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... Und wurden in der eigenen Heimat zu Fremden

Allrussischer Wettbewerb für Geschichtsforschung
Der Mensch in der Geschichte. Rußland. 20. Jahrhundert.

Ausführung: Anton Sergejewitsch Korotkich, Schüler der 8. Klasse an der städtischen Bildungseinrichtung der Allgemeinbildenden Oberschule

Projektleitung: Ljudmila Wasilewna Korotkich, Lehrerin

Anmerkungen

Die vorliegende Arbeit reflektiert die wesentlichen Etappen im Leben des Jegor Fjodorowitsch Koch, der in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges aufgrund seiner Nationalität repressiert wurde. Außerdem beinhaltet sie eine Analse dokumentarische Quellen, die Zeugnis davon ablegen, welche schwere Last dem einfachen Menschen mit diesem tragischen Schicksal aufgebürdet wurde. Die Grundlage für diese Arbeit bildeten Dokumente, die im Familienarchiv verwahrt werden, Fotografien und mündlich überlieferte Zeugenaussagen von verwandten. Außerdem wird in dieser Arbeit Gedanken über das Verhältnis zwischen den Generationen nachgegangen.

Die Rolle der Projektleiterin

Die Rolle der Projektleiterin bestand darin, Hilfestellung bei der Ausführung der Arbeit, der Themenwahl, den Strukturen der Darstellung, der Systematisierung des Materials und auch bei der Entscheidung organisatorischer Fragen zu leisten.

Einleitung

Respekt vor Vergangenem – das ist die Eigenschaft,
welche die Gebildeten von den Wilden unterscheidet“.
A.S. Puschkin.

Zwischen all der Hektik und den Sorgen bemerken wir zuweilen die einfachsten und zugleich wichtigsten Dinge nicht. Ganz kürzlich starb meine Urgroßmutter Anna Iwanowna Koch im Alter von 84 Jahren. Ich mochte ihr immer so gern zuhören, wenn sie von der Vergangenheit erzählte. Und nun habe ich begriffen, daß es für so manches zu spät ist, nach dem ich sie noch hätte fragen können, und es gibt auch niemand anderen mehr. Deswegen habe ich beschlossen, die Geschichte unserer Familie zurückzuverfolgen, so lange die Zeit noch nicht abgelaufen ist und meine nahen und entfernteren Verwandten noch am Leben sind. Im „Heimatkunde“-Kreis, dem ich seit zwei Jahren besuche, habe ich einen Stammbaum unserer Familie angefertigt (Anlage). In der vorliegenden Arbeit möchte ich die Lebensgeschichte meines Urgroßvaters Jegor Fjodorowitsch Koch rekonstruieren. Und weil er „aus Gründen seiner nationalen Zugehörigkeit“ repressiert wurde, habe ich das Thema „ ...Und wurden in der eigenen Heimat zu Fremden“ ganz bewußt ausgewählt.

Ziel der Arbeit ist das Sammeln von Materialien über meinen Urgroßvater, und zwar nicht nur, um an dem Wettbewerb teilzunehmen, sondern auch um mehr über ihn zu erfahren.

Im Verlauf der Arbeit stützte ich mich in erster Linie auf mündliche Quellen. Oft waren dies nicht Berichte aus erster Hand, was auf einen Mangel an vorhandenen Materialien zurückzuführen ist, aber ich bin trotzdem von ihrer Glaubwürdigkeit überzeugt. Außer den mündlichen Überlieferungen sind Fotografieren, Dokumente, Bücher aus dem Familienarchiv, aber auch elektronisches Material der „Memorial“-Gesellschaft, zur Verwendung gekommen, die dem „Heimatkunde“-Kreis bei einem Treffen mit dem regionalen Koordinator, Aleksej Andrejewitsch Babij, zur Verfügung gestellt wurden.

Projektleiterin ist meine Mutter Ljudmila Wasiljewna Korotkich (Koch).

Große Hilfe erhielt ich auch von meiner Großmutter Walentina Aleksandrowna Koch; sie ist Leiterin es „Heimatkunde“-Kreises. Walentina Aleksandrowna verfaßte Gedichte, die sie den Opfern politischer Repressionen widmete.

