrt überhaupt nicht mehr erreichten. Die Toten wurden an den Bahnstationen aus den Waggons geholt, und die Züge fuhren weiter …
In Sibirien trafen sie am 07. Oktober ein; an der Bahnstation Krasnaja Sopka wurden sie abgeladen, von dort ging es mit Schlitten ins Dorf Skripachi. Dort blieben sie nicht lange. Die Kinder blieben bei den alten Leuten, während die gesamte erwachsene Bevölkerung 8in die Arbeitsarmee geholt wurde, denn für den Dienst an der Front wurden Deutsche nicht angenommen.
Aus den Erinnerungen: „Zusammen mit meiner Schwester und Schwiegertochter geriet ich nach Schischinbai; in der Trudarmee war ich bis 1947. Wir schleppten Ziegelsteine, fällten Bäume, banden Flöße zusammen … wir hatten Hunger; bekleidet waren wir mit Lumpen, und die Obrigkeit demütigte uns, wo sie nur konnte – wir wurden immer nur Faschisten“ genannt. Viele kamen dort auch ums Leben, aber ich habe überlebt …
Im November 1947 kehrte ich zu den Eltern zurück, zu der Zeit lebten sie in Pjatiletka. Dort hatte ich keine Arbeit, und den Verwandten zur Last fallen – das wollte ich nicht; deswegen beschloss ich nach Berjosowskoje zu fahren.
Unbedingt einmal im Monat musste man sich in der Kommandantur, die sich in Berjosowskoje befand, melden und registrieren lassen. Dort wurde ich gewarnt, dass sie mich in ein Lager schicken würden, wenn ich keine Arbeit fände. Ich fragte bei allen Organisationen nach, aber man nahm mich einfach für keine Arbeit an. Im Krankenhaus bot mir Oberärztin Schuman einen Arbeitsplatz in ihrer Familie an; ich war einverstanden. Ich erledigte alle Haus- und Gartenarbeiten und kümmerte mich um die Kinder, aber dafür hatte ich ein Dach über dem Kopf und bekam zu essen.
Als Schuman Abberufen wurde und wegfuhr, hinterließ sie mir das ganze Gemüse im Garten und auch einige Lebensmittel. Bevor sie endgültig abfährt, schreibt sie noch eine Anweisung, dass man mich als Sanitäterin im Krankenhaus annehmen soll. Aber ich wusste nicht, wo ich wohnen sollte. Ich versuchte Tag und Nacht zu arbeiten, damit ich wenigstens irgendwo im Krankenhaus zum Schlafen bleiben konnte. Das erfuhr Der Chefarzt des Krankenhauses Bolotow und half mir daraufhin eine Wohnung zu finden. So arbeitete ich, eigentlich von der Ausbildung her Pädagogin und Deutsche, was die Nationalität betrifft, mein ganzes Leben lang als Sanitäterin. Ich heiratete, zog Kinder groß, später Enkel und hoffe, dass mir noch ein paar weitere Lebensjahre vergönnt sein mögen (Anhang N° 13).
Der Name Stumpf ist in unserem Dorf weitverbreitet, deswegen lebten in den Nachkriegsjahren mehrere Familien in Berjosowskoje, die diesen Nachnamen trugen. Über die Tragödie der Familie von Anna-Katharina Filippowna erfuhren wir von ihrer Enkelin Olga Andrejewna Samsonowa (Stumpf) (Anhang N° 14, A). Sie wurde bereits zu Friedenszeiten, 1952, geboren, aber Stalins Ukas vom 28. August 1941 hatte Auswirkungen auf ihre Familie (Anhang N° 14, C).