Ganz jung hat man euch verschleppt,
Von den Heimatorten fortgerissen.
Hier, in Sibirien, habt ihr Familien gegründet,
Nicht ganz aus Liebe habt ihr eure Braut gewählt.

Ihr habt versucht, mit der Wirtschaft zurechtzukommen,
Um wenigstens irgendwie für den Lebensunterhalt zu sorgen.
Holzstämme habt ihr den Kungus hinabgeflößt,
Um euch mit Wassersuppe den Magen zusammenzuhalten.

Alle Erniedrigungen habt ihr ertragen
Eurer kleinen Kinder zuliebe.
In den Wäldern habt ihr jahrelang Schwerstarbeit geleistet
Und ward den Leuten dafür nicht einmal böse.

Heute hat man euch fast für unschuldig erklärt,
Hat damit angefangen, über euch Bücher herauszugeben,
Aber das haben nicht mehr alle von euch erfahren –
Sollen wenigstens die Kinder verstehen,

Daß es schwer ist, Fehler wieder gut zu machen.
Mögen sie die Enkelkinder so erziehen,
Daß sie etwas haben, worauf sie stolz sein können,
Sich nicht schäumen brauchen, nach ihren Wurzeln zu suchen.
2005

Sie haben uns im Krieg keine Kreuze gegeben,
Die Hauptstadt hat uns nicht mit Musik empfangen ...
Wozu soll ich so etwas erzählen?
Womit soll ich denn vor euch prahlen?
M. Isakowskij “Geografie des Lebens”.

Kindheit.

(In der Übersetzung ohne Reim wiedergegeben; Anm. d. Übers.)

Jegor wurde am 3. Februar 1924 als Sohn der russifizierten Deutschen - Fjodor Andrejewitsch und seiner Ehefrau Jekaterina Krestjanowna (Katharina Christianowna) Koch – geboren, was durch eine Geburtsturkunde belegt ist (Anlage). Innerhalb der Familie sprachen sie Deutsch, die Kinder hörten von Geburt nichts als deutsche Worte. Als sie heranwuchsen, erlernten sie von den russischen Kindern auf der Straße auch die russische Sprache. So versuchten die Eltern ihre nationalen Wurzeln zu bewahren, was beim Zusammenleben mit der russischen Bevölkerung nicht einfach war. Aus einem Bericht der Enkelin (L.W. Korotkich): „Urgroß-mutter erzählte, daß sie Großvater Jegor, als er geboren wurde, eigentlich Georgij (Ch,or,ch,i) nennen wollte – das war die russische Aussprache, aber beim Dorfrat verstand man sie nicht richtig (sie sprach mit einem starken Akzent) und trugen den Namen Jegor ein. Infolgedessen gab es eine Verwechslung, denn zuhause nannten sie ihn Georgij, aber nach den Dokumenten war sein Name – Jegor“. (Im Anhang gibt es eine Urkunde, die auf den Namen Georgij Fjodorowitsch Kooch ausgestellt ist – ein Beweis dafür, daß es nicht nur beim Vornamen eine Unstimmigkeit gab, sondern daß der deutsche Nachname ebenfalls für die russische Schreibweise ungewohnt war). Außer Jegor gab es noch zwei weitere Söhne und zwei Töchter in der Familie.

„Der Großvater mochte nicht gern von seiner Kindheit erzählen. Vielleicht gab es damals nicht viel Gutes, und an das Schlechte wollte er sich nicht erinnern. Aber ein bißchen hat er trotzdem berichtet. Als er klein war, lebte seine Familie in der Ortschaft Astachowo, Mantjuschansker Bezirk, Gebiet Stalingrad, wo der Boden sehr sandig war. Egal, ob es nieselte oder in Strömen goß – die Kinder laufen stets barfuß draußen herum, und die Füße blieben sauber“ (Aus einem Bericht der Enkelin L.W. Korotkich).