Anna-Katharina Filippowna (Simon) wurde am 22. April 1896 in der Ortschaft Alt-Warenburg geboren. Die Familie lebte im Wohlstand; sie unterhielt eine große Hilfswirtschaft und hatten deswegen Landarbeiter bei sich eingestellt. Der Kreisausbruch ereilte die Familie Stumpf wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel. Sie empfanden es alle als schändlich und schmerzlich, aber niemand hätte erwartet, dass man sie als potentielle Helfershelfer der Faschisten nach Sibirien schicken würde. Heinrich Stumpf war bereits Ende der 1930er Jahre festgenommen worden, Anna-Katharina Filippowna sah ihren Mann nie wieder, aber seine Briefe aus Magadan hat sie immer in der obersten Kommodenschublade aufgehoben…
… 20 September 1941, Zug-Nr. 832 … Sie durften nur das Allernötigste mitnehmen. Häuser, Vieh, Gärten, Landbesitz – alles blieb herrenlos zurück. Aus Anna-Katharina Filippownas Erinnerungen: „Das Vieh wurde in die Gärten getrieben, die Kühe waren nicht gemolken und brüllten … Die Menschen wurden auf Lastkähne verladen und schwammen dann auf der Wolga bis nach Saratow. Dort verfrachtete man sie in Güterwaggons, in denen sie 14 Tage lang unterwegs waren. Es herrschten schreckliche Bedingungen: es war eng, die Menschen hatten furchtbare Angst, es war entsetzlich stickig, die Kinder verlangten nach Wasser. An den Bahnstationen ließ man die Lok auf ein Abstellgleis fahren, um die Militärzüge vorbei zu lassen; dann durften die Kinder ein wenig nach draußen gehen und kaltes Wasser trinken, und niemand schöpfte Verdacht, dass sie schon bald darauf an Typhus und Scharlach erkranken würden. Sie waren lange unterwegs. Mitunter hielt der Zug auf freiem Feld und alle begriffen – hier werden jetzt die Toten bestattet. Die Männer hüllten sich in finsteres Schweigen, die Frauen schluchzten leise vor sich hin, selbst die Kinder verstanden, dass sie jetzt nicht laut sprechen durften, um die Seelen der Verstorbenen nicht in ihrer Ruhe zu stören. Im Oktober trafen sie an der Station Krasnaja Sopka ein. Auf dem Weg nach Sibirien holten sie Sohn Heinrich und Tochter Luise in die Trudarmee. Zusammen mit Anna-Katharina Filippowna kam auch Schwiegertochter Anna Jakowlewna und Enkelin Berta nach Berjosowskoje (Anhang N° 14, D). In Sibirien gab man ihr einen neuen russischen Namen – Vera – (Anhang N° 14, F). Untergebracht wurden sie ganz am Ende des Dorfes, in der Sowjetskaja-Straße, in einer baufälligen Hütte. Anna-Katharina arbeitete aufgrund ihres Alters nicht. Schwiegertochter Anna war die Ernährerin der Familie. Sie mussten sehr viel arbeiten, und erledigten alle Aufgaben die anfielen, damit sie nur eine Chance zum Überleben hatten. Die Frauen wurden häufig mit dem Schimpfnamen „Faschistin“ gekränkt, und mitunter warf man auch mit Steinen und Stöcken nach ihnen. Als Erinnerung an das frühere Leben blieb eine Schwarz-Weiß-Fotografie mit der schmerzlichen Abbildung des heimatlichen Warenburg (Anhang N° 15).
1950 kehrte Heinrich Heinrichowitsch aus der Trudarmee zurück (Anhang N° 14, E). In Sibirien gab man den Deutschen russische Vornamen; so wurde er Andrej Andrejewitsch. Er fand Arbeit bei einer Zeitungsredaktion (Anhang N° 14, G). Im Winter 1952 stirbt Berta an einer Erkältung. Und ein Jahr darauf stirbt Heinrich Heinrichowitsch. Anna-Katrharina Filippowna lebte für den Rest ihres Lebens mit Schwiegertochter Anna und Enkelin Olga zusammen. Vom Schicksal nicht verwöhnt, lebten sie bescheiden von der armseligen Rente und dem kümmerlichen Lohn. Anna-K. Filippowna starb am 17. September 1976 in der Ortschaft Berjosowskoje. Am 10. Oktober 2005 wurde die Familie Stumpf rehabilitiert (Anhang N° 16).
Alle Deutschen, die unter die Mahlsteine des Ukas von 1941 gerieten, hatten ein schweres, verwickeltes Schicksal zu ertragen. Die Heimat, genauer gesagt, die Staatsregierenden sind mit ihnen und ihren Angehörigen grausam und ungerecht umgegangen, aber sie haben standgehalten, ihren Platz auf dem neuen Boden, unter neuen Bedingungen gefunden. Und was ganz wichtig ist – sie haben keinerlei Wut gezeigt, den Glauben an das Gute und an die Gerechtigkeit nicht verloren. Für viele von ihnen wurden die Orte, an die sie ausgesiedelt wurden, zu ihren heimatlichen Gefilden, die sie lieben; und sie können sich ihr Leben und Schicksal nicht ohne jene vorstellen, die sich u sie herum befinden, die auch auf diesem Boden leben.
Und jetzt, nach Ablauf so vieler Jahre, können die Menschen die Politik der Sowjetmacht von neuem bewerten. Aber zu der damaligen Zeit verstand die Mehrheit der Bürger der UdSSR den Ukas vom 28. August 1941 als ein gebührendes Muss. Und man kann sie verstehen: im Lande hatte der Krieg begonnen, Mütter schicken ihre Söhne an die Front, überall herrschen Hunger und Angst um das eigene Leben und das der Verwandten. Und da verkündet plötzlich Genosse Stalin, dass es in den Wolga-Rayons tausende und abertausende Saboteure und Spione unter der deutschen Bevölkerung gibt, und dass sie in ihrer Mitte Feinde des sowjetischen Volkes und der Sowjetmacht verstecken. Die Folgen der Repressionen sind niederdrückend. Die vollständige Repression all derer, die unter den Verfolgungen zu leiden hatten, zog sich bis in unsere Tage hin. Einige ausgesiedelte Völker, denn nicht nur die Wolga-Deutschen waren von der Vertreibung betroffen, können auch jetzt noch nicht in ihre historische Heimat, in ihre früheren Wohnorte, zurückkehren. Und die Schicksale einzelner Menschen treiben einem die Tränen in die Augen. Sie mussten eine Menge durchmachen: Hunger, Elend, Angst, Demütigungen – und alles nur, weil sie Deutsche waren. In uns rufen diese Menschen nicht nur ein Gefühl des Mitleids hervor, sondern auch eine gewisse Bewunderung. Ihr stoischer Charakter versetzt uns in Erstaunen. Sie vermochten es, alle Herausforderungen, die ihnen das Schicksal auferlegte, mit Würde durchzustehen.
Leider erweist sich die Zeit als unerbittlich, und viele weilen heute schon nicht mehr unter den Lebenden. Zahlreiche deutsche Familien haben Berjosowskoje verlassen. Für uns war es interessant, uns mit Vertretern der Deutschen in Verbindung zu setzen, welche die Tragödie ihres Volkes mitgemacht haben. Von ihnen kann man noch etwas lernen: es ist ein äußerst fleißiges, diszipliniertes Volk, das Ordnung und Genauigkeit über alles liebt.
Wenn man in unserem Dorf durch die Straßen spaziert, kann man sofort erkennen, auf welchem Hof Deutsche wohnen. Es sind die gediegenen, gepflegten Häuser, die schönen Vorgärten, wo sich im Frühling und Sommer die Blumen in ihrer ganzen Pracht zeigen. Und an der Hauswand hängt eine Tafel mit der Aufschrift: „Haus mit mustergültiger Ordnung“, welche die Dorfverwaltung dort angebracht hat.
Nachdem wir die Tragödie der Wolga-Deutschen eingehend studiert hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass die Wunden, welche die Deportation hinterlassen hat, noch nicht bei allen vernarbt sind. Wir wollten eigentlich noch ein paar weitere Familien besuchen, was uns jedoch in recht feinfühliger Weise verweigert wurde: „Wir können uns nicht daran erinnern“. Die Arbeit an diese4m Thema hat uns dabei geholfen, die Verbindungen unseres Heimatdorfes mit der Geschichte unserer großen Heimat zu enthüllen, den untrennbaren Bezug, die Einheit der Geschichte unseres Dorfes mit der Geschichte und dem Leben des Landes zu erklären, die Beteiligung jeder einzelnen Familie an ihr nachzufühlen und es für unsere Pflicht zu halten, in aufrichtiger Weise würdige Nachfahren für etwas Besseres zu sein.
Und in unserer Schlussbemerkung möchten wir sagen, dass man nach dem Kriege in den deutschen Archiven nicht ein einziges Dokument entdeckt hat, das den Beweis über irgendwelche Kontakte zwischen dem Dritten Reich und den Sowjet-Deutschen erbracht hätte…
Verwendete Zeitungsartikel:
22. Juli 1763. Manifest der Imperatorin Katharina II über die Bereitschaft
gegenüber
allen Deutschen, die nach Russland kommen möchten, sie in verschiedenen
Gouvernements ihrer Wahl siedeln zu lassen sowie über ihre Rechte und
Vergünstigungen.