Jegor Fjodorowitsch erzählte nichts davon, daß Hunger herrschte, daß sie nichts anzuziehen hatten und es keine Möglichkeit zu lernen gab, so daß er lediglich vier Klassen beendete. Die Menschen waren damals dermaßen verbittert, daß sie selbst ihren eigenen Verwandten Böses wünschten. Vielleicht war das Staatssystem schuld daran, und möglicherweise verloren die Menschen vor Hunger un Ausweglosigkeit den Verstand. Aus den Erinnerungen der Ehefrau Anna Iwanowna Koch: „Jekaterina Krestjanowna Swekrow erzählte, daß ihr Mann Fjodor (Jegors Vater) ein wenig Getreide gestohlen hatte, damit die Kinder etwas zu essen bekamen. Er trug das Korn über den Hof seiner Mutter und verschüttete dabei etwas. Am Morgen wußte die Mutter, daß ihr Sohn Getreide gestohlen hatte; sie machte sich auf, um ihn zu denunzieren. Fjodor kam ins Gefängnis; er kehrte nicht mehr nach Hause zurück“.

Als Jegor sechzehn Jahre alt war, schickten sie ihn zur Betriebsfachschule, aber von dort lief er fort. Nach diesem Vorfall wurde er zwangsverschickt und kam zum Bau einer Brücke über die Nördliche Dwina. Wohnen mußte er in einem Raum, in dem das Gemüse aufbewahrt wurde. Die Verpflegung war schlecht.

1941 wurde er aufgrund des Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28.08.1941 „aus nationalen Gründen zum sozial gefährlichen Element erklärt“ (Bescheinigung N° K-30, Anhang). Als Folge dieses Ukas wurde Jegors Familie nach Kasachstan, Region Semipalatinsk, in den Nowo-Schulbinsker Bezirk, umgesiedelt. Jegor wurde aus der Familie herausgerissen.

Arbeitsleben.

... Und das Leben hat uns indessen eine harte Lehre erteilt,
mit voller Wucht schlug es einem gegen die Zähne.
W. Solouchin „Steinbrech“

In der Arbeitsarmee, in der Jegor sich während des Krieges befand, verhielt man sich den Menschen gegenüber nicht besser, als im Konzentrationslager. „Zwei Tage bekamen wir überhaupt nichts zu essen, und dann brachten sie uns verdorbenen, stinkenden Hering. Hungrig wie wir waren, aßen wir diesen Hering vollständig auf. Aber sie gaben uns kein Wasser. Viele Menschen starben damals“ – erinnerte sich der Urgroßvater (mit den Worten von Sohn Wasilij).

Jegor Fjodorowitschs Schwiegertochter (W.A. Koch) weiß noch von einem anderen Vorfall zu berichten: „Papa erzählte, daß sie bei der Arbeitsarmee in Baracken lebten und sich immer zwei Mann eine Pritsche teilen mußten. Als der Pritschennachbar starb, zog der Vater ihm die Decke über den Kopf und sagte, er würde schlafen. So mußte er direkt neben einem Toten liegen, um an dessen Essensrationzu kommen und so zu überleben“.

Ruhr brach aus. Jeden Tag starben Menschen. Niemand begrub die Leichen, sie wurden auf Schlitten gestapelt, abtransportiert und in den Fluß geworfen.

Im weiteren Verlauf der Ereignisse wurde Jegor nach Sibirien geschickt. In seinem Arbeitsbuch gibt es einen Eintrag vom 15.02.1944 über seine Einstellung als Arbeiter bei der Kansker Flößerei-Abteilung Y-235 des Krasnojarsker Arbeits- und Erziehungslagers (Anhang). „Ab August 1941 wurden die Deutschen aus ihren Wohnorten ausgesiedelt. Die Landesregierung war der Meinung, daß die Sowjet-Deutschen als Handlanger der Faschisten in Erscheinung traten, und um dies zu verhindern, wurden sie nun in aller Eile ausgesiedelt. Aber irgendwie scheint es, als ob das deutsche Volk auch nicht mehr Verräter hervorgebracht hat, als irgendein anderes Volk der UdSSR. Sie hätten die UdSSR genauso verteidigt, denn schließlich war das ihre Heimat, ihr Land, auf dem sie schon beinahe seit 200 Jahren lebten“ („Über meine Landsleute und mich“, W.J. Oberman, Krasnojarsk 2000, S. 58-59).

Zufuß gingen sie zum Holzeinschlag, zerkleinerten das Holz mit einer Zweigriff-Handsäge. Sie schliefen in Baracken. Umsie herum nur Schmutz und Läuse. Einmal wurde er gezwungen, seinen halblangen Mantel aus Schaffell in die Dampfreinigung zu geben, um ihn von Läusen zu befreien, und danach war der Mantel eingelaufen und viel zu klein geworden. Es war überhaupt nicht mehr möglich ihn anzuziehen, und so ging er ohne zur Arbeit. Später hatte irgendjemand Mitleid mit ihm und gab ihm einen zerrissenen Mantel.