Katharina II
Karte der Autonomen Republik der Wolga-Deutschen
Die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der Wolga-Deutschen
1762, 4. Dezember. Erlass Katharinas II „Manifest über die allen Ausländern erteilte Erlaubnis sich in Russland anzusiedeln sowie die Bewilligung einer freien Rückkehr für alle ins Ausland geflohenen russischen Bürger“.
1763, 22. Juli. Erlass Katharinas II „Manifest über die ausländischen Umsiedlern zu bewilligenden Avantagen und Privilegien“. Gründung einer „Kanzlei der Vormundschaft für Ausländer“ (auch als Tutelkanzlei oder Vormundschaftskanzlei bezeichnet; Anm. d. Übers.) in Sankt-Petersburg.
1763-1766. Zeit der Massen-Umsiedlung von Kolonisten nach Russland und das Saratower Wolga-Gebiet.
1764-1773. Im Saratower Wolga-Gebiet entstehen 106 Kolonien, darunter das deutsche Großdorf in Saratow. 1765, weit entfernt von der Hauptgruppe der Kolonien, wird südlich von Zarizyn die Kolonie Sarepta geboren.
1766, 30. April. Gründung des regionalen „Tutelkontors“ in Saratow.
1770, 25. Februar. Das Tutelkontor (Vormundschaftskontor) setzt die Instruktion zur inneren Ordnung und Verwaltung in den Kolonien in Kraft.
1773-1774. Eine Reihe von Kolonien zu beiden Seiten der Wolga ist Plünderungen durch vereinzelte Banden J. Pugatschows ausgesetzt.
1774-1776. Die Kolonien an der linken Uferseite sind mehrfach von Raubüberfällen durch Nomaden betroffen. Einige Kolonien hören infolge starker Zerstörung auf zu existieren oder ziehen an neue Orte um.
1782, 20. April. Per Ukas Katharinas II wird das Vormundschaftskontor der Ausländer und ihr Kontor in Saratow aufgehoben. Die Kolonisten werden in den Zuständigkeitsbereich der allgemeinen Staats- und Bauern-Verwaltung und damit der Leitung des Kameralhofes übergeben.
1797, März. Aufgrund eines Ukas von Paul I werden die Wolga-Kolonien der
„Abteilung für
staatliche Wirtschaft, das Vormundschaftskontor der Ausländer und die ländliche
Hauswirtschaft“ unterstellt. Zur Lenkung wird von den Wolga-Kolonien das
Saratower Kontor der Ausländer-Vormundschaftsverwaltung wieder eingerichtet, das
der Abteilung für
staatliche Wirtschaft, dem Vormundschaftskontor der Ausländer und der ländlichen
Hauswirtschaft (1797-1802), dem Ministerium für innere Angelegenheiten
(1802-1837) und dem Ministerium für Staatseigentum (1837-1871) unterstellt ist.
Ab dem 1. Juli 1833 nannte es sich „Kontor für ausländische Siedler“.
1798-1845. Rückerstattung der „Staatsschulden, d.h. der staatlichen Finanzierungshilfen durch die Kolonisten, die den ersten Siedlern zur Einrichtung und Entwicklung ihrer Wirtschaften zugeteilt worden waren.
1800, 17. September. Ukas des Imperators Paul I über die Einführung einer neuen, speziellen „Instruktion innerer Ordnung und Lenkung in den Saratower Kolonien“.
1840, 12. März. Auf Anordnung des Ministerkabinetts wird den Wolga-Kolonisten zusätzlicher Grund und Boden zugeteilt. Aufgrund der Tatsache, dass sich eine Reihe von Ackerbau-Grundstücken weit von den Siedlungen entfernt befinden, hat die Anordnung den Zugewanderten aus den Stammkolonien empfohlen, neue Ackerflächen zu schaffen.
1847-1864 Umsiedlung eines Teils der Kolonisten auf die zugewiesenen Ländereien, Gründung von 61 neuen Kolonien.
1853-1862, 1871-1874. Umsiedlung von Mennoniten in die Saratower Wolga-Region. Gründung des Malyschkinsker Amtsbezirks mit 10 mennonitischen Kolonien.
1871, 4. Juni. Der Ukas des Imperators Alexander II schafft im Russischen Reich alle Privilegien für die Kolonisten ab, die den Umsiedlern durch das Manifest Katharinas II bewilligt worden waren. Die Kolonisten werden unter die allgemeine russische Verwaltung gestellt und erhalten den Status von Siedlern – mit den gleichen Rechten, wie sie auch die russischen Bauern haben. Jeglicher Schriftverkehr in den Kolonien wird ab sofort in russischer Sprache geführt.
1871-1914. Emigration eines Teils der Wolga-Deutschen in den Westen, in die Länder Süd- und Mittel-Amerikas. Das größte Ausmaß der Emigration geschieht in den Jahren 1876-1879, 1888-1889, 1891, 1898-1899,1912-1913.
1874, 1. Januar. Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Russischen Reich, das sich auch auf die Kolonisten erstreckt.
1907-1914. Durchführung der P. Stolypinschen Agrarreform in den deutschen Wolga-Kolonien. ZU einem großen Teil wurden die Kolonisten persönliche Eigentümer ihrer Grundstücke. Besitzlose oder solche, die nur wenig Landbesitz besaßen, wurden nach Sibirien umgesiedelt.
1915, 2. Februar. Wegen des Krieges verabschiedet die russische Regierung Gesetzte über die Enteignung von Personen deutscher Nationalität mit Grundbesitz in den westlichen Gouvernements. Später wurden diese „Liquidationsgesetze“ auch auf andere Gouvernements und Gebiete des Landes ausgedehnt …
1915, 13, Dezember. Die Regierung bereitet einen Ukas vor, nach dem die gesamte deutsche Wolga-Bevölkerung der Aussiedlung nach Sibirien unterliegt. Der Beginn der Aussiedlungsaktion war für das Frühjahr 1917 geplant.
1917, 6. Februar. Imperator Nikolaus II sanktioniert die Verabschiedung der „Liquidations-gesetze“ über die Konfiszierung von Grund und Boden bei den Wolga-Deutschen.
1917, 2. und 3. März. Sieg der Februar-Revolution in Petrograd und Saratow. Aufhebung der Gültigkeit der „Liquidationsgesetze“.
1917, 25. – 27. April. Arbeit des 1. Kongresses der 334 bevollmächtigten Vertreter der deutschen Wolga-Bevölkerung. Gründung der gesamtnationalen Organisation „Die Wolga-Deutschen“, Wahl ihrer leitenden Organe.
1917, 1. Juli. Beginn des Erscheinens der Zeitung „Saratower deutsche Volkszeitung“.
1917, November-Dezember. In Saratow, anderen Städten des Saratower Wolgagebiets sowie in den deutschen Kolonien vollzieht sich die Verstaatlichung von Unternehmen der deutschen Bourgeoisie, die Enteignung und Konfiszierung des großen Privateigentums der Kolonisten. Es beginnt die Verfolgung der Führer der Organisation „Die Wolga-Deutschen“, die „Saratower deutsche Volkszeitung“ wird geschlossen.
1918, 3. März. In Brest-Litowsk wird der Friedensvertrag mit Deutschland unterzeichnet. Auf Grundlage der Artikel 21 und 22 der Vertragsergänzungen wird den Russland-Deutschen für einen Zeitraum von 10 Jahren die Emigration nach Deutschland mit gleichzeitiger Überweisung ihrer Kapitalanlage dorthin erlaubt.
1918, 30. April. Gründung des Wolga-Kommissariats für deutsche Angelegenheiten in Saratow.
1918, 19. Oktober. Der Rat der Volkskommissare der RSFSR bestätigt das Dekret „Über die Schaffung eines Gebietes der Wolga-Deutschen“.
1919-1920. Durchführung einer Lebensmittelverteilung im Gebiet der Wolga-Deutschen, die zu einer vollständigen Beschlagnahme aller Lebensmittel aus den deutschen Dörfern und zur Hungersnot führt.
1920, Herbst – 1922, Herbst. Der Massenhunger im Gebiet der Wolga-Deutschen forderte hunderttausende Menschenleben.
1920, März–April. Gewaltiger Bauernaufstand im Gebiet der Wolga-Deutschen, der von den staatlichen Behörden grausam niedergeschlagen wird.