„Unter den Gefangenen wurde ein sozialistischer Wettstreit eingeführt, der es ohne jeglichen wirtschaftlichen Anreiz gestattete, die Arbeitsproduktivität zu steigern und die Menge an bereitgestelltem Holz zu vergrößern. So wurde beispielsweise beim morgendlichen Ausmarsch zur Arbeit verkündet, daß die Brigade, die den ersten Platz beim Holzabflößen machen würde, zum Abendessen einen ganzen Haufen Bärlauch oder die Ausbeute an gefangenem Fisch erhalten würde, für deren Beschaffung extra ein paar Leute abkommandiert wurden (möglicherweise von Geschwächten). Außerdem wurden die Arbeitsergebnisse regelmäßig in der Wandpresse bekanntgegeben. Für jeden einzelnen Häftling wurde eine Halbjahres-Beurteilung aufgestellt, aus der die Art der Arbeit, Anzahl der Arbeits- und Krankheitstage sowie die durchschnittlich geschaffte Arbeit in % ersichtlich waren. Die Zahl der Arbeitstage betrug gewöhnlich 27-29 Tage pro Monat, d.h. die Menschen mußten auch an freien Tagen arbeiten“. („Aus dem heiligen Brunnen der Erinnerung“, Grundrisse der Geschichte des Bezirks Irbej. – Selenogorsk, 2001, S. 123).

A. de Saint-Exupéry schrieb : « Verlier niemals die Geduld – sie ist der letzte Schlüssel, der dir die Türen öffnen kann ». Und das war tatsächlich der allerletzte Schlüssel. Die Menschen, die aus ihren Heimatorten herausgerissen worden waren und ihre Familien verloren hatten, diese hungrigen, ernoedrigten Menschen harrten geduldig aus und gingen ihrer Arbeit nach. Nicht weil sie mit ihrer Arbeit zufrieden waren, sondern um ihren Magen mit der Wassersuppe aus dem Lager füllen zu können. Sie übten sich in Geduld und hofften auf eine bessere Zukunft. Und diese Zukunft kam – die Lager wurden aufgelöst. Jegor Fjodorowitsch Koch wurde mit Wirkung vom 28.01.1956 aus der Sonderansiedlung abgeschrieben, entlassen (Anlage. Bescheinigung N° K-30) und sogar 1964 für den Militärdienst registriert, worüber der Wehrpaß Zeugnis gibt (Anlage).

Jetzt kann er in die Heimat zurückkehren. Aber wo ist es, das elterliche, vertraute Haus? Die Verbindung zur Familie hat Jegor bereits zu Beginn des Krieges verloren, und so blieb er in Sibirien. Er fand eine Arbeit als Flößer beim Flößerei-Kontor „Kanskles“ (Kansker Holzkombinat; Anm. d. Übers.), wie ein Eintrag in seinem Arbeitsbuch belegt. Das Holz wurde auf den Flüssen Kungus, Agul und Kann abgeflößt. Bis 1970 arbeitete er in der Flößerei, dann wechselte er zur Talsker Sowchose, wo er bis zu seiner Rente als Pferdepfleger tätig war. Für seine gewissenhafte Arbeit wurden ihm Ehren- und Dankesurkunden verliehen; er erhielt Geldprämien, über die es ebenfalls einen Vermerk im Arbeitsbuch gibt. Obwohl er Deutscher, oder wie es damals hieß, „Faschist“ war, arbeitete er fleißig und war um das Wohl seiner Heimat bemüht, die aus irgendeinem Grunde so unfreundlich und ungerecht mit ihm umgegangen war.

Die Familie.

Während er noch in der Holzflößerei tätig war, wurde Jegor im Dorf Minuschka auf ein Mädchen aufmerksam, auf Anna Gluschkowa, die zufuß mit ihrem Rechenschaftsbericht in die Ortschaft Taloje unterwegs war. Jegor sollte sie miteinem Boot über den Fluß Kungus ans andere Ufer bringen. Sie lernten einander kennen und begannen sich regelmäßig zu treffen.