1922, 22. Juni. Das Allrussische Zentral-Exekutivkomitee der Räte- und Arbeiter-, Bauern- und Rotarmisten-Deputierten der RSFSR gibt das Dekret über die „Abrundung“ des Gebietes der Wolga-Deutschen heraus.
1923, 13. Dezember. Auf Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der Allrussischen Kommunistischen Partei (Bolschewiken) wird das Gebiet der Wolga-Deutschen in die Autonome Sowjetische Sozialistische Republik der Wolga-Deutschen umgewandelt.
1924, 6. Januar. Ausrufung der ASSR der Wolga-Deutschen auf dem ersten Parteitag der Räte der ASSR der Wolga-Deutschen.
1925, 27. August. Verabschiedung einer speziellen, nicht öffentlichen Anordnung des Politbüros des ZK der WKP (B) - auf Ansuchen der ASR der Wolga-Deutschen – darüber, dass der Republik eine Reihe von Vergünstigungen bewilligt werden, die dazu geeignet sind, die Entwicklung der ökonomischen und kulturellen Beziehungen mit Deutschland zu fördern und die „politische Bedeutung“ der ASSR der Wolga-Deutschen im Ausland zu stärken.
1925-1928. Auf Grundlage der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) erfolgreiche Wiederherstellung aller Wirtschaftszweige der ASSR der Wolga-Deutschen, die unter dem Bürgerkrieg und der Hungersnot gelitten haben.
1928, 26. April. Das Politbüro des ZK der WKP (B) verabschiedet den Beschluss über die Einbeziehung der ASSR der Wolga-Deutschen in die Region Unter-Wolga.
1929, September. Eröffnung des Deutschen Staatlichen Pädagogischen Instituts ind Pokrowsk, der Hauptstadt der ASSR der Wolga-Deutschen.
1929, September – 1931, Juni. Durchführung einer „umfassenden Kollektivierung“ in der ASSR der Wolga-Deutschen, Liquidierung der individuellen Bauernwirtschaften.
1929, Dezember – 1930, Januar. Massen-Protest der Bauern der ASSR der Wolga-Deutschen gegen die gewaltsame Kollektivierung. Aufstand in der Ortschaft Marienfeld.
1930, Februar. Massenkampagne zur „Entkulakisierung“ der Bauern in den deutschen Wolga-Dörfern.
1931, 19. Oktober. Umbenennung der Hauptstadt der ASSR der Wolga-Deutschen von Pokrowsk in Engels.
1932, Herbst bis 1933, Herbst. Im Zusammenhang mit der vollständigen Konfiszierung von Lebensmitteln entsteht eine Massenhungersnot unter der Bevölkerung der ASSR der Wolga-Deutschen. Mehr als 50.000 Menschen verhungerten.
1934, 1. Januar. Liquidierung der Region Unter-Wolga. Einschluss der ASSR der Wolga-Deutschen in die Region Saratow.
1934, 5. November. Das ZK der WKP (B) bringt eine Sonder-Direktive über „den Kampf gegen die Faschisten und ihre Helfershelfer unter der deutschen Bevölkerung der UdSSR“ heraus. Die Direktive gab den Anstoß zu der mächtigen gleichnamigen Verfolgungskampagne gegen die Sowjet-Deutschen, u.a. auch in der ASSR der Wolga-Deutschen.
1936-1938. Der „Große Terror“ in der ASSR der Wolga-Deutschen, zehntausende Menschen werden Opfer von Repressionsmaßnahmen. Verhaftet und erschossen werden etliche führende Persönlichkeiten der Republik.
1937, 27. April. Verabschiedung der Konstitution der ASSR der Wolga-Deutschen, nach der die Republik nicht mehr der Region Saratow unterstellt ist, sondern nunmehr unmittelbar den Machtorganen der RSFSR.
1937, August-September. In der ASSR der Wolga-Deutschen wird eine Rekordernte an Getreide eingefahren – 1 170 700 Tonnen.
1938, 26. Juni. Wahlen für den Obersten Sowjet der ASSR der Wolga-Deutschen.
1938, 25.-27. Juli. Erste Sitzung des Obersten Sowjet der ASSR der Wolga-Deutschen. Wahl des Präsidiums des Obersten Sowjet der ASSR der Wolga-Deutschen mit dem Vorsitzenden Hofmann an der Spitze. Bestätigung des Republik-Regierung mit A. Gekmann (Heckmann?) an der Spitze.
1939, 1. September. Einführung der allgemeinen 7-jährigen Schulpflicht in der ASSR der Wolga-Deutschen.
1940, August-September. In der Republik der Wolga-Deutschen wird die größte Getreideernte in ihrer gesamten Geschichte überhaupt eingebracht – 1 186 891 Tonnen. Der durchschnittliche Ernteertrag liegt bei 10.8 Zentner pro Hektar.
1941, 22. Juni. Die Bevölkerung der ASSR der erfährt vom Überfall Deutschlands auf die UdSSR und den Beginn des Krieges.
1941, Juli-August. Schaffung einer Volkswehr auf dem Territorium der ASSR der Wolga-Deutschen mit breiter Teilnahme der deutschen Bevölkerung.
1941, Juli- August. In der ASSR der Wolga-Deutschen treffen evakuierte Bewohner, Unternehmen und Institutionen aus den frontnahen Landesteilen ein, um hier untergebracht zu werden.
1941, 26. August. Der Rat der Volkskommissare der UdSSR und das Zentralkomitee der WKP (B) verabschieden die Anordnung „Über die Umsiedlung aller Deutschen aus der Republik der Wolga-Deutschen, den Gebieten Saratow und Stalingrad in andere Gebiete und Gegenden“.
1941, 28. August. Das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR bringt den Ukas „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Bezirken wohnenden Deutschen“ heraus, der die Wolga-Deutschen offen beschuldigt, sich als Helfershelfer des Aggressors zu betätigen.
1941, 3.-20. September. Deportation der deutschen Bevölkerung aus dem Wolga-Gebiet nach Sibirien und Kasachstan.
1941, 7. September. Gemäß Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR wird das Territorium der Republik der Wolga-Deutschen zwischen den Gebieten Saratow und Stalingrad aufgeteilt.
1942, Januar – 1946, März. In Betrieb ist die „Arbeitsarmee“, in die mehr als 300 000 deutsche Männer und Frauen mobilisiert werden.
1945, Januar. Die Sonderansiedlung wird rechtskräftig verabschiedet. Schaffung der Sonderkommandantur.
1948, 26. November. Das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR bringt den Ukas „Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen Fluchtversuchs aus den obligatorischen Orten der Daueransiedlung von Personen, die während des Großen Vaterländischen Krieges in die entlegenen Bezirke der Sowjetunion ausgesiedelt wurden“.
1955, 13. Dezember. Das Präsidium des Obersten Sowjet der UdSSR verabschiedet den Ukas „Über die Abschaffung der Einschränkungen in der Rechtslage gegenüber den Deutschen und ihren in Sonderansiedlung befindlichen Familienmitgliedern.
1964, 29. August. Mit dem Ukas des Obersten Sowjet der UdSSR „Über zusätzliche Änderungen im Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der in den Wolga-Bezirken wohnenden Deutschen“ werden die Deutschen von der „unbegründete Beschuldigung, dem Aggressor Mithilfe geleistet zu haben“, entlastet; allerdings ist ihre Rückkehr an die Wolga sowie die Wiederherstellung ihrer Autonomie nicht vorgesehen.
1972, 3. November. Verabschiedet wird der Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR „Über die Abschaffung der Beschränkungen bezüglich der freien Wahl des Wohnortes, die in der Vergangenheit für einzelne Kategorien von Bürgern vorgesehen waren“. Die Deutschen erhalten das juristisch festgelegte Recht, ins Wolgagebiet zurückzukehren.
1989, 12. Januar. Laut Angaben der allrussischen Volkszählung leben auf dem Territorium des Gebietes Saratow 17 000, im Gebiet Wolgograd – 26 000 Deutsche. Insgesamt sind es in der UdSSR 2 ,1 Millionen Deutsche. Auf dem Gebiet der ehemaligen ASSR der Wolga-Deutschen leben 474 000 Personen, 12 900 von ihnen sind Deutsche.
1989, Dezember – Anfang der 1990er Jahre. Im Wolgagebiet entwickelt sich eine Bewegung der Deutschen für die Wiederherstellung der ASSR der Wolga-Deutschen, die bei der Mehrheit der Sowjet-Deutschen Unterstützung findet, sowie eine Kampagne gegen die Neuschaffung einer Deutschstaatlichkeit. Den schärfsten Charakter nimmt die politische Opposition zwischen 1990 und 1992 an.