„Gosche (so wurde das Mädel von der Großmutter genannt) sagt: „Na komm, laß uns miteinander leben (d.h. laß uns heiraten)“, und ich antworte: „Na ja, aber wie werden wir leben? Wir haben doch nichts“. (Aus dem Bericht der Enkelin L.W. Korotkich). Großvater bracht einenAluminiumlöffel und ein Kochgeschirr mit – das war alles, was er besaß. Das geschah im Januar 1947. Sie lebten gemeinsam mit Ammas Vater und zwei ihrer Brüder die sie selbst großgezogen hatte (Anna war mit 13 zur Halbwaise geworden). Es kam der Samstag, der Badetag der Familie. Aber Jegor hatte keine Kleidung zum Wechseln. Da nähte Anna ihm Unterhosen aus Zeltstoff; und auf der Arbeit gab man ihm ein Unterhemd. Und so begannen sie ihr gemeinsames Leben.

Jegor hatte keine Ahnung, wie man eine Wirtschaft führt. Als kleiner Junge wuchs er ohne Vater auf, schon früh wurde er der Familie entrissen. Sein Schwiegervater, Iwan Safonowitch Gkuschkow, war ein strenger Mann, aber ihm gefiel der Schwiegersohn mit seiner ganzen Gewandtheit. Jegor schaute ihm über die Schulter, versuchte selbst alle möglichen Arbeiten zu erledigen und lernte nach und nach von allem ein wenig: das Vieh versorgen, mit Nutzholz umgehen.

Im Januar 1947 wurde Sohn Wasilij (mein Großvater) geboren. Danach heirateten Annas Brüder, und die junge Familie mußte sich ihr eigenes Eckchen suchen. Sie nahmen sich eine Wohnung. „Zum ersten Mal zogen wir in eine Wohnung um. Goscha nahm die Kinderwiege
(das Kinderbettchen) unter den Arm, ich das Bündel mit den Sachen und den kleinen Wasja, und dann gingen wir davon. Als wir das nächste Mal umzogen, da transportierten wir unsere Habseligkeiten bereits mit einem Leiterwagen. Und beim dritten Mal – da waren wir den ganzen Tag mit dem Transport unserer Sachen beschäftigt“, - erinnert sich Urgroßmutter Anja.

„Dem Unfähigen schmerzen weder Hände noch Schultern“ - sagt ein Sprichwort. Aber weder Jegor noch Anna waren „Unfähige“. Alles mußten sie mit ihrer eigenen Hände Arbeit machen. Als noch zwei weitere Söhne (Viktor – 1952, und ALeksander – 1957) geboren wurden, mußte Anna sich um die Kinder kümmern und hatte keine Zeit mehr, zur Arbeit zu gehen. Sie fing an Nähen, Sticken und Häkeln zu lernen. Sie stickte sich Gardinen (so nannte Großmutter die Richelieu-Stickerei). Die anderen Frauen sahen das, wunderten sich und wollten für sich auch solche Vorhänge haben. Sie fragten Anna, ob sie sie nicht auf Bestellung arbeiten wolle – und das tat Anna dann auch, denn es brachte doch die eine oder andere Kopeke ins Haus. Die eine wollte einen Rock genäht haben, der andere ein Totenhemd (Wäsche für den Todesfall wurde immer im voraus angefertigt; man legte es zu einem Bündel zusammen und verwahrte es) – und Anna lehnte niemals ab.

Jegor lockte der Fischfang an, und so begann er zu lernen, wie man Fische fängt. Er wollte auch Bienen züchten – und da fließt auch schon der frische, dickflüssige Honig aus der Honigschleuder, zur Freude der Kinder und Enkel (obwohl wurde er bis zu dem Zeitpunkt schon mehrmals von einer Biene gestochen worden war). Ein Badehaus mußte aus Holzbalken gebaut werden – er machte das zusammen mit seinen Söhnen. Er lernte, wie man alles machte, und was Hände und Geist alles vollbringen konnten. Aber bei allem liebte er am meisten das Ordnunghalten.

„Im Frühjahr, sobald der Schnee geschmolzen war, beseitigte der Großvater draußen die ganzen Holzspäne und Strohhalme, die der Wind während des Winters herangeweht hatte, und redete dabei vor sich hin: „Alles muß saubergemacht werden, der Abfall beseitigt, damit das Gräschen wächst“ (aus der Erzählung der Enkelin L.W. Korotkich).

Die Söhne wuchsen heran, das Leben kam lagsam in Ordnung. Und auf den ersten Blick war alles gut und schön. Aber der deutsche Nachname gab weder Jegor noch seinen Kindern Ruhe. Ganz besonders wütend waren die Frontkämpfer. Warum begriffen sie nicht, warum wollten sie nicht verstehen, daß mein Urgroßvater nicht gegen sie gekämpft hatte, daß er nicht ihre Verwandten und Kameraden getötet hatte? Er hatte doch selbst unter dem Krieg gelitten. So war es im russischen Reich wohl schon immer gewesen – man mußte immer einen Schuldigen für jedwedes Übel finden, und man fand ihn auch und – schimpfte auf die Deutschen, die Juden, die Tataren.

Als die Söhne herangewachsen waren und zur Schule kamen, mußten sie zum Unterricht in ein anderes Dorf fahren. Nach dem Bericht von Sohn Wasilij, brachte man ihm eine Menge Haß entgegen. Sie warfen ihn sogar von dem Lastwagen, mit dem alle Schüler zur Schule gebracht wurden. Sie ertrugen es, denn sie wollten unbedingt lernen.

Es gab auch freudvolle Momente – die Verwandten machten Jegor ausfindig. Die Mutter lebte mit den Kindern in Kasachstan (seit Beginn des Krieges), und der leibliche Onkel – Jegor Krestjanowitsch (Christianowitsch) Steimetz (Steinmetz) – wohnte sogar ganz in der Nähe, in der Stadt Kansk. Aber da inzwischen schon so viel Zeit vergangen war, konnten sie sich nicht so leicht wiedererkennen. Eine von Jegors Schwestern, Olga, arbeitete als Friseurin, und Jegor hatte das aus einem Brief erfahren. Als er einmal zu den Verwandten zu Besuch fuhr, ging er sogleich in den Friseur laden, ließ sich von seiner leiblichen Schwester die Haare schneiden, und – sie erkannte ihn nicht (aus einem bericht von A.I. Koch). Aber immerhin war der Kontakt mit den Verwandten wieder zustande gekommen. Es existieren noch Familienfotos (Anlage). Und sogar jetzt, da der Urgroßvater gar nicht mehr am Leben ist, werden die Beziehungen zu den Verwandten aufrechterhalten. Urgroßvaters Bruder – Jakob, und seine Kinder schreiben Briefe aus Deutschland, wohin sie während der Zeit der „Perestrojka“ ausreisten. Und die Enkelkinder von Jegor Krestjanowitsch (Christianowitsch) Steimetz (Steinmetz) kommen zu uns zu Besuch.

Familientraditionen

Obwohl Urgroßvater aus den Familienbanden herausgerissen wurde, als er noch ganz jung war, bewahrte er die gewohnten Traditionen auch in seiner eigenen Familie. Wenn irgendjemand Geburtstag hatte, dann kam jedesmal die gesamte Familie zusammen – Söhne, Schwiegertöchter, Enkelkinder. Am 8. März, morgens, machte sich der Urgroßvater auf, um den Schwiegertöchtern und Enkelkindern mit bereits zuvor gekauften Geschenken seine Glückwünsche auszusprechen. Er achtete dabei darauf, daß er für jeden das gleiche Geschenk hatte, damit nur niemand gekränkt war. „Großvater schenkte jedem Enkelkind, und wir waren immerhin vier, eine große Puppe. Die Puppen sahen alle gleich aus,; allerdings trugen sie unterschiedliche Kleider. Und Mama und die beiden Tanten bekamen Halsketten – aus Glasperlen“ (aus dem Bericht der Enkelin L.W. Korotkich).

Jegor Fjodorowitsch liebte seine Kinder, Enkel und Schwiegertöchter. Manchmal stand er ihnen mit einem Rat zur Seite, ein anderes Mal packte er selbst tatkräftig mit an.