1992, 21. Februar. Rede des Präsidenten der Russischen Föderation B. Jelzin im Gebiet Saratow, in der er praktisch die Wiederherstellung der deutschen Autonomie an der Wolga verweigert.
1992. Beginn der stürmischen Entwicklung des Emigrationsprozesses der Deutschen aus der ehemaligen UdSSR (darunter auch der Wolga-Deutschen) nach Deutschland. Der Prozess setzt sich bis in die Gegenwart fort.
1993, 4.-6. Februar. Erster Kongress der Wolga-Deutschen. Gründung der Landsmannschaft der Wolga-Deutschen, Beginn der Umorientierung in den Hauptbemühungen der deutschen nationalen Bewegung an der Wolga mit einem rein politischen Kampf zur Lösung der Probleme im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben der Wolga-Deutschen.
1997. Beginn der Realisierung eines zweckbestimmten föderativen Präsidenten-Programms im Wolgagebiet für die Entwicklung einer sozial-ökonomischen und kulturellen Grundlage der Wiedergeburt der Russland-Deutschen im Zeitraum 1997-2006.
Tabelle 1. Statistische Angaben über die ersten Repressionen unter den „Russland-Deutschen“ für das Jahr 1937.
Region | Personenzahl |
Moskau und Moskauer Umland | 130 |
Leningrad und Leningrader Gebiet | 45 |
Ukrainische SSR | 52 |
Region Gorki | 20 |
Gebiet Swerdlowsk | 26 |
Asow-Schwarzmeer-Region | 13 |
Gebiet Ordschonikidse | 18 |
Andere Republiken und Gebiete | 24 |
Insgesamt | 340 |
Tabelle 2. Anzahl der verschleppten Deutschen bei Beginn des Großen Vaterländischen Krieges in der Region Krasnojarsk und im Osten
Region | Personenzahl |
Bolschaja Murta | 2270 |
Bezirke Scharypowo und Ust-Abakan | 2336 |
Atschinsk | 2318 |
Biriljussy | 2000 |
Insgesamt wurden in der Anfangsphase in die Region Krasnojarsk verschleppt | 67264 |
In den Osten des Landes wurden in den Jahren 1941-1942 verbracht | 1 209 430 |
Tabelle 3. Deutsche Familien, die Anfang der 1960er Jahre auf dem Territorium der Ortschaft Berjosowka wohnten
N° Nachname
1 Ganz
2 Konstanz
3 Stumpf
4 Argunowa
5 Schreider (Schröder?)
6 Schlottauer
7 Gebel (Göbel?)
8 Keil
9 Eisenr
10 Bauer
11 Gafner (Hafner?)
12 Klam
13 Post
14 Tripel
15 Kramer
16 Schitz (Schütz?)
17 Leisle
18 Kaiser
19 Root
20 Kraft
21 Andrias (Andreas?)
22 Gett (Hett?)
23 Maier
24 Bach
Einfahrt in die Ortschaft Alt-Warenburg
(Wolga-Gebiet)
Karten-Schema von Alt-Warenburg
Ortschaft Alt-Warenburg vor dem Krieg
Fluss Tarlyk
Die Kirche in ihrer ursprünglichen Ansicht (A)
So sieht das Kirchengebäude heute aus (B)
Einwohner der Ortschaft Alt-Warenburg
Bescheinigung über die Aussiedlung der Familie Andrias (Andreas?)
(A) Friedrich Friedrichowitsch Andrias (Andreas?)
(B) Die Familie Andrias (Andreas?)
Andrej Andrejewitsch und Emma Fjodorowna Gebel (Göbel?)
Emilia Alexandrowna Stumpf
(A) Olga Andrejewna Samsonowa (Stumpf)
(B) Anna-J. Filippowna Stumpf
(B) Bescheinigung über die Ausweisung der Familie Stumpf
(C) Anna Jakowlewna Stumpf
(D) Heinrich Heinrichowitsch Stumpf
(E) Berta Stumpf
(F) Kollektiv der Zeitungsredaktion
Anfang der 1950er Jahre baute die Familie ein Haus in der Nabereschnaja (Uferstraße; Anm. d. Übers.), in dem Anna-J. Filippowna bis zum Schluss wohnte.