Mitunter kam die ganze Familie nur so zusammen, um ein Problem zu erörtern oder eine wichtige Entscheidung zu treffen. Die Beziehungen innerhalb der Familie basierten auf der gegenseitigen Achtung voreinander. Schwiegertochter W.A. Koch erinnert sich: „Ich kam 1972 in die Familie E.F. Koch, als ich Wasilij heiratete. Mein Schwiegervater gefiel mir sehr – wegen seiner Aufrichtigkeit und seinem Sinn für Gerechtigkeit“.

An seinem eigenen Beispiel zeigte uns der Urgroßvater, daß man seine Verwandten niemals vergessen darf; er fuhr häufig zu seiner Mutter und den Brüdern nach Kasachstan. Seine Söhne, und sogar seine Enkelin, meine Mutter, nahm er mit. Sein Bruder Jakob kam mit seiner Familie und mit Mutter Jekaterina (Katharina) Krestjanowna (Christianowna) zu Besuch nach Sibirien. Allerdings mußten sie sich ausschließlich auf Russisch miteinander verständigen. „Großvater sprach gut Russisch, ohne Akzent; seine Mutter und die Brüder sprachen aber miteinander Deutsch. Ich fragte ihn, ob er sich an seine Verwandten noch erinnern kann, und er antwortete, daß er fast gar keine Erinnerungen mehr hätte“ (aus dem Bericht der Enkelin L.W. Korotkich).

Leider habe ich meinen Urgroßvater nie gesehen; er starb am 2. Januar 1990. Somit hat er auch nie erfahren, daß er auf Grundlage von Punkt „B“, Artikel 3 und (oder) Teil 1, Artikel 1.1 des GesetzesN° 1761 der Russischen Föderation vom 18. Oktober 1991 „Über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen, rehabilitiert wurde (Anlage).

Schlußbemerkung

Meine Urgroßeltern haben drei Söhne großgezogen, die ebenfalls ihre eigenen Familien gründeten. Sie bekamen Kinder, und inzwischen gibt es auch uns schon – ihre Enkelkinder.

Wir kennen einander alle, unterstützen uns gegenseitig und werden diese Verbindung zwischen den Generationen auch aufrechterhalten, damit nicht das geschieht, was der französische Schriftsteller Exupéry in seinem Werk „Der kleine Prinz“ schreibt, als der Kleine Prinz die Blume fragt: „Wo sind die Menschen?“ – und die Blume antwortet: „Der Wind hat sie davongetragen. Sie haben keine Wurzeln ...“.

„Ohne Wurzeln sein! Sich nicht daran die zu erinnern, wie es von Generation zu Generation war, nicht die Erfahrung der Ehrfurcht und Achtung vor den Leuten zu machen, die vor dir gelebt haben, vor den Orten, an denen man geboren ist! Ist denn so etwas möglich? Sie sagen – ja. Aber es ist widernatürlich ...“ („Weise Gebote der Volkspädagogik“, S.P. Wasilzowa, Moskau, 1988, S. 31).

Ich will das Sammeln von Materialien über meine zahlreichen Angehörigen fortsetzen, damit nicht nur wir, sondern auch unsere Kinder und Enkel lernen, daß man seine Wurzeln niemals verlieren darf. Denn die Geschichte eines Landes setzt sich doch aus den Lebensgeschichten ganz gewöhnlicher Menschen zusammen, wie mein Urgroßvater Jegor Fjodorowitsch Koch einer war.

Liste der für die Arbeit verwendeten Literatur

1. S.P. Wasilzowa. „Weise Gebote der Volkspädagogik: (Anmerkungen eines Journalisten). 2. Ausgabe, vervollst. – Moskau, Pädagogik-Verlag, 1988, 180 S., illistriert.
2. W.J. Oberman. Über meine Landsleute und über mich selbst. – Krasnojarsk, 2000. – 140 S.
3. Aus dem heiligen Brunnen der Erinnerung. Auszüge aus der Geschichte. – Selenogorsk: Verlag „Selenogorsker Typographische Anstalt“, 2001, 344 S., illustriert.
4. Materialien aus dem Familienarchiv von W.A. Koch.
5. Materialien der „Memorial“-Gesellschaft aus dem „Heimatkunde“-Kreis der Schule.
6. Mündliche Zeugenberichte von A.I. Koch, W.J. Koch, W.A. Koch und L.W. Korotkich.


